05 Juli 2015

Ja oder Nein, aber wozu eigentlich? Drei Deutungen des griechischen Referendums

Nein zu Europa? Nein zur Austerität? Das Referendum wird eine Antwort bieten, aber die Frage bleibt offen.
Das Schöne an einem Referendum ist, in der Theorie, dass es Eindeutigkeit schafft: Das „souveräne Volk“ spricht und beantwortet eine Frage. Gewiss, fast alle politischen Fragen sind heute viel zu kompliziert, als dass sie sich wirklich auf ein einfaches Ja oder Nein herunterbrechen ließen, und daher obliegt es hinterher doch immer den gewählten Politikern in Regierungen und Parlamenten, mit der Entscheidung umzugehen. Aber immerhin, Referenden zwingen die einzelnen Wähler, selbst in einer Sache Position zu beziehen, und schaffen damit eine Klarheit, die es vorher nicht gab. In der Theorie.

Die Praxis des heutigen Volksentscheids in Griechenland dürfte anders aussehen. Denn die Frage, worüber dort eigentlich abgestimmt ist, ist mindestens ebenso umstritten wie die, ob man dabei das Ja oder das Nein wählen sollte. Und daher dürfte schon jetzt feststehen, dass die eigentliche Entscheidung nicht heute an den Urnen fällt – sondern morgen früh, wenn die Stimmzettel ausgezählt sind und die Politik sich daran macht, das Ergebnis zu interpretieren.

Die offizielle Referendumsfrage: bekannt, aber obsolet

Die offizielle Frage des Referendums ist natürlich bekannt:
Soll der von der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds am 25. Juni in der Euro-Gruppe präsentierte Vorschlag akzeptiert werden, der aus zwei Teilen besteht, die gemeinsam einen einheitlichen Vorschlag bilden? Das erste Dokument hat den Titel „Reforms for the completion of the Current Program and Beyond“ (Reformen für die Vollendung des laufenden Programms und darüber hinaus), das zweite „Preliminary Debt sustainability analysis“ (Vorläufige Schuldentragfähigkeitsanalyse).
Aber wie in den letzten Tagen von den verschiedensten Beobachtern hervorgehoben wurde, lässt sich mit dieser Frage kaum etwas anfangen. Das liegt nicht nur an ihrer unvermeidlichen inhaltlichen Komplexität oder daran, dass die griechischen Bürger entgegen den Empfehlungen des Europarats gerade einmal eine Woche Zeit hatten, um sich auf die Abstimmung vorzubereiten.
OXI heißt Nein, NAI heißt Ja: Viel mehr gibt es an dem Stimmzettel nicht zu verstehen.

Hinzu kommt, dass die Troika-Dokumente vom 25. Juni gar nicht den letzten Stand der Verhandlungen darstellen: Ebenfalls am 25. Juni präsentierte nämlich auch die griechische Regierung selbst einen Vorschlag, auf deren Grundlage die Troika einen Tag später noch einmal einen Gegenvorschlag machte, über den dann in der Eurogruppe keine Einigkeit erzielt wurde. Infolgedessen deckt sich auch der von der Kommission veröffentlichte letzte Verhandlungsstand nicht mit den Dokumenten, die die griechische Regierung auf der offiziellen Homepage zum Referendum eingestellt hat.

Entscheidend aber ist, dass sowohl der eine als auch der andere Vorschlag inzwischen obsolet sind: Beide behandelten nur die Fortsetzung des bis zum 30. Juni laufenden (zweiten) griechischen Kredit- und Reformprogramms, das wegen des Verhandlungsabbruchs inzwischen jedoch beendet wurde. Auch wenn in dem Referendum heute das Ja gewinnt, ist eine Annahme des Vorschlags vom 25. Juni also schon technisch unmöglich. Stattdessen müsste über ein neues (drittes) Programm verhandelt werden.

Austerität vs. Wachstum?

Dass das Referendum technisch eigentlich inhaltsleer ist, macht es jedoch nur umso besser geeignet für eine symbolische Aufladung; und so sind seit mehreren Tagen Politiker und Publizisten gleichermaßen damit beschäftigt, der Öffentlichkeit die „eigentliche“ Bedeutung der Abstimmung zu erklären. Vor allem drei Interpretationen sind dabei weit verbreitet.

Die erste wird vor allem von der griechischen Regierung selbst vertreten, die das Referendum vor allem als ein Votum gegen die Austeritätspolitik verstehen will. So erklärte Ministerpräsident Alexis Tsipras (Syriza/EL), ein Nein würde die griechische Verhandlungsposition stärken und dem Land eine bessere Lösung mit den Kreditgebern ermöglichen. Aber auch diverse (vor allem US-amerikanische) Wirtschaftswissenschaftler wie Paul Krugman und Joseph Stiglitz sehen vor allem eine Chance, der aus ökonomischer Sicht höchst zweifelhaften Sparpolitik per Volksabstimmung ein Ende zu bereiten.

Für diese Deutung spricht unter anderem die vergangene Erfahrung mit nationalen Referenden in der EU – etwa dem irischen Nein zum Vertrag von Lissabon 2008. Die EU reagierte damals mit Zugeständnissen an Irland, um die Bevölkerung in einem zweiten Referendum ein Jahr später doch noch zu einer Zustimmung zum Vertrag zu bringen. Ob dies für Griechenland genauso funktionieren könnte, scheint aber fraglich. Jedenfalls bemühten sich die anderen Regierungen der EU-Mitgliedstaaten (allen voran die deutsche) in den letzten Tagen, dass sie nicht zu weitergehenden Kompromissen bereit seien.

Euro vs. Drachme?

Als zweite Deutung ist deshalb oft zu hören, dass ein Nein in dem Referendum zum viel diskutierten „Grexit“, dem Austritt Griechenlands aus dem Euro führen würde. Außer den meisten Eurogruppe-Regierungen vertreten diese Sichtweise auch viele Akteure der griechischen Opposition, prominent etwa der europapolitische Sprecher der sozialliberalen Partei To Potami.

Tatsächlich ist dieses Szenario nicht unwahrscheinlich, wenn die europäischen Institutionen das Nein als eine Ablehnung gegenüber jedem weiteren Reformprogramm verstehen. Der griechische Bankensektor hält sich schon jetzt nur noch durch sogenannte Notfall-Liquiditätshilfen der Europäischen Zentralbank über Wasser. Diese Hilfen werden ihrerseits jedoch gerade dadurch gerechtfertigt, dass Griechenland ein „Programmland“ ist. Sollte es den Reformprozess nun beenden, müsste die EZB die Banken fallen lassen, was neben einem griechischen Staatsbankrott auch eine dramatische Finanzkrise heraufbeschwören würde. Um diese zu verhindern, könnte die griechische Zentralbank selbst den Banken Nothilfen geben wollen – und dafür eine eigene nationale Währung herausgeben.

Gegen diese Deutung spricht allerdings, dass die griechische Regierung selbst einen Euro-Austritt bis heute kategorisch ausschließt. Tsipras wird voraussichtlich also auch bei einem Nein neue Verhandlungen mit den Kreditgebern vorschlagen. Und diese müssen bei einem Grexit nicht nur ebenfalls mit erheblichen wirtschaftlichen Einbußen rechnen, sondern werden auch nicht gerne die politische Verantwortung dafür übernehmen wollen, ein weiterhin verhandlungsbereites Land aus der Eurozone gedrängt zu haben – von den damit verbundenen rechtlichen Schwierigkeiten ganz zu schweigen. Eine Notlösung in letzter Minute ist also auch bei einem Nein nicht ausgeschlossen.

Syriza vs. Große Koalition?

Wenn das Referendum also weder über die Sparpolitik noch über den Euro-Austritt eine eindeutige Antwort geben kann, bleibt dafür noch eine dritte Deutungsmöglichkeit: Es geht darin auch um ein Ja oder Nein zur griechischen Regierung selbst. Finanzminister Yanis Varoufakis (Syriza/EL) hat für den Fall eines Ja bereits seinen Rücktritt angekündigt; und der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD/SPE) machte keinen Hehl daraus, dass er sich dasselbe auch von Alexis Tsipras wünschen würde. Ob ihm der griechische Ministerpräsident diesen Gefallen tut, ist derzeit aber völlig offen; Tsipras selbst wollte sich zuletzt nicht festlegen.

Auf jeden Fall jedoch verdeutlicht diese dritte Deutung auch die parteipolitische Dimension, die dem ganzen Konflikt zugrunde liegt: Über die einzelnen Streitpunkte zu dieser Spar- oder jener Reformmaßnahme hinaus ging es der Linkspartei Syriza immer auch darum, sich als Alternative zur europäischen Großen Koalition zu profilieren, während die Akteure in den EU-Institutionen und den anderen europäischen Regierungen genau dies verhindern wollten.

Die Entscheidung über die Deutung fällt erst morgen früh

Welche der drei Interpretationen sich am Ende durchsetzt, wird ziemlich sicher zwischen heute Nacht und morgen früh entschieden – wenn die Stimmzettel ausgezählt sind und die Politiker in Griechenland und dem Rest der Europäischen Union wieder die Deutungshoheit übernehmen. Wenn das Ja gewinnt, werden dabei alle Augen auf Tsipras gerichtet sein: Räumt er seine Niederlage ein? Macht er Vorschläge, wie die Verhandlungen für ein drittes Kreditprogramm nun weitergehen könnten? Tritt er zurück?

Bei einem Nein hingegen dürfte viel von den europäischen Institutionen abhängen: Stellt die EZB die Liquiditätshilfen ein? Vollzieht die Eurogruppe den Bruch und erklärt die Verhandlungen für endgültig gescheitert?

Keine Antwort auf die großen Fragen der Krise

Oder setzt sich am Ende gar eine ganz andere Lesart durch – nämlich dass das Referendum in dieser Form unabhängig von seinem Ausgang schlicht nicht geeignet war, überhaupt eine Antwort auf die großen Fragen der Griechenland-Krise zu bieten?

Am vergangenen Mittwoch hielt der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi (PD/SPE) in der Humboldt-Universität zu Berlin eine europapolitische Rede, in der er auch auf das griechische Referendum einging. Seine Hauptaussage folgte dabei klar dem zweiten der hier beschriebenen Deutungsmuster: Der Volksentscheid gehe darum, „ob Griechenland in der Eurozone bleibt oder zur Drachme zurückkehrt, nicht mehr und nicht weniger“. Daneben hob er jedoch auch hervor, es gebe „zwischen der Verantwortungslosigkeit [eines Euro-Austritts] und der Austerität einen dritten Weg, der beim Referendum in Griechenland nicht auf dem Stimmzettel steht“. Es war nicht schwer zu verstehen, dass Renzi sich selbst als Vertreter dieses dritten Weges versteht.

So richtig wohl dürften sich mit dem griechischen Referendum nur zwei Gruppen fühlen: diejenigen, die den Euro, die Austeritätspolitik und die Große Koalition aus EVP und SPE gleichermaßen gut finden – und diejenigen, die alle drei gleichermaßen ablehnen. Nur ihnen fällt die Entscheidung zwischen Ja und Nein heute leicht. Für alle anderen bleibt nur darauf zu warten, was die Politiker innerhalb und außerhalb Griechenlands morgen mit dem Ergebnis anfangen werden.

Bilder: by Martin Broek [CC BY-NC 2.0], via Flickr; by Greek Goverment [Public domain], via Wikimedia Commons.

1 Kommentar:

  1. Gerald Fix10/7/15 17:46

    Derzeit und mir einigen Tagen Abstand sieht es so aus, als habe das Referendum zumindest das Feiglingsspiel beendet - die Verhandlungen scheinen freundlicher zu werden.

    Und natürlich hat man auch vergessen, dass es noch einen 4. Weg gibt: Die Großmacht verliert die Geduld und befiehlt den Schuldenschnitt :-)

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