Entspricht das Verfahren zur Wahl des Europäischen Parlaments noch unseren
Erwartungen an eine europäische Demokratie? In einer losen Serie von
Gastartikeln antworten Vertreter aus Politik, Wissenschaft und
Zivilgesellschaft hier auf die Frage, wie sie sich ein besseres
Europawahlrecht vorstellen würden. Heute: Frank Decker, Politikwissenschaftler an der Universität Bonn. (Zum Anfang der Serie.)
- „Um eine europäische Öffentlichkeit und europaweit agierende Parteien herbeizuführen, bedarf es institutioneller Anreize.“
Parteien: im Parlament europäisch, bei der Wahl national
Die fehlende Europäisierung hat
einerseits mit der Kompetenzverteilung zwischen der europäischen und
nationalen Ebene zu tun. Nach wie vor mangelt es der EU an wichtigen
Zuständigkeiten, und wo sie Zuständigkeiten besitzt, eignen sich
diese nur begrenzt für die parteipolitische Auseinandersetzung. Zum
anderen fehlt der EU ein gemeinsamer institutioneller Rahmen, in dem
eine solche Auseinandersetzung über die nationalen Grenzen hinweg
stattfinden könnte. Weder gibt es eine europäische politische
Öffentlichkeit noch europaweit agierende Parteien. Um beides
herbeizuführen, bedarf es entsprechender institutioneller Anreize.
Eine Schlüsselbedeutung gewinnt
dabei die Schaffung eines gemeinsamen, EU-einheitlichen Wahlrechts.
Dieser Verfassungsauftrag gemäß Art.
223 Abs. 1 AEUV hätte eigentlich längst erfüllt werden müssen. Weil das nicht
geschehen ist, besteht in der EU die paradoxe Situation, dass die
europäischen Parteien zwar den Parlamentsbetrieb bestimmen, bei den
Europawahlen aber nach wie vor nur die nationalen Herkunftsparteien
kandidieren. Die Einführung eines europaweiten Verhältniswahlsystems
mit moderater Sperrklausel würde diesen Zustand beenden; die
Parteien hätten dann einen starken Anreiz, sich zusammenzuschließen
und gemeinsame Listen zu bilden. Dies käme auch der Arbeitsfähigkeit
des Parlaments zugute, indem es der heutigen starken Fragmentierung
(auch innerhalb der Fraktion) entgegenwirkt.
Wahlrechtsgrundsätze und
Wahlsystem
Im Folgenden sollen mögliche
Konturen eines EU-einheitlichen Wahlrechts aufgezeigt werden. Unter
das Wahlrecht fallen dabei zum einen die allgemeinen
Wahlrechtsgrundsätze und hier vor allem die Frage, wer in welcher
Form wählen darf, zum anderen das Wahlsystem. Dieses beschreibt als
Teil des umfassenderen Wahlrechts den Modus, nach dem „die Wähler
ihre Partei- und / oder Kandidatenpräferenz in Stimmen ausdrücken
und diese in Mandate übertragen werden“ (Dieter Nohlen). Bezogen
auf die allgemeinen Wahlrechtsgrundsätze geht es hier in erster
Linie um die Realisierung des Gleichheitsprinzips („one
man, one vote“).
Generell stellt sich die
Notwendigkeit einer Vereinheitlichung stärker im Bereich des
Wahlsystems als bei den allgemeinen Wahlrechtsregelungen. Diese
sollten deshalb ebenso in der Hand der Mitgliedstaaten verbleiben wie
die Modalitäten der Durchführung der Wahl. Das bedeutet, dass die
Mitgliedstaaten weiterhin abweichende Regelungen beim Wahlalter
(aktiv/passiv), bei der Freiheit der Wahl (Wahlpflicht), bei der
Dauer der Wahl (mehrere Tage oder nur ein Tag) und bei den Techniken
der Stimmabgabe (Urnenwahl, Briefwahl, sonstige) treffen können. Zu
überlegen wäre allenfalls, ob man nicht eine einheitliche
Schließungszeit der Wahllokale vereinbart (unter Berücksichtigung
der unterschiedlichen Zeitzonen), um mögliche Ausstrahlungseffekte
bereits vorliegender Wahlergebnisse auf andere Länder/Wahlgebiete zu
verhindern.
Die degressive
Proportionalität bleibt sinnvoll
Bei der Gestaltung des
Wahlsystems stellt sich zunächst die Frage nach dem Umgang mit den
heute bestehenden Länderkontingenten, die als Verletzung der
Wahlrechtsgleichheit insbesondere von rechtswissenschaftlicher Seite
immer wieder moniert werden. Die Sitzverteilung im Europäischen
Parlament orientiert sich bekanntlich am Grundsatz der degressiven
Proportionalität. Kleinere Länder werden so gegenüber den großen
begünstigt. Dies hat z. B. zur Folge, dass in Deutschland für
ein Mandat elfmal so viele Wählerstimmen benötigt werden wie in
Malta.
Will man den kleinen Ländern
eine faire Vertretungschance belassen, lässt sich eine solche
Verzerrung nicht vermeiden, es sei denn, man würde das ohnehin schon
große Parlament weiter aufblähen. Außerdem wird sie zum Teil
dadurch ausgeglichen, dass die unterschiedlichen Bevölkerungsgrößen
auch in den Abstimmungsregeln des Rates Berücksichtigung finden. Die
EU folgt also nicht dem Modell klassischer Zweikammersysteme wie der
USA oder der Schweiz, wo die eine Kammer strikt nach den
demokratischen und die andere nach dem föderativen
Gleichheitsprinzip zusammengesetzt ist, sondern „mischt“ die
Prinzipien in ihren beiden Kammern.
Eine Abkehr von den
Länderkontingenten scheint vor diesem Hintergrund weder geboten noch
wünschenswert. Auch eine Veränderung des Verteilungsschlüssels im
Sinne einer größeren Proportionalität wäre nicht ratsam.
Anpassung
der Sitzkontingente an die Wahlbeteiligung
Behandelt man die Länder als
abgeschlossene Wahlgebiete, wird das Problem der
Gleichheit/Ungleichheit allerdings durch die ungleiche
Wahlbeteiligung unter Umständen dramatisch verschärft. So machten
bei der Wahl im Mai 2014 in Belgien sieben Mal mehr Bürger von ihrem
Wahlrecht Gebrauch als in der Slowakei (90 gegenüber 13 Prozent).
Unabhängig vom Länderschlüssel wurden somit für ein belgisches
Mandat sieben Mal so viele Stimmen benötigt wie für ein
slowakisches.
Dem ließe sich entgegentreten,
wenn man die Sitzkontingente in Abhängigkeit von der Wahlbeteiligung
in den einzelnen Ländern nach oben oder nach unten anpasst. Länder
mit überdurchschnittlicher Wahlbeteiligung würden dann mehr, Länder
mit unterdurchschnittlicher Beteiligung weniger Sitze erhalten.
Länder mit einer Wahlpflicht wären von dieser Regelung auszunehmen.
Sie könnten ihre Sitzzahl also nur erhöhen, wenn sie auf die
Wahlpflicht verzichten. Mit der Variation der Sitzkontingente hätten
alle Länder einen starken Anreiz, für eine möglichst hohe
Wahlbeteiligung in den nationalen Wahlgebieten zu sorgen.
Nationale Wahllisten, aber mit transnationaler Sperrklausel
Die Wahl in den nationalen
Wahlgebieten erfolgt nach einem europaweit einheitlichen
Verhältniswahlsystem mit starren Listen. Der Wähler hätte also
auch künftig nur eine Stimme. Die Listen würden wie bisher von den
nationalen Parteiorganisationen nach den in den Mitgliedsländern
geltenden gesetzlichen Regelungen und Parteistatuten aufgestellt.
Bei der Mandatsvergabe würden
jedoch nur Parteien berücksichtigt, die europaweit mindestens 3
Prozent der Stimmen erhalten. Weil unter diesen Bedingungen
allenfalls große Parteien aus großen Mitgliedstaaten die Chance
hätten, aus eigener Kraft in das Parlament zu gelangen, wären die
Parteien dadurch gezwungen, sich europaweit zusammenzuschließen. Die
nationalen Parteien würden damit nur mehr als Teil bzw. territoriale
Gliederung einer europäischen Partei zu den Wahlen antreten, was auf
den Stimmzetteln entsprechend auszuweisen wäre.
Verkoppelung von Parlaments-
und Kommissionswahl
Die Europäisierung der Wahlen,
die mit der Herausbildung europäischer Parteien auf der elektoralen
Ebene einherginge, würde maßgeblich befördert, wenn man die
Parlamentswahlen mit der Bestellung der Europäischen Kommission und
ihres Präsidenten verkoppelt. Dies gilt unabhängig davon, ob der
Kommissionspräsident bzw. die Kommission aus dem Parlament
hervorgehen, ihre Bestellung also an den Ausgang der Parlamentswahlen
gebunden ist, oder ob sie jenseits der Parlamentswahlen in einem
eigenen Wahlakt direkt von den europäischen Bürgern gewählt
werden. Von wirklichen europäischen Wahlen kann erst gesprochen
werden, wenn die Bürger mit ihrer Wahl das Regierungspersonal
(mit)bestimmen und über die Grundrichtung der Regierungspolitik
(mit)entscheiden können.
Dies setzt europäische Parteien
voraus, die mit einem gemeinsamen Programm und gemeinsamen
Spitzenkandidaten für die Regierungsämter antreten. Unterhalb der
Spitzenkandidaten bleibt die Listenaufstellung in den Händen der
nationalen Parteien, was im Übrigen dem dezentralen Charakter der
Kandidatenaufstellung bei den Parlamentswahlen in den allermeisten
Mitgliedstaaten entspricht.
Ein europaweit einheitliches
Wahlsystem in dieser Form würde mit der heutigen Diskrepanz zwischen
dem Parteiensystem auf der parlamentarischen und elektoralen Ebene
Schluss machen. Die nationalen Parteien, die sich zu europäischen
Parteien zusammenschließen und als solche zu den Wahlen antreten,
würden dann nach den Wahlen im Parlament auch die Fraktionen bilden.
Durch die niedrige Sperrklausel wäre weiterhin mit sechs, sieben
oder acht Fraktionen im Parlament zu rechnen, was jedoch keinen
großen Unterschied zu der Situation in den meisten nationalen
politischen Systemen darstellen würde.
Frank Decker ist Professor am
Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität
Bonn. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Parteien,
Föderalismus und Demokratiereform.
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Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten, wie sollte es dann aussehen? – Artikelübersicht
1: Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten – wie sollte es dann aussehen?
2: Transnationale Listen: Wie aus 28 nationalen Wahlen eine europäische wird ● Jo Leinen
3: Wie ein einheitliches Wahlsystem die europäischen Parteien stärken und die Legitimation der EU erhöhen könnte ● Frank Decker
4: Transnationale Listen und zwei Kompromisse für das Wahlsystem der Europawahl 2019 (EN/DE) ● Andrew Duff
5: Wie wollen wir in der Europäischen Union wählen? Jedes Land für sich und ungleich? ● Tim Weber
6: Transnationale Listen und ein europäischer Senat: Vorschlag für eine Wahlrechtsreform für Europa ● Christian Moos
7: Wie ich mir ein besseres Europawahlrecht vorstelle ● Manuel Müller
8: Die Europawahl 2014 neu berechnet: Das Bundestagswahlrecht als Blaupause für ein einheitliches Europawahlrecht? ● Michael Kaeding
1: Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten – wie sollte es dann aussehen?
2: Transnationale Listen: Wie aus 28 nationalen Wahlen eine europäische wird ● Jo Leinen
3: Wie ein einheitliches Wahlsystem die europäischen Parteien stärken und die Legitimation der EU erhöhen könnte ● Frank Decker
4: Transnationale Listen und zwei Kompromisse für das Wahlsystem der Europawahl 2019 (EN/DE) ● Andrew Duff
5: Wie wollen wir in der Europäischen Union wählen? Jedes Land für sich und ungleich? ● Tim Weber
6: Transnationale Listen und ein europäischer Senat: Vorschlag für eine Wahlrechtsreform für Europa ● Christian Moos
7: Wie ich mir ein besseres Europawahlrecht vorstelle ● Manuel Müller
8: Die Europawahl 2014 neu berechnet: Das Bundestagswahlrecht als Blaupause für ein einheitliches Europawahlrecht? ● Michael Kaeding
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