15 Mai 2024

Wie konsensfähig ist die EU? Einblicke in das Abstimmungsverhalten im Rat in Bereichen mit qualifizierter Mehrheitsentscheidung

Von Nicolai von Ondarza und Isabella Stürzer
European Council meeting
Im Rat der EU können Mitgliedstaaten schon auch mal überstimmt werden. Aber wie oft kommt das eigentlich wirklich vor?

Immer wieder wird in der EU darüber diskutiert, in mehr Politikbereichen bei Entscheidungen im Rat von Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit (QMV) überzugehen. Insbesondere Deutschland setzt sich dafür ein, etwa in Form der „Freundesgruppe für QMV in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ oder bei prozeduralen Beschlüssen innerhalb der Erweiterungsprozesse. Andere Staaten wie Ungarn lehnen mehr QMV hingegen grundsätzlich ab.

Aber welche Auswirkungen hat QMV überhaupt auf die Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene? Welche Politikbereiche, in denen jetzt schon QMV gilt, sind besonders umstritten? Und sind dabei immer dieselben Regierungen in der Minderheit? Mehr Licht in die Debatte können die Daten des EU Council Monitor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) bringen.

Der EU Council Monitor

Grundsätzlich ist es so, dass der Rat der EU seit dem Vertrag von Lissabon alle Abstimmungen zu Gesetzgebungsvorhaben veröffentlichen muss (Art. 15 (2) AEUV, Art. 7 der Geschäftsordnung des Rates). Nicht-legislative Beschlüsse und Beschlüsse innerhalb der Verfahren, wie etwa zur Festlegung der Ratsverhandlungsposition, werden hingegen ebenso wenig veröffentlicht wie die Beratungen in den vorangegangenen Ratsarbeitsgruppen und dem Ausschuss der Ständigen Vertreter:innen.

Zudem veröffentlicht der Rat die Abstimmungsprotokolle nur einzeln und stellt keine übergreifenden Informationen zum Abstimmungsverhalten – etwa der Anzahl von Abstimmungen nach Politikbereich, der Konsensrate oder der Anzahl von Gegenstimmen von einzelnen Mitgliedstaaten – zur Verfügung. Interessierte aus Forschung und Lehre, Politikberatung und Medien müssen die Daten deshalb anhand individueller Auszählung der Sitzungsprotokolle und Tagesordnungen erfassen.

Der im April 2024 veröffentlichte EU Council Monitor bündelt nun Daten zum Abstimmungsverhalten und erlaubt eine Aufschlüsselung nach Jahr, Politikbereich sowie überstimmten Mitgliedstaaten. Das interaktive Dashboard soll so zu verbesserter Analyse, Visualisierung und Verständnis der Abstimmungsmuster im Rat der EU beitragen. Die Daten basieren auf vom Rat der EU veröffentlichten Abstimmungsprotokollen ab Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon und werden laufend aktualisiert; das Tool umfasst momentan mehr als 1.300 öffentliche Abstimmungen.

Hoher Konsenswille

Mithilfe der Daten des EU Council Monitor lässt sich analysieren, wie konsensfähig der Rat bei Nutzung der qualifizierten Mehrheit ist. Die aufbereiteten öffentlichen Abstimmungen im Rat seit 2010 bestätigen die These, dass die EU-Mitgliedstaaten in der Regel auch bei Mehrheitsentscheidungen einen Konsens anstreben. Größere Gruppen von Mitgliedstaaten werden so gut wie nie überstimmt. Zunehmend ragen aber mit Ungarn und Polen zwei Staaten heraus, die – auf einem etwas niedrigeren Niveau als Großbritannien vor dem Brexit – häufiger überstimmt werden als andere.

Im Detail zeigen sich in den öffentlichen Abstimmungen des Rats 2010-2023 eine erstaunlich hohe Konsensrate unter den Mitgliedstaaten auch in den Bereichen, in denen Mehrheitsbeschlüsse möglich gewesen wären. Die Konsensrate umfasst diejenigen Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit, in denen es keine Gegenstimmen gab, potenziell aber Enthaltungen. Über die Zeit ist die Konsensrate bemerkenswert stabil. Bis zum Brexit lag sie bei 82 Prozent, danach sogar bei 85 Prozent; über den gesamten Zeitraum bei knapp 83 Prozent. Betrachtet man nur die Abstimmungen, in denen alle Staaten zugestimmt haben, es also auch keine Enthaltungen gab, liegt der Wert für den gesamten erfassten Zeitraum noch bei 64 Prozent.

Grafik 1: Konsensrate bei Mehrheitsentscheidungen im Rat der EU
(zum Vergrößern auf das Bild klicken)

Eine Veränderung der Konsensrate lässt sich allerdings erkennen, wenn man einzelne Politikfelder untersucht: Im Bereich Finanzen etwa konnte bis zum Brexit bei 85 Prozent der Abstimmungen ein Konsens gefunden werden, seit dem Brexit bei 93 Prozent. Im Bereich Institutionelles ist die Konsensrate ebenfalls gestiegen, von 67 auf 100 Prozent. Von 80 auf 70 Prozent gesunken ist sie dagegen im Bereich Justiz und Inneres, zu dem die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems gehört (siehe Grafik 1).

Größere Gruppen werden fast nie überstimmt

Die hohe Konsensrate bedeutet zum einen, dass am Ende von EU-Verhandlungen – allen Differenzen zum Trotz – in der Regel alle Mitgliedstaaten dem erarbeiteten Kompromiss zustimmen können. Zudem scheuen die nationalen Regierungen es, größere Gruppen von Staaten zu überstimmen, selbst wenn rechnerisch bereits eine qualifizierte Mehrheit erreicht ist. Abstimmungen, in denen vier oder mehr Mitgliedstaaten überstimmt werden, bleiben eine absolute Seltenheit.

Zum anderen zeigt die hohe Konsensrate aber ebenso, dass Mehrheitsentscheidungen allein keine Lösung für Schwierigkeiten der EU in puncto Handlungsfähigkeit sind: Denn auch bei QMV können Verhandlungen im Rat lange dauern oder sogar dauerhaft blockiert sein, wenn die EU-Staaten in mehrere große Gruppen gespalten sind.

Großbritannien war am häufigsten in der Minderheit

Aufschlussreich für die Debatte über die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen ist auch ein Blick darauf, welche Staaten besonders häufig überstimmt werden. Wie bereits angedeutet, stand ein Staat lange im Fokus – Großbritannien. Es führt die Liste der am häufigsten überstimmten Länder klar an, und zwar sowohl in der Betrachtung bis zum offiziellen Austritt aus der EU als auch in der Gesamtbetrachtung: Insgesamt wurde das Vereinigte Königreich 167‑mal überstimmt. Damit war es in seiner Zeit als Mitglied bei gut 16 Prozent aller Abstimmungen in dieser Situation (siehe Grafik 2). Im Kontrast dazu steht Frankreich, das im gesamten Beobachtungszeitraum nur 5‑mal überstimmt wurde. Dies entspricht deutlich weniger als einem Prozent der Abstimmungen.

Vergleicht man das Abstimmungsverhalten vor und nach dem Brexit, so ragen nunmehr zwei Mitgliedstaaten heraus, deren Regierungen öfter in der Minderheit sind – Ungarn und Polen (gefolgt von Bulgarien). Vor dem Brexit sah dies anders aus: Zwischen 2010 und 2020 waren nach Großbritannien Österreich, Deutschland und die Niederlande auf den Plätzen zwei bis vier der am häufigsten überstimmten Länder.

Allerdings wurde Großbritannien bis zum Brexit fast 3‑mal so oft überstimmt wie Österreich und fast 7‑mal so oft wie das zehntplatzierte Bulgarien. Seit dem Brexit wurde das jetzt an der Spitze stehende Ungarn 2,3‑mal so oft wie das viertplatzierte Österreich überstimmt und etwas mehr als 4‑mal so oft wie das zehntplatzierte Tschechien. Damit ist Ungarn noch immer erheblich konsensfähiger, als es das Vereinigte Königreich vor seinem Austritt war.

Polen und Ungarn wurden zuletzt oft gemeinsam überstimmt

Zwei weitere Dinge fallen beim Abstimmungsverhalten Polens und Ungarns nach dem Brexit auf. Erstens votierten beide häufiger mit Nein, anstatt sich zu enthalten; dies signalisiert, dass sie einen EU-Beschluss rundherum ablehnten. Zweitens stimmten sie deutlich häufiger gemeinsam gegen einen Beschluss – also bestand zumindest bis zum Regierungswechsel in Warschau im Dezember 2023 ein Schulterschluss zwischen Warschau und Budapest.

Dass alle vier Staaten der Visegrád-Gruppe (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei) überstimmt wurden, findet sich in den Daten allerdings kein einziges Mal. Dies lässt darauf schließen, dass weiterverhandelt wurde, wenn alle vier gemeinsam eine Vorlage ablehnten, Polen und Ungarn aufgrund relativ gesunkener Konsensbereitschaft aber bei ihrer Haltung blieben und am Ende überstimmt wurden.

Betrachtet man alle Abstimmungen mit Gegenstimmen im gesamten Untersuchungszeitraum, gab es bis zum Brexit nur einen einzigen Fall, in dem Polen und Ungarn gemeinsam überstimmt wurden: eine Abstimmung zur Sozialpolitik. Seit dem Brexit geschah dies je einmal in den Politikbereichen Wirtschaft, Energie und Umwelt sowie dreimal in der Innen- und Justizpolitik. Zum Vergleich: Deutschland und Frankreich wurden im März 2024 erstmals überhaupt bei einer öffentlichen Abstimmung gemeinsam überstimmt, im Fall der Richtlinie über Plattformarbeit.

Keine strukturellen Minderheiten

Interessant ist auch ein Vergleich mit den Mitgliedern der „Freundesgruppe für QMV“: Ihr gehören sowohl Staaten wie Frankreich oder Italien an, die in den öffentlichen Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit selten bis nie überstimmt wurden, als auch mit Belgien, Deutschland, den Niederlanden oder Schweden (als Beobachter) solche, die relativ häufig überstimmt wurden. Zählt man für den gesamten Zeitraum seit 2010, wurde Deutschland ähnlich häufig überstimmt wie Polen oder Ungarn.

Grafik 2: Überstimmungen pro Mitgliedstaat vor und nach dem Brexit
(zum Vergrößern auf das Bild klicken)

Selbst wenn Polen und Ungarn zuletzt öfter überstimmt wurden als andere EU-Mitglieder, ist eine strukturelle Minderheit nicht zu erkennen. Das heißt, es verhält sich nicht so, dass ein Staat oder eine Staatengruppe mit hoher Regelmäßigkeit in einer Reihe verschiedener Politikfelder überstimmt wird. Gleichzeitig fällt das veränderte Abstimmungsverhalten der genannten Länder seit dem Brexit auf – Polen votierte nie dafür, wenn Ungarn dagegen votierte, und umgekehrt.

Umstrittene Politikbereiche

Nicht nur die Zahl der Überstimmungen unterscheidet Ungarn und Polen von Großbritannien, sondern auch die Politikfelder, in denen sie stattfanden. Das Vereinigte Königreich wurde am häufigsten bei Abstimmungen zu Finanzen (26 Prozent) und zur Außenpolitik (18 Prozent) überstimmt, vor allem aber bei denen zu institutionellen Fragen (46 Prozent), die das Wesen und Funktionieren der Europäischen Union als Ganzes betreffen.

Für Polen und Ungarn stehen andere Politikbereiche im Vordergrund: Die drei, in denen sie seit dem Brexit am häufigsten überstimmt wurden, sind Umwelt, Justiz und Inneres sowie Verkehr bzw. Sozialpolitik. Die umstrittene Asylreform, die Orbán als Argument für seine Forderung anführt, zur Einstimmigkeit zurückzukehren, fällt in den Bereich Justiz und Inneres.

Besonders oft stehen Polen und Ungarn in der Asylpolitik allein

Auch insgesamt betrachtet sticht die für Polen und Ungarn nach dem Brexit gestiegene Überstimmungsquote im Bereich Justiz und Inneres (einschließlich der Migrationspolitik) hervor.

Schaut man auf diesen Politikbereich im Ganzen, so ist die Konsensrate im Vergleich zu der Zeit vor dem Brexit nur leicht gesunken (von 80 auf 70 Prozent, siehe Grafik 1). Die Konsensfähigkeit Polens und Ungarns in diesem Politikfeld hat nach dem Brexit hingegen auffällig abgenommen. Dies ist zum einen ihrer Lage an der EU-Außengrenze geschuldet, zum anderen aber auch der starken Politisierung von Asylrechtsfragen.

Dessen ungeachtet ist zu konstatieren: Anders als Großbritannien drücken Polen und Ungarn mit ihren Enthaltungen bzw. Nein-Stimmen insgesamt (noch) keine Ablehnung der institutionellen Prozesse der EU – und damit letztlich der EU als solcher – aus. Vielmehr verweist ihr Abstimmungsverhalten auf Dissens in einem inhaltlich klar abgegrenzten Politikfeld.

Schlussfolgerungen

Aus der Analyse des Abstimmungsverhaltens lassen sich zwei Schlussfolgerungen ziehen: Auf der einen Seite dienen Entscheidungen per qualifizierter Mehrheit in den Politikbereichen, in denen sie heute schon angewendet werden, primär als Aufforderung, einen Konsens zu suchen und sich kompromissbereit zu zeigen. Der Rat der EU fungiert noch sehr als zwischenstaatliches Gremium, in dem die nationalen Regierungen im überwiegenden Fall Einstimmigkeit oder zumindest einen Konsens anstreben. Das Überstimmen einzelner Regierungen oder gar größerer Gruppen von Regierungen bleibt eine Seltenheit. Die Konsensfähigkeit der EU‑27 ist nach wie vor hoch, selbst wenn zwischen den Mitgliedstaaten Differenzen bestehen.

Dementsprechend dürfte die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen nicht dazu führen, dass im großen Stil Regierungen überstimmt werden – mithin auch nicht in sensiblen Bereichen wie der Außen- und Sicherheits- oder der Steuerpolitik. Dies stärkt die Argumentation der Akteur:innen, die eine Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik befürworten. Auch für die demokratische Legitimation der EU ist es wichtig, dass in der Regel ein Konsens aller Staaten gesucht und gefunden wird.

Auf der anderen Seite macht der Blick in die Abstimmungsprotokolle aber auch deutlich, dass es durchaus Staaten gibt, die erkennbar häufiger überstimmt werden als andere. Auch und gerade mit der Perspektive auf eine (noch) heterogenere EU mit 30 oder mehr Mitgliedstaaten sollte eine Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen deshalb mit Mechanismen einhergehen, die nicht nur die legitimen nationalen Interessen in kritischen Bereichen schützen, sondern gleichzeitig mehr Handlungsfähigkeit ermöglichen, als es das Festhalten am Einstimmigkeitsprinzip momentan tut.

Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Isabella Stürzer ist studentische Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe EU/Europa der Stiftung Wissenschaft und Politik.


Bild: Treffen des Europäischen Rates: European External Action Service [CC BY-NC 2.0], via Flickr; Grafiken: Stiftung Wissenschaft und Politik [alle Rechte vorbehalten].

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