29 Juni 2015

Nationale Demokratie und Währungsunion: Über das Referendum in Griechenland

„Can democracy and a monetary union coexist? Or must one give way? This is the pivotal question that the Eurogroup has decided to answer by placing democracy in the too-hard basket. So far, one hopes.“
Yanis Varoufakis, As it happened, 28. Juni 2015

Ein „anderes Europa“ erhofften sich Tsiprasʼ Unterstützer im Wahlkampf. Doch im Referendum nächsten Sonntag fehlt diese Option auf dem Stimmzettel.
Auf den ersten Blick scheint das Referendum, das die griechische Regierung unter Alexis Tsipras (Syriza/EL) für den kommenden Sonntag angesetzt hat, die einzige demokratisch sinnvolle Lösung zu sein. Nach vielen Jahren vergeblicher Sparpolitik von Pasok (SPE) und ND (EVP) wählte eine erschöpfte und frustrierte griechische Bevölkerung Anfang dieses Jahres die linke Syriza (EL) in die Regierung, deren wichtigstes Versprechen darin bestand, die Bedingungen für die Hilfskredite von EU und Internationalem Währungsfonds neu zu verhandeln. Was folgte, war von der ersten Woche an ein diplomatisches Feiglingsspiel, in dem beide Seiten einander mit immer neuen Manövern unter Druck zu setzen versuchten.

Neuwahl oder Referendum

Jetzt, fünf Monate später, musste die griechische Regierung einsehen, dass sie ihr Ziel nicht würde erreichen können. Sei es, dass sie ungeschickt verhandelt hat, sei es, dass die Kreditgeber von Anfang an am längeren Hebel saßen und sich auf keine grundsätzliche Neuausrichtung des vereinbarten Programms einzulassen bereit waren – klar ist, dass Tsipras sein Wahlversprechen nicht wird halten können. Unter diesen Umständen gibt es nur zwei schlüssige Optionen: Entweder die Regierung tritt zurück und stellt sich erneut dem Votum der Wähler. Oder sie lässt sich den Kurswechsel in einem Referendum bestätigen.

Über beide Möglichkeiten war in den letzten Monaten bereits wiederholt spekuliert worden. Dass es schließlich das Referendum wurde, lässt sich wohl am besten mit der parteiinternen Dynamik der Syriza erklären: Da ihr linker Flügel jeden Kompromiss ablehnt, würde der Versuch, mit einem angepassten Wahlprogramm in eine Neuwahl zu gehen, wohl zu einer Spaltung der Partei führen. Das Referendum, in dem die griechische Regierung offiziell zwar für ein Nein wirbt, den Umfragen zufolge aber das Ja zum Kompromiss recht deutlich gewinnen wird, könnte hingegen ein geeignetes Mittel sein, um auch den linken Flügel für den Positionswechsel zu gewinnen.

Giorgos Papandreou vor Augen

Finanzminister Yanis Varoufakis (Syriza/EL) jedenfalls begründete das Referendum in seiner (von ihm selbst veröffentlichten) Rede vor der Eurogruppe am vergangenen Samstag genau mit dem Argument, dass nur eine Bestätigung durch die Bevölkerung den Beschlüssen die nötige Legitimität verleihen könnte:
If our government were to accept the institutions’ offer today, promising to push it through Parliament tomorrow, we would be defeated in Parliament with the result of a new election being called within a very long month – then, the delay, the uncertainty and the prospects of a successful resolution would be much, much diminished. But even if we managed to pass the institutions’ proposal through Parliament, we would be facing a major problem of ownership and implementation. Put simply, just as in the past the governments that pushed through policies dictated by the institutions could not carry the people with them, we too would fail to do so.
Wenn unsere Regierung das Angebot der Institutionen heute akzeptieren und versprechen würde, dass sie es morgen durch das Parlament drückt, würden wir im Parlament eine Niederlage erleiden, mit der Folge, dass es in einem guten Monat Neuwahlen gäbe – und dann wären die Verzögerung, die Unsicherheit und die Aussichten auf eine erfolgreiche Lösung sehr, sehr vermindert [sic]. Aber auch wenn es uns gelänge, den Vorschlag der Institutionen durch das Parlament zu bringen, hätten wir ein größeres Problem damit, es uns zu eigen zu machen und umzusetzen. Einfach gesagt: So wie in der Vergangenheit die Regierungen, die von den Institutionen diktierte Politiken durchdrückten, das Volk nicht mitnehmen konnten, würden auch wir scheitern.
Bei diesen Worten dürfte Varoufakis wohl besonders einen vor Augen gehabt haben: den früheren griechischen Regierungschef Giorgos Papandreou (Pasok/SPE), der bereits Ende Oktober 2011 eine Volksabstimmung über den von den europäischen Kreditgebern geforderten Sparkurs angekündigt – und dann unter dem Druck der anderen Mitgliedstaaten wieder abgesagt hat. Kurz danach wurde Papandreou abgewählt, seine Partei kommt in Umfragen heute nicht einmal mehr auf fünf Prozent.

Die Eurogruppe trägt Tsiprasʼ Kurs nicht mit

Sind Tsipras und Varoufakis also gerade dabei, alles richtig zu machen? Ist die Grexit-Panik, die die Eurozone gerade durchmacht, nur der Preis dafür, dass nun alles seine demokratische Wende zum Guten nehmen könnte – eine „Krise“ im eigentlichen Sinn des Wortes, also eine kurze Phase enormer Anspannung, an deren Ende aber eine wie auch immer geartete, aber jedenfalls von der griechischen Bevölkerung mit getragene Lösung steht?

Zwei Dinge lassen mich daran zweifeln. Das eine ist die Haltung der übrigen Euro-Mitgliedstaaten, die auf das angekündigte Referendums sehr negativ reagierten und auch den Wunsch der griechischen Regierung ablehnten, das am morgigen Dienstag auslaufende Hilfsprogramm um einige Tage bis nach dem Volksentscheid zu verlängern. Dank der Notfall-Liquiditätshilfen der EZB und der heute verhängten Kapitalverkehrskontrollen bestehen zwar gute Chancen, dass der befürchtete Bankrun, der zum Grexit führen könnte, nicht schon diese Woche stattfindet. Klar ist aber, dass die Eurogruppe das Ziel der griechischen Regierung, am Sonntag eine Entscheidung per Referendum zu erzwingen, nicht mitträgt.

Kein finaler Entwurf für eine Einigung

Dass die letzten Verhandlungen im Eklat endeten, führte auch dazu, dass es keinen finalen Entwurf für eine Einigung zwischen Griechenland und den Geldgebern gibt – sodass gar nicht wirklich feststeht, worüber die Griechen in dem Referendum eigentlich abstimmen. Dies ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass die griechische Regierung offiziell ja für ein Nein werben will und natürlich nicht gut ihre Unterschrift unter ein Abkommen setzen kann, das sie der Bevölkerung zur Ablehnung empfiehlt.

Dass Griechenland und die übrigen Länder sich nicht gemeinsam auf einen Text geeinigt haben, den man der griechischen Bevölkerung zur Abstimmung vorlegt, wird aber jedenfalls für weitere Unsicherheit sorgen. Im Sinne der „Transparenz und Unterrichtung des griechischen Volkes“ veröffentlichte die Europäische Kommission am Sonntag immerhin den letzten Verhandlungsstand.

Dijsselbloems Misstrauen

Hinzu kommt, dass Eurogruppen-Präsident Jeroen Dijsselbloem (PvdA/SPE) der griechischen Regierung offenbar auch dann kein Vertrauen mehr schenken will, wenn bei der Abstimmung am Sonntag das Ja gewinnt. Am Samstag äußerte er jedenfalls „große Zweifel, wie glaubwürdig das ist“: Schließlich würden Reformen erfahrungsgemäß nur dann wirklich umgesetzt, wenn die Regierung voll dahinterstehe, was angesichts der Nein-Empfehlung der Tsipras-Regierung offensichtlich nicht der Fall ist.

Dass umgekehrt Tsipras und Varoufakis wiederholt betonten, dass sie sich als „überzeugte Demokraten“ auch bei einem Ja an das Wählervotum gebunden fühlen würden, könnte zuletzt also zu wenig sein, um die Eurogruppe wieder zu konstruktiven Verhandlungen zu bringen. Der ungelöste parteipolitische Gegensatz zwischen der europäischen Großen Koalition aus Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen einerseits und der Europäischen Linken um Alexis Tsipras andererseits war schon in den vergangenen Monaten ein zentrales Verhandlungshindernis. Durch Dijsselbloems Äußerungen dürfte sich in der Syriza-Regierung der Eindruck nun noch verstärken, dass es manchen in der Eurogruppe gar nicht in erster Linie darum geht, das Problem zu lösen, sondern die Linke zu diskreditieren.

Nur die Wahl zwischen schlecht und schlechter

Der zweite Grund, aus dem ich daran zweifle, dass die griechische Volksabstimmung endlich die Wende zum Besseren bringt, ist von grundsätzlicher Art – und tatsächlich habe ich auf diesem Blog darüber bereits vor fast vier Jahren geschrieben, als es noch um das Referendum von Giorgos Papandreou ging.

Einfach ausgedrückt besteht er darin, dass die Griechen am Sonntag nur die Wahl zwischen einer schlechten und einer noch schlechteren Option haben. Eine Ablehnung der Kreditgeber-Vorschläge würde sich rein destruktiv auswirken: Auch wenn Tsipras derzeit etwas anderes behauptet, wäre die Folge wohl der Austritt aus der Eurozone – was fatale Auswirkungen auf die griechische Wirtschaft hätte, aber auch die europäische Währungsunion selbst politisch schwer beschädigen würde.

Aber auch wenn sich die Griechen mehrheitlich für das Ja entscheiden, wird daraus nicht unbedingt die notwendige soziale Akzeptanz für neue Steuererhöhungen, Sozialkürzungen und Strukturreformen erwachsen. Denn die Vorschläge, über die sie abstimmen, bleiben am Ende eben doch ein von außen, nämlich von den Kreditgebern auferlegtes Programm. Das Referendum bietet damit letztlich nur die Wahl zwischen „friss oder stirb“. Ob das Ergebnis dieser Entscheidung wirklich die notwendige Überzeugungskraft entfalten kann, um dauerhaft den Frust der griechischen Bevölkerung zu überwinden und die Krise zu lösen?

Eine überstaatliche Währungsunion braucht überstaatliche Demokratie

Letztlich zeigt die Debatte über das Referendum wieder einmal, dass eine überstaatliche Währungsunion mit rein nationalen demokratischen Verfahren einfach nicht legitimiert werden kann. Auch wenn es für Alexis Tsipras der beste Weg sein mag, um eine Kurskorrektur einzuleiten, ohne offen seine Wahlversprechen zu brechen, eröffnet die Volksabstimmung den Griechen selbst nahezu keine eigene Gestaltungsmöglichkeit. Wenn die einzige Möglichkeit, nicht dem Kurs der Kreditgeber zu folgen, darin besteht, die Währungsunion zu verlassen, dann wird dadurch nur umso bitterer deutlich, dass es für die Bürger innerhalb der Währungsunion eben keine Hoffnung auf eine demokratische Auswahl zwischen Alternativen gibt.

Ginge es anders? Natürlich – aber nur, indem man die demokratischen Verfahren vom Nationalstaat löst und auf die europäische Ebene überträgt. Will man für wirtschaftspolitische Maßnahmen öffentliche Zustimmung erzeugen, dann darf man sie nicht erst der Bevölkerung vorlegen, wenn die einzige Alternative dazu schon der Zerfall der Währungsunion ist. Stattdessen müsste schon ihre Aushandlung in einem direkt gewählten Gremium erfolgen: dem Europäischen Parlament.

Natürlich werden wir niemals erfahren, wie die Lösung der Griechenland-Krise ausgesehen hätte, wenn sie nicht die Form eines Memorandum of Understanding zwischen den nationalen Regierungen, sondern eines rechtlich bindenden Beschlusses der Fraktionen im Europäischen Parlament angenommen hätte. Der Umstand, dass die europäischen Parteien anders als die Regierungen nicht nur jeweils einer nationalen Bevölkerung, sondern allen europäischen Bürgern verantwortlich sind, lässt jedoch erwarten, dass sie einen besseren oder wenigstens für die Öffentlichkeit akzeptableren Interessenausgleich gefunden hätten. Und ziemlich sicher hätten sie uns die Hängepartie erspart, die die Eurozone in diesen Tagen erlebt.

Hoffen wir, dass sie sie unversehrt und wohlbehalten übersteht.

Bild: Lorenzo Gaudenzi (Alexis Tsipras @ Piazza Maggiore) [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Kommentare sind hier herzlich willkommen und werden nach der Sichtung freigeschaltet. Auch wenn anonyme Kommentare technisch möglich sind, ist es für eine offene Diskussion hilfreich, wenn Sie Ihre Beiträge mit Ihrem Namen kennzeichnen. Um einen interessanten Gedankenaustausch zu ermöglichen, sollten sich Kommentare außerdem unmittelbar auf den Artikel beziehen und möglichst auf dessen Argumentation eingehen. Bitte haben Sie Verständnis, dass Meinungsäußerungen ohne einen klaren inhaltlichen Bezug zum Artikel hier in der Regel nicht veröffentlicht werden.