- Nein zu Europa? Nein zur Austerität? Das Referendum wird eine Antwort bieten, aber die Frage bleibt offen.
Das
Schöne an einem Referendum ist, in der Theorie, dass es
Eindeutigkeit schafft: Das „souveräne Volk“ spricht und
beantwortet eine Frage. Gewiss, fast alle politischen Fragen sind
heute viel zu kompliziert, als dass sie sich wirklich auf ein
einfaches Ja oder Nein herunterbrechen ließen, und daher obliegt es
hinterher doch immer den gewählten Politikern in Regierungen und
Parlamenten, mit der Entscheidung umzugehen. Aber immerhin,
Referenden zwingen die einzelnen Wähler, selbst in einer Sache
Position zu beziehen, und schaffen damit eine Klarheit, die es vorher
nicht gab. In der Theorie.
Die
Praxis des heutigen Volksentscheids in Griechenland dürfte anders
aussehen. Denn die Frage, worüber dort eigentlich abgestimmt
ist, ist mindestens ebenso umstritten wie die, ob man dabei das Ja
oder das Nein wählen sollte. Und daher dürfte schon jetzt
feststehen, dass die eigentliche Entscheidung nicht heute an den
Urnen fällt – sondern morgen früh, wenn die Stimmzettel
ausgezählt sind und die Politik sich daran macht, das Ergebnis zu
interpretieren.
Die
offizielle Referendumsfrage: bekannt, aber obsolet
Die
offizielle Frage des Referendums ist natürlich bekannt:
Soll der von der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds am 25. Juni in der Euro-Gruppe präsentierte Vorschlag akzeptiert werden, der aus zwei Teilen besteht, die gemeinsam einen einheitlichen Vorschlag bilden? Das erste Dokument hat den Titel „Reforms for the completion of the Current Program and Beyond“ (Reformen für die Vollendung des laufenden Programms und darüber hinaus), das zweite „Preliminary Debt sustainability analysis“ (Vorläufige Schuldentragfähigkeitsanalyse).
Aber
wie in den letzten Tagen von den verschiedensten Beobachtern
hervorgehoben wurde, lässt sich mit dieser Frage kaum etwas
anfangen. Das liegt nicht nur
an ihrer unvermeidlichen inhaltlichen Komplexität oder daran, dass
die griechischen Bürger entgegen
den Empfehlungen des Europarats gerade einmal eine Woche Zeit
hatten, um sich auf die Abstimmung vorzubereiten.
Hinzu
kommt, dass die Troika-Dokumente
vom 25. Juni gar
nicht den letzten
Stand der Verhandlungen darstellen:
Ebenfalls am 25. Juni
präsentierte nämlich auch die griechische Regierung selbst einen
Vorschlag, auf deren
Grundlage die Troika
einen Tag später noch
einmal einen Gegenvorschlag
machte, über
den dann in der Eurogruppe
keine Einigkeit erzielt wurde.
Infolgedessen deckt
sich auch der von
der Kommission veröffentlichte letzte Verhandlungsstand nicht
mit den Dokumenten, die die griechische Regierung auf
der offiziellen Homepage zum Referendum eingestellt hat.
Entscheidend
aber ist, dass sowohl der
eine als auch der andere Vorschlag inzwischen obsolet sind: Beide
behandelten nur die Fortsetzung des
bis zum 30.
Juni laufenden (zweiten)
griechischen Kredit- und
Reformprogramms, das wegen
des Verhandlungsabbruchs
inzwischen jedoch beendet
wurde. Auch wenn in dem
Referendum heute das Ja gewinnt, ist
eine Annahme des
Vorschlags vom 25. Juni also schon technisch unmöglich. Stattdessen
müsste über ein neues
(drittes) Programm verhandelt
werden.
Austerität
vs. Wachstum?
Dass
das Referendum technisch eigentlich inhaltsleer ist, macht
es jedoch nur umso besser geeignet für eine symbolische Aufladung;
und so sind seit mehreren Tagen Politiker und Publizisten
gleichermaßen damit beschäftigt, der
Öffentlichkeit die „eigentliche“ Bedeutung der Abstimmung zu
erklären. Vor allem drei
Interpretationen sind dabei
weit verbreitet.
Die
erste wird vor allem von der griechischen Regierung selbst
vertreten, die das Referendum
vor allem als ein Votum gegen die Austeritätspolitik
verstehen will. So erklärte
Ministerpräsident Alexis Tsipras (Syriza/EL), ein Nein würde die
griechische Verhandlungsposition stärken und dem Land eine
bessere Lösung mit den Kreditgebern ermöglichen. Aber
auch diverse (vor allem US-amerikanische) Wirtschaftswissenschaftler
wie Paul
Krugman und Joseph
Stiglitz sehen vor allem eine Chance, der aus ökonomischer Sicht
höchst
zweifelhaften Sparpolitik per
Volksabstimmung ein Ende zu
bereiten.
Für
diese Deutung spricht unter
anderem die vergangene
Erfahrung mit nationalen Referenden in der EU – etwa
dem irischen Nein zum Vertrag von Lissabon 2008. Die EU reagierte
damals mit Zugeständnissen an Irland, um die Bevölkerung in einem
zweiten Referendum ein Jahr später doch noch zu einer Zustimmung zum
Vertrag zu bringen. Ob
dies für Griechenland genauso funktionieren könnte, scheint aber
fraglich. Jedenfalls bemühten
sich die anderen Regierungen
der EU-Mitgliedstaaten (allen
voran die
deutsche) in den letzten
Tagen, dass sie nicht zu
weitergehenden Kompromissen bereit seien.
Euro
vs. Drachme?
Als zweite Deutung ist deshalb oft zu hören, dass ein
Nein in dem Referendum zum viel diskutierten „Grexit“, dem
Austritt Griechenlands aus dem Euro führen würde. Außer
den meisten Eurogruppe-Regierungen vertreten
diese Sichtweise auch viele Akteure der griechischen Opposition,
prominent etwa der
europapolitische Sprecher der sozialliberalen Partei To Potami.
Tatsächlich ist dieses Szenario nicht
unwahrscheinlich, wenn die
europäischen Institutionen das Nein als eine Ablehnung gegenüber
jedem weiteren Reformprogramm
verstehen. Der griechische Bankensektor hält
sich schon jetzt nur noch durch
sogenannte Notfall-Liquiditätshilfen der Europäischen Zentralbank
über Wasser. Diese
Hilfen werden ihrerseits jedoch gerade dadurch gerechtfertigt, dass
Griechenland ein „Programmland“ ist. Sollte es den Reformprozess
nun beenden, müsste die EZB die Banken fallen lassen, was neben einem griechischen
Staatsbankrott auch eine dramatische
Finanzkrise heraufbeschwören
würde. Um diese zu verhindern, könnte die griechische Zentralbank
selbst den Banken Nothilfen geben wollen – und dafür eine eigene
nationale Währung herausgeben.
Gegen
diese Deutung spricht allerdings, dass
die griechische Regierung selbst einen
Euro-Austritt bis heute kategorisch ausschließt. Tsipras
wird voraussichtlich also auch
bei einem Nein neue
Verhandlungen mit den Kreditgebern vorschlagen. Und diese müssen bei
einem Grexit nicht nur ebenfalls mit erheblichen
wirtschaftlichen Einbußen rechnen, sondern
werden auch nicht gerne die
politische Verantwortung dafür übernehmen wollen,
ein weiterhin verhandlungsbereites Land aus der Eurozone gedrängt zu haben –
von den damit
verbundenen rechtlichen Schwierigkeiten ganz zu schweigen. Eine
Notlösung in letzter Minute ist also auch bei einem Nein nicht
ausgeschlossen.
Syriza
vs. Große Koalition?
Wenn
das Referendum also weder über die Sparpolitik noch über den
Euro-Austritt eine eindeutige Antwort geben kann, bleibt dafür noch eine dritte Deutungsmöglichkeit: Es geht darin auch um ein Ja
oder Nein zur griechischen Regierung selbst. Finanzminister
Yanis Varoufakis (Syriza/EL) hat für den Fall
eines Ja bereits seinen Rücktritt angekündigt; und
der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD/SPE)
machte keinen Hehl daraus, dass er sich dasselbe
auch von Alexis Tsipras wünschen würde. Ob
ihm der griechische Ministerpräsident diesen Gefallen tut, ist
derzeit aber völlig offen; Tsipras
selbst wollte
sich zuletzt nicht festlegen.
Auf
jeden Fall jedoch verdeutlicht diese
dritte Deutung auch die
parteipolitische Dimension, die dem ganzen Konflikt zugrunde liegt:
Über die einzelnen
Streitpunkte zu dieser Spar- oder jener Reformmaßnahme hinaus ging
es der Linkspartei Syriza
immer auch darum, sich als Alternative zur europäischen Großen
Koalition zu profilieren,
während die
Akteure in den
EU-Institutionen und
den anderen europäischen Regierungen genau
dies verhindern
wollten.
Die
Entscheidung über die Deutung fällt erst morgen früh
Welche
der drei Interpretationen
sich am Ende durchsetzt, wird
ziemlich sicher zwischen
heute Nacht und morgen früh entschieden – wenn
die Stimmzettel ausgezählt sind und
die Politiker in Griechenland
und dem Rest der Europäischen Union wieder die
Deutungshoheit
übernehmen. Wenn das Ja
gewinnt, werden dabei alle Augen auf Tsipras gerichtet sein: Räumt
er seine Niederlage ein? Macht
er Vorschläge, wie die Verhandlungen für ein drittes Kreditprogramm
nun weitergehen könnten? Tritt
er zurück?
Bei
einem Nein hingegen dürfte
viel von den europäischen
Institutionen abhängen: Stellt die EZB die Liquiditätshilfen ein?
Vollzieht die Eurogruppe den
Bruch und erklärt die
Verhandlungen für endgültig gescheitert?
Keine Antwort auf
die großen Fragen der Krise
Oder
setzt sich am Ende gar eine ganz andere Lesart durch – nämlich
dass das Referendum in dieser Form unabhängig
von seinem Ausgang schlicht
nicht geeignet war, überhaupt eine Antwort
auf die
großen Fragen der Griechenland-Krise zu bieten?
Am
vergangenen Mittwoch hielt der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi (PD/SPE) in der Humboldt-Universität
zu Berlin eine europapolitische
Rede, in der er auch auf das griechische
Referendum einging. Seine
Hauptaussage folgte dabei klar dem zweiten der hier
beschriebenen Deutungsmuster: Der
Volksentscheid gehe darum, „ob Griechenland in der Eurozone bleibt
oder zur Drachme zurückkehrt, nicht mehr und nicht weniger“. Daneben hob
er jedoch auch hervor, es
gebe „zwischen der Verantwortungslosigkeit [eines Euro-Austritts] und der Austerität
einen dritten Weg, der beim Referendum in Griechenland nicht auf dem
Stimmzettel steht“. Es war
nicht schwer zu verstehen, dass Renzi sich selbst als
Vertreter dieses dritten Weges versteht.
So
richtig wohl dürften sich mit dem griechischen
Referendum nur zwei Gruppen
fühlen: diejenigen, die den
Euro, die Austeritätspolitik
und die Große Koalition aus
EVP und SPE gleichermaßen gut finden – und
diejenigen, die alle drei
gleichermaßen ablehnen. Nur
ihnen fällt die Entscheidung zwischen Ja und Nein heute leicht. Für
alle anderen bleibt nur
darauf zu warten, was die
Politiker innerhalb und außerhalb Griechenlands morgen
mit dem Ergebnis anfangen werden.
Bilder: by Martin Broek [CC BY-NC 2.0], via Flickr; by Greek Goverment [Public domain], via Wikimedia Commons.
Derzeit und mir einigen Tagen Abstand sieht es so aus, als habe das Referendum zumindest das Feiglingsspiel beendet - die Verhandlungen scheinen freundlicher zu werden.
AntwortenLöschenUnd natürlich hat man auch vergessen, dass es noch einen 4. Weg gibt: Die Großmacht verliert die Geduld und befiehlt den Schuldenschnitt :-)