19 März 2015

Schäuble vs. Varoufakis, oder: Warum der Streit um Griechenland immer schriller wird

„Sympathien und Antipathien in Betreff auswärtiger Mächte und Personen vermag ich vor meinem Pflichtgefühl im auswärtigen Dienste meines Landes nicht zu rechtfertigen, weder an mir noch an Andern; es ist darin der Embryo der Untreue gegen den Herrn oder das Land, dem man dient.“
Otto von Bismarck, Brief an Leopold von Gerlach, 1857

Yanis Varoufakis (Syriza/EL) teilt nicht die Überzeugungen der Großen Koalition. Aber warum fällt es der EU so schwer, damit umzugehen?
So viel öffentlichen Streit gab es selten in der Geschichte der europäischen Integration. Tatsächlich nahmen die Spannungen zwischen der neuen griechischen Regierung unter Alexis Tsipras (Syriza/EL) und den übrigen europäischen Spitzenpolitikern ihren Anfang schon Ende 2014, als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) offen vor einem „falschen Wahlergebnis“ in Griechenland warnte. Wenig später brachten die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble (beide CDU/EVP) für den Fall eines Syriza-Siegs den griechischen Euro-Austritt ins Gespräch. Nach der Wahl im Januar schließlich erschreckten Tsipras und sein Finanzminister Yanis Varoufakis (Syriza/EL) ihre europäischen Partner erst einmal mit Vetodrohungen gegen die gemeinsamen Russland-Sanktionen und einem Rauswurf der Troika und mit der Forderung nach Rückzahlung einer deutschen Zwangsanleihe aus dem Zweiten Weltkrieg – ehe es Ende Februar dann doch zu einem im Grunde nicht allzu überraschenden Kompromiss über die Verlängerung des laufenden Reformprogramms kam.

Immer schrillere Verbalgefechte

Die eigentliche Eskalation aber kam erst hinterher: Von einer Karikatur in der Syriza-Parteizeitung, die Schäuble als Wehrmachtsoffizier zeigte, distanzierten sich Tsipras und Varoufakis zwar öffentlich. Ansonsten aber gab es rhetorisch bald kein Halten mehr. Schon Ende Januar bezeichnete Varoufakis die Sparauflagen des Reformprogramms als „finanzielles Waterboarding“; worauf Schäuble erwiderte, ihm täten „die Griechen leid“, die sich eine solch „unverantwortliche“ Regierung gewählt hätten.

Anfang März mokierte sich der Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans (PvdA/SPE) vor laufenden Kameras über Varoufakisʼ Kleidungsstil. Wenig später berichteten griechische Medien, dass Schäuble in einem nicht-öffentlichen Gespräch Varoufakisʼ Kommunikation als „dümmlich-naiv“ bezeichnet habe, woraufhin der griechische Botschafter in Berlin förmlich Protest einlegte. Gleichzeitig erinnerte der griechische Verteidigungsminister Panos Kammenos (ANEL/AECR) an Schäubles Verwicklung in den CDU-Parteispendenskandal der 1990er Jahre, was den deutschen Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD/SPE) veranlasste, von der griechischen Regierung (aber nur von dieser) einen „anständigen Umgangston“ einzufordern. Zuletzt stellte Schäuble noch einmal klar, dass die Griechen „alles Vertrauen zerstört“ hätten. Und dann ist da, natürlich, auch noch die Sache mit dem Stinkefinger.

Wenn in den letzten Tagen immer wieder von einem möglichen „Grexident“ (also einem quasi-versehentlichen Austritt Griechenlands aus der Währungsunion) die Rede ist, dann vor allem wegen dieser immer schrilleren Verbalgefechte, die freilich von den Medien beider Länder begleitet und teilweise kräftig angeheizt wurden. Warum aber diese Eskalation, wo es doch in der Sache – dem Umgang mit den griechischen Staatsschulden – kaum etwas Neues gibt und die möglichen Kompromisslinien auf der Hand liegen? Warum fällt es der alten Konsensmaschine EU so schwer, auch mit der Syriza-Regierung funktionierende Gesprächskanäle zu etablieren?

Persönlich-kulturelle Unterschiede

Eine erste, einfache Erklärung sind natürlich die persönlich-kulturellen Unterschiede zwischen den Beteiligten – besonders zwischen den beiden Finanzministern, die in den letzten Wochen am deutlichsten als Streithähne in Erscheinung traten. Auf der einen Seite steht dabei Schäuble, 72 Jahre alt, aus konservativem Elternhaus, juristische Promotion an der Universität seiner Geburtsstadt Freiburg im Breisgau, seit 50 Jahren Mitglied der CDU, seit 42 Jahren Abgeordneter des Deutschen Bundestags, seit 31 Jahren fast durchgängig in politischen Spitzenämtern, Mitglied in einem guten Dutzend Kuratorien und Stiftungsräten und Träger etwa ebenso vieler Verdienstorden: geradezu der Inbegriff des deutschen politischen Establishments.

Auf der anderen Varoufakis, fast zwanzig Jahre jünger als Schäuble, Sohn eines politischen Gefangenen unter der griechischen Militärdiktatur, Anfang zwanzig zum Wirtschaftsstudium nach Großbritannien ausgewandert, später Hochschullehrer in Sydney, Austin und Athen, griechisch-australischer Doppelstaatler, stilbewusst, verheiratet mit einer erfolgreichen Künstlerin, Blogger und kritischer Kommentator der europäischen Krisenpolitik, schließlich selbst politischer Seiteneinsteiger.

Varoufakisʼ drastische Sprache und Gestik

Sich diese unterschiedlichen Hintergründe bewusst zu machen, kann helfen, um gewisse Missverständnisse zu vermeiden. So kann man von einem mit allen Wassern gewaschenen Politiker wie Schäuble annehmen, dass er recht klare Vorstellungen von der politischen Wirkung seiner Worte hat: Er hat gelernt, nach bestimmten Regeln zu kommunizieren und geht davon aus, dass auch seine Gesprächspartner sich an diese halten. Varoufakis hingegen hatte (wie das gesamte Tsipras-Kabinett) bis zum Januar keinerlei Regierungserfahrung; als Dozent, Buchautor und Vortragsredner lebte er vor allem von öffentlicher Aufmerksamkeit. Ist es verwunderlich, dass er sich dabei eine bildkräftigere und drastischere Sprache angewöhnt hat?

Selbst der zuletzt vieldiskutierte Stinkefinger scheint weitaus weniger spektakulär, wenn man sich die entsprechende Rede von 2013 im Original ansieht (deutsches Transkript hier): Man sieht dann einen lebhaft gestikulierenden Varoufakis, der erklärt, dass ein griechischer Staatsbankrott 2010 vor allem Deutschland Probleme bereitet hätte – und sich dabei ganz offensichtlich mehr Gedanken darüber macht, wie er seinem Publikum die ökonomischen Zusammenhänge veranschaulichen kann als wie seine Handbewegung zwei Jahre später in deutschen Talkshows kommentiert werden wird. Dass Varoufakis das Video am vergangenen Sonntag spontan für ein Fake hielt, erscheint da gar nicht so unglaubwürdig: Vermutlich hatte er selbst schon nach wenigen Minuten wieder vergessen, dass er die Geste je gemacht hatte.

Parteipolitische Gegensätze

Nun sind solche Kultur- und Stilunterschiede aber natürlich nichts Ungewöhnliches in der europäischen Politik, und eigentlich sollten die Regierungen der Mitgliedstaaten längst gelernt haben, damit umzugehen. Dass um Tsipras und seine Leute dennoch die Wellen so hoch schlagen, lässt sich deshalb nur mit einem weiteren Faktor erklären: nämlich die parteipolitischen Gegensätze.

Bekanntlich gehören fast alle der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat derzeit einer der drei Parteien der politischen Mitte an, die auch die Europäische Kommission stellen und im Europäischen Parlament seit vielen Jahren eine informelle Große Koalition bilden: die christdemokratische EVP, die sozialdemokratische SPE und die liberale ALDE. Die einzigen Ausnahmen bilden der Brite David Cameron (Cons./AECR) – und eben Alexis Tsipras als einziger Vertreter der Europäischen Linkspartei.

Profilierung gegen den Diskurs der Alternativlosigkeit

Die Mitglieder dieser Großen Koalition, die alle EU-Institutionen dominiert, vertreten nicht immer dieselben Positionen. Sie haben inzwischen aber gut etablierte Formen für die Aushandlung von Kompromissen gefunden, und ihre gemeinsame Linie bestimmt dadurch im Wesentlichen, was in Europa als „konsensuell“ oder gar „alternativlos“ gilt. In der Eurokrise etwa setzten sowohl EVP- als auch SPE-Regierungen unpopuläre Sparmaßnahmen oft auch gegen Mehrheiten in den eigenen Ländern um – unter Verweis auf die Brüsseler Kompromisse, an die man sich nun einmal zu halten habe.

Dieser großkoalitionäre Diskurs der Alternativlosigkeit ist es, gegen den sich die Europäische Linke in den letzten Jahren mit teils drastischer Rhetorik profilieren konnte, und zwar nicht nur in Griechenland, sondern auch in anderen Krisenländern. Neben dem Schäuble-Varoufakis-Streit war der Hauptkonflikt der letzten Tage bezeichnenderweise eine Auseinandersetzung zwischen Tsipras und dem spanischen Ministerpräsidenten Mariano Rajoy (PP/EVP), dem Tsipras vorwarf, gezielt auf ein Scheitern der griechischen Verhandlungen hinzuarbeiten.

Im Gegensatz zu Tsipras passte sich Rajoy nach seinem Wahlsieg 2011 sehr schnell an die Erwartungen aus Brüssel und Berlin an und opferte dafür innerhalb weniger Wochen zentrale Punkte seines Wahlprogramms. Inzwischen steht er jedoch auf nationaler Ebene durch die neue Linkspartei Podemos unter Druck, die bei der nächsten spanischen Wahl Ende dieses Jahres stärkste Kraft werden könnte. Wenn Tsipras mit seinem Wunsch nach einer Neuausrichtung des Reformprogramms Erfolg hat, wäre Rajoy also doppelt brüskiert: Sein Nachgeben 2011 wäre sinnlos gewesen – und die Wahlversprechen von Podemos gewönnen an Plausibilität.

Syriza ist auf die nationale Wählergunst angewiesen

Auf der anderen Seite führt die Außenseiterrolle der Europäischen Linken aber auch bei Syriza zu einem radikaleren Auftreten. Wie der US-Ökonom Paul Krugman (in Anlehnung an Matthew Yglesias) jüngst auf seinem Blog analysierte, können Politiker der etablierten Mitte-Parteien unpopuläre Reformen auch deshalb so gut beschließen, weil sie sich dadurch in den diversen internationalen Gremien und Organisationen einen persönlichen Ruf als durchsetzungsstarke Führungskraft erwerben – und deshalb nach einer möglichen Abwahl in der Regel weich fallen.

Tsipras und seine Minister hingegen sind im internationalen Establishment deutlich schlechter vernetzt und könnten deshalb nach einer Wahlniederlage eher nicht mit einem interessanten Posten bei einer internationalen Organisation rechnen. Sie sind deshalb stärker darauf angewiesen, von ihren Wählern gemocht zu werden, und können nicht für ihre internationale Reputation ihre Glaubwürdigkeit auf nationaler Ebene aufs Spiel setzen.

Das tiefere Problem ist systemisch

Aber gut: Auch Gegensätze zwischen etablierten Parteien und Newcomern hat es immer wieder gegeben. Solange dabei niemand den Boden demokratischer Prinzipien verlässt, sollte ein politisches System eigentlich in der Lage sein, solche Konflikte zu verarbeiten, ohne dabei an den Rand des Zusammenbruchs zu geraten, wie er jetzt in Form des „Grexident“ diskutiert wird. Was hat die EU, dass ihr der Umgang mit Alternativen zur Großen Koalition so schwerfällt?

Das tiefere Problem hinter dem jüngsten Streit ist, denke ich, systemisch: Es besteht darin, dass die EU heute in ihrer Funktionsweise auf ungesunde Weise Merkmale der Diplomatie mit Merkmalen der Parteidemokratie vermengt.

Diplomatie und Parteidemokratie

Die traditionelle Diplomatie zwischen souveränen Staaten folgt dabei jener Maxime Bismarcks, die am Anfang dieses Artikels steht: Angesichts der unabwendbaren Tatsache, dass die übrigen Staaten nun einmal existieren, bemühen sich Diplomaten bei der Verfolgung ihrer nationalen Interessen um Nüchternheit und Emotionslosigkeit. Im Mittelpunkt steht nur das Ziel, durch immer neue Kompromisse dem jeweils eigenen Land bestmöglich zu nutzen. Auf das Ausdiskutieren von Wertefragen können sie hingegen verzichten, einfach weil die klassische Außenpolitik sich nur auf einen sehr geringen Ausschnitt des menschlichen Lebens erstreckt.

Die Parteiendemokratie hingegen berührt alle Bereiche des politischen Zusammenlebens. Daher haben Parteien auch die Aufgabe, die unterschiedlichen Werte und Weltbilder, die es in einer Gesellschaft gibt, zu repräsentieren – und, wo nötig, auch in scharfen Kontrast zueinander zu stellen. Wo Diplomaten nüchtern und sachlich sind, dürfen, ja müssen Parteipolitiker zuspitzen, um den Emotionen ihrer Wähler gerecht zu werden. Dafür ist eine Parteiendemokratie am Ende nicht zwingend auf Kompromisse angewiesen: Durch Wahlverfahren erzeugt sie Mehrheiten und Minderheiten und verteilt die Rollen zwischen Regierung und Opposition – allerdings immer nur auf Zeit, sodass ein lebendiges Wechselspiel von Alternativen erhalten bleibt.

Das Paradox wäre überwindbar

Die europäische Währungsunion greift nun einerseits so tief in die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Mitgliedstaaten ein, dass sie zwangsläufig zu einem parteipolitisch diskutierten Thema werden muss. Es ist kein Skandal, sondern sogar wünschenswert, wenn sich EVP und EL darüber streiten. Andererseits bietet die EU aber keine hinreichenden demokratischen Mechanismen, um die parteipolitischen Gegensätze aufzulösen: Die zentralen Entscheidungen, wie es mit dem griechischen Kredit- und Reformpaket weitergeht, fallen eben nicht in den gemeinsam gewählten europäischen Institutionen, sondern werden nach außenpolitisch-diplomatischen Verfahren zwischen den nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten ausgehandelt.

Schäubles Große Koalition und Varoufakisʼ linke Außenseiter sind deshalb gezwungen, immer wieder zu Kompromissen zu finden – obwohl sie doch gleichzeitig ihre demokratische Legitimation gerade daraus beziehen, dass sie für entgegengesetzte Überzeugungen und Weltbilder stehen. Dass dieses Paradox im Ergebnis zu einem immer schrilleren Stil der politischen Auseinandersetzung führt, kann nicht verwundern.

Überwinden ließe es sich natürlich, indem man die Entscheidungshoheit über die europäische Wirtschaftspolitik von den nationalen Regierungen auf das Europäische Parlament überträgt. Das Spannungsverhältnis zwischen Diplomatie und europäischer Parteiendemokratie würde dadurch zugunsten der Letzteren aufgelöst; und bei der Europawahl hätten die Bürger es selbst in der Hand, wie sie die Macht zwischen den Parteien verteilen. Einstweilen aber wird das Feiglingsspiel um Griechenland wohl weitergehen. Und damit auch die Sorge vor dem „Grexident“, den niemand will.

Bild: By EU Council Eurozone [CC BY-NV-ND 2.0], via Flickr.

1 Kommentar:

  1. Die Analyse finde ich sehr gut, der Lösungsvorschlag geht an der Wirklichkeit der Menschen in Europa derzeit noch vorbei. Zumindest ist meine Wahrnehmung die, daß nationales Denken eine gesamteuropäische Perspektive meistens überwiegt sowohl bei den meisten Politikern aber auch den meisten Bürgern Europas. Wie könnte ein behutsamerer Weg zu einer Stärkung der europäischen Identität und Zivilgesellschaft aussehen, die mit nachhaltigen Lösungen für die anstehenden Probleme in Europa kompatibel ist? Wenn Europa in der Währungsfrage die Erfahrung machen könnte, daß es einen Schritt zurück machen könnte, ohne auseinanderzufliegen, daß zum Beispiel Griechenland Teil der EU bliebe auch wenn es wieder die Drachme einführen würde und wenn in Südeuropa nach einer Reform des Währungssystems endlich wieder viele Arbeitsplätze entstünden, dann könnte Europa politisch aud der Ebene der Bürger ein nachhaltiges Selbstbewusstsein entwickeln und zum Beispiel das Europäische Parlament zu einer vollwertigen europäischen Legislative ausbauen innerhalb klarer vertikaler Gewaltenteilung mit den nationalen, regionalen und kommunalen Parlamenten.

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