Der
Parteitag, auf dem die AfD jüngst ihr Europawahlprogramm
verabschiedet hat, war von
einer Grundsatzdebatte über die Haltung zur Europäischen Union
geprägt: Soll die AfD für einen schnellen Austritt Deutschlands
aus dem Staatenverbund eintreten? Während der hart rechte Flügel es
mit dieser „Dexit“-Forderung zunächst in den Leitantrag (und in
die Medien) schaffte, bemühte sich die Parteispitze um
Abwiegelung. Schließlich beschloss der Parteitag, den Dexit nur noch
als Ultima Ratio in Erwägung zu ziehen und sich stattdessen für
eine „Reform“ der EU einzusetzen – eine Reform freilich, bei der die EU von einer supranationalen zu
einer rein zwischenstaatlichen Organisation zurückgestutzt werden,
ihre Gesetzgebungskompetenz verlieren und das Europäische Parlament
abgeschafft und durch eine Versammlung nationaler Delegierter
abgelöst werden soll.
Nun
könnte man diesen parteiinternen Streit zwischen Austritt und
„Reform“ als eine bloße Gespensterdebatte abtun: Weder auf
nationaler noch auf europäischer Ebene ist zu erwarten, dass die AfD
in absehbarer Zeit so viel politische Macht erringt, dass sie solche
radikalen Forderungen umsetzen könnte. Doch die AfD ist nicht allein, und ihre Debatte fügt sich in eine Entwicklung ein, die der
Londoner Historiker und Europawissenschaftler Alexander Clarkson
jüngst in
einem Politico-Gastbeitrag
beschrieben hat: Nicht nur in Deutschland, auch in vielen anderen
Mitgliedstaaten geben sich rechtspopulistische und rechtsextreme
Parteien nicht mehr einfach nur als Europagegner, sondern versuchen
die Europäische Union nach ihren eigenen Vorstellungen
umzugestalten.
Das „wahre Europa“ gegen die supranationale EU
Rhetorisch
zeigte sich diese geänderte Linie etwa im vergangenen Oktober bei
einem Treffen zwischen dem italienischen Innenminister Matteo Salvini
(Lega/BENF) und der französischen Rechtsaußenpolitikerin Marine Le
Pen (RN/BENF). Bei der anschließenden Pressekonferenz betonte
Le Pen, sie kämpften nicht „gegen Europa, sondern gegen die
Europäische Union“, vor der es „das wahre Europa“ zu retten
gelte. Salvini wiederum beschimpfte Kommissionschef Jean-Claude
Juncker (CSV/EVP) und Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici (PS/SPE)
als „Feinde Europas“.
Vor
einigen Tagen wiederum bezeichnete
Salvini nach einem Treffen mit dem polnischen Innenminister
Joachim Brudziński (PiS/AKRE) die polnische und die italienische
Regierung als „Teil eines neuen Frühlings in Europa“. Brudziński
selbst kündigte an, sie wollten „die EU so reformieren, dass sie
den Bürgern näher ist als den Eliten“. (Dass damit insbesondere
die Schwächung der Europäischen Kommission gemeint war, die in den
letzten Monaten verstärkt
gegen die Angriffe der polnischen Regierung auf die
Rechtsstaatlichkeit vorgegangen ist, bedurfte keiner weiteren
Erklärung.)
Und
der damalige österreichische Oppositionsführer und heutige
Innenminister Heinz-Christian Strache (FPÖ/BENF) erklärte schon
2016 in
einem Facebook-Eintrag: „Wir [EU-Kritiker] müssen Europa sein
und nicht die EU-Zentralisten!“, und forderte deshalb eine
„europäische Reform und ein neues und bürgernahes Europa der
föderalen Vaterländer“.
„Proeuropäisch“ nannten sich bisher nur die Mitte-Parteien
Dass
sich hinter dem Schlagwort einer „EU-Reform“ auch das Ziel einer
Renationalisierung und einer Schwächung der europäischen
Institutionen verbergen kann, ist nichts ganz Neues. Vor allem im
Europadiskurs der großen britischen Parteien war dieser Topos allgegenwärtig, ehe sich mit dem
Brexit-Referendum 2016 doch die Austrittsforderung der radikalen UKIP
durchsetzte. Die Fraktion
der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR), an deren
Gründung die britischen Tories 2009 maßgeblich beteiligt waren, hat
das Schlagwort sogar in ihrem Namen übernommen.
Auf
dem europäischen Kontinent spielte diese Idee einer europäischen
„Reform“ von rechts hingegen lange Zeit nur eine untergeordnete
Rolle. Die europapolitischen Konfliktlinien fielen hier in der Regel
klarer aus: Als „proeuropäisch“ bezeichneten sich bislang meist
nur die Parteien der politischen Mitte, die die grundlegenden
Prinzipien der EU – etwa den supranationalen Charakter ihrer
Institutionen, den Anwendungsvorrang des Europarechts oder die vier
Grundfreiheiten des Binnenmarkts – anerkannten und auf eine „immer
engere Union“ hinarbeiten wollten.
Rechtspopulisten
und Rechtsextreme beschränkten sich hingegen darauf, das Loblied auf
den starken, souveränen Nationalstaat zu singen, dessen „Freiheit“
(so das gemeinsame Schlagwort im Namen der beiden anderen
Rechtsfraktionen im Europäischen Parlament, ENF
und EFDD)
durch die europäische Einigung gefährdet sei. Allenfalls bei der
globalisierungskritischen Linken fand sich auch die ambivalente
Forderung nach einem „anderen Europa“ – wobei allerdings meist
offen blieb, was damit institutionell eigentlich genau gemeint war.
Der Brexit macht Austrittsforderungen unattraktiv
Wie
aber ist es zu erklären, dass nun auch die Rechtsaußen-Parteien
Europa für sich entdecken – und handelt es sich dabei nur um eine
rhetorische Taktik, oder verbirgt sich dahinter auch eine neue
Strategie? Vor allem drei Faktoren scheinen mir hier eine Rolle zu
spielen, von denen sich zwei mehr oder weniger zufällig aus den
gegebenen Umständen heraus ergeben und vor allem auf eine taktische
Anpassung hinweisen. Der dritte hingegen ist struktureller Art und
macht einen längerfristigen Strategiewechsel der europäischen
Rechten plausibel.
Der
erste dieser Faktoren ist die britische Erfahrung. Im Umfeld des
Referendums 2016 war immer wieder von einem möglichen Domino-Effekt
die Rede, durch den der Brexit europaweit den Europagegnern Auftrieb
verleihen und den Austritt noch weiterer Länder nach sich ziehen
könnte. Eingetreten ist das Gegenteil: Schon vor dem eigentlichen
Austritt schwächte der Brexit nicht
nur die britische Wirtschaft, sondern führte auch zu
einer politischen Krise, die die Idee einer souveränen
nationalen Demokratie ad absurdum führte. Parallel dazu
stiegen die europaweiten
Zustimmungswerte zur EU im Eurobarometer 2018 auf den höchsten
Stand seit mehreren Jahrzehnten. Es ist daher auch für
rechtsnationale Parteien taktisch naheliegend, die Forderung nach
einem EU-Austritt gerade eher nicht in den Vordergrund zu stellen.
Ausgrenzende europäische Identitätskonstruktionen
Ein
zweiter Faktor ist die zentrale Rolle, die die Asyl- und
Einwanderungspolitik in
den letzten Jahren erhalten hat. Noch bis 2014 wurde die
europapolitische Auseinandersetzung von der Eurokrise dominiert –
ein Thema, das (insbesondere im Diskurs rechter Parteien) von harten
ökonomischen Interessengegensätzen zwischen den EU-Mitgliedstaaten
geprägt war. In der Migrationsdebatte seit 2015 gelten hingegen
nicht die anderen EU-Länder, sondern Menschen aus nicht-europäischen
Ländern als die „Anderen“.
Zwar
gibt es insbesondere in der Frage der Umverteilung von Asylbewerbern
weiterhin auch nationale Interessengegensätze zwischen den
EU-Mitgliedstaaten. Doch dieses Thema verliert zunehmend an Bedeutung
gegenüber der Frage, wie die europäischen Außengrenzen geschützt
sein sollten – und hier treten die europäischen Rechten
länderübergreifend für eine stärkere Abschottung ein. Der
ursprünglich
kritisch gemeinte Begriff der „Festung Europa“ wird von
Politikern wie Strache,
Salvini,
Viktor Orbán (Fidesz/EVP) oder Jörg
Meuthen (AfD) nun positiv besetzt.
Die ausgrenzenden
Identitätskonstruktionen, die einen zentralen Bestandteil
rechtspopulistischer Politik ausmachen, funktionieren dadurch nicht
mehr nur national, sondern auch gesamteuropäisch. Womöglich ist es
deshalb nur noch eine Frage der Zeit, bis sich rechtspopulistische
Parteien auch das Schlagwort der „europäischen Souveränität“
aneignen, das der französische Staatspräsident Emmanuel Macron
(LREM) – wenn auch mit
anderer Intention – in die europapolitische Debatte eingebracht
hat.
Konsensstrukturen machten die EU erst zu schwerer Beute …
Doch
sowohl die abschreckende Erfahrung des Brexit als auch die für die
rechten Parteien gemeinschaftsstiftende Debatte über den Schutz der
europäischen Außengrenzen sind nur vorübergehende Umstände, die
schon bald neuen Themen weichen könnten. Auf eine dauerhafte
Veränderung in der Haltung der europäischen Rechten zur
Europäischen Union weist hingegen der dritte, strukturelle Faktor
hin: der wachsende Einfluss, den rechte Parteien auf die europäische
Politik erhalten, seitdem sie in mehreren Mitgliedstaaten die
Regierungsmacht übernommen haben.
Dass
rechte Parteien mit der europäischen Einigung bislang wenig
anzufangen wussten, liegt nämlich nicht nur in ihrer
nationalistischen Tradition verankert, sondern hat auch
institutionelle Gründe: Im Vergleich zu den meisten demokratischen
Nationalstaaten sind die Verfahren der Europäischen Union sehr
konsensorientiert; Entscheidungen kommen in der Regel nur durch
breite Kompromisse sowohl zwischen den europäischen Parteien als
auch zwischen den nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten
zustande.
Diese
Konsensstrukturen machen eine schnelle Machtübernahme durch
politische Außenseiter unmöglich: Anders als auf nationaler Ebene
genügt in der EU ein einzelner Wahlsieg nicht, um große
Regierungsmacht zu gewinnen. Das ist ein
demokratisches Problem, macht die EU aber auch zu einer schweren
Beute für machthungrige Demagogen. Solange die rechtspopulistischen
Parteien auf eine Oppositionsrolle beschränkt waren, hatten sie
deshalb wenig Anreiz, sich konstruktiv in die europäische Politik
einzubringen. Stattdessen konzentrierten sie sich auf den Machtgewinn
auf nationaler Ebene und nutzten die EU nur rhetorisch als einfachen Buhmann.
… aber bieten den Rechtsparteien jetzt ein Einfallstor
Dieselben
Konsensstrukturen, die lange den Zugang rechter Parteien zur
europäischen Macht behindert haben, machen es aber auch schwer, sie
davon fernzuhalten, sobald sie erst einmal in einer nennenswerten
Zahl von Mitgliedstaaten stark geworden sind. Am einfachsten ist dies
noch im Europäischen Parlament: Auch wenn rechte Parteien bei der
Europawahl 2019 noch
einmal dazugewinnen dürften, wird es im Parlament weiterhin auch
ohne sie eine solide Mehrheit geben.
Hingegen
wird es im Ministerrat immer schwieriger, die für die europäische
Gesetzgebung notwendigen qualifizierten oder gar einstimmigen
Mehrheiten zu finden, ohne dabei auch rechte Regierungen
einzubeziehen. Und da in der Praxis jede nationale Regierung einen
Kommissar nominiert, wird es in der 2019 gewählten EU-Kommission
aller Voraussicht nach nicht nur Vertreter der ungarischen Fidesz,
sondern auch der PiS und vielleicht sogar der Lega oder der FPÖ
geben. Die Rechtsparteien gewinnen in der EU also an
institutioneller Macht – und haben damit einen wachsenden Anreiz,
diese Macht konstruktiv zu nutzen, um eigene politische Ziele zu
verwirklichen und ihre Vorstellungen einer illiberalen und
exkludierenden Gesellschaftsordnung auch auf europäischer Ebene
voranzutreiben.
Manfred Webers EVP gibt sich nach rechts offen
Die
Frage, wie weit man sich auf Kompromisse mit den Rechtsparteien
einlassen sollte, wird für die Parteien der Mitte deshalb zu einer
zentralen Herausforderung der nächsten Jahre. Die
christdemokratisch-konservative Europäische Volkspartei hat sich
unter ihrem Spitzenkandidaten Manfred Weber (CSU/EVP) für den Ansatz
des „Brückenbauens“ entschieden: Weber setzt nicht nur
parteiintern auf eine Einbindung
des rechten Flügels um den ungarischen Regierungschef Viktor Orbán.
Auch allgemein signalisierte er jüngst Bereitschaft für eine
Zusammenarbeit
mit allen Akteuren,
die „nicht fundamental gegen die EU“ sind, was aus Webers
Sicht die EKR-Fraktion und offenbar auch die polnische und die
italienische Regierung mit einschließt.
Eine
solche nach rechts offene Haltung mag auf den ersten Blick durchaus
pragmatisch erscheinen, um eine drohende Blockade europapolitischer
Entscheidungen durch die Rechtsparteien zu vermeiden. Dass diese sich
auf diese Weise dauerhaft einhegen lassen, sollte man jedoch nicht
hoffen: Sieht man von Fällen wie den finnischen Perussuomalaiset ab,
die seit ihrer Regierungsbeteiligung 2015 stark
in der Wählergunst zurückgingen und sich 2017 spalteten,
profitierten die europäischen Rechtsparteien bislang eher
davon, wenn die EU Konflikten aus dem Weg ging und sie frei gewähren
ließ.
Verankern sich die Rechtsparteien in den Institutionen der EU?
Gerade
für die institutionelle Fortentwicklung der EU und den weiteren
Ausbau der europäischen Demokratie, aber auch für die
Rechtsstaatlichkeit in Europa und für die völkerrechtsfreundliche
Rolle der EU in der Welt ist die neue „konstruktive“ Haltung der
europäischen Rechtsparteien deshalb wohl die größere Gefahr als
ihre frühere offene Ablehnung. Wenn sich die Rechtsparteien in den europäischen Institutionen verankern und ihre Vorstellungen zur „Reform“ der EU auch in der politischen Mitte
salonfähig werden, wäre das das Ende der europäischen Integration,
wie wir sie bisher kennen.
Die
Zeiten bleiben also stürmisch. Das Haupteinfallstor aber wird auch
in Zukunft nicht die Europawahl und das Europäische Parlament sein,
wo die Rechten nach wie vor weit von einer Mehrheit entfernt sind,
sondern die Macht der von ihnen kontrollierten nationalen Regierungen
im Rat. Wenn wir darüber nachdenken, wie sich Demokratie und
Rechtsstaat vor ihren Gegnern schützen lassen (siehe etwa diese
spannende Verfassungsblog-Debatte),
dann sollte uns das eine Lehre sein: Konsensstrukturen und eine
weitreichende Ebenenverflechtung machen eine Verfassungsordnung nicht
unbedingt resilienter, sondern können einer autoritären Minderheit
sogar als politischer Hebel dienen, sobald diese erst einmal eine
gewisse Größe erreicht hat.
Bild: Olaf Kosinsky [CC BY-SA 3.0 de], via Wikimedia Commons.
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