Das
Wohlergehen der Demokratien, von welcher Art und Form sie auch seien, hängt von einem erbärmlichen technischen Detail ab: dem Wahlverfahren. Alles andere ist zweitrangig.
José
Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen
- Ein Kreis, ein Kreuz und fertig? Vom Europawahlverfahren hängt auch die Zukunft der europäischen Demokratie ab.
Dass die Wahlen in einer repräsentativen Demokratie der
zentrale politische Legitimationsmechanismus sind, ist ein Gemeinplatz. Bei der Wahl entscheiden die Bürger
darüber, welche Politiker in den staatlichen Institutionen einen
Sitz einnehmen sollen, und da die Kandidaten mit jeweils
unterschiedlichen Programmen antreten, geht mit der Entscheidung über
die Personen auch eine über die politischen Inhalte einher. Nur
durch ihre Abwählbarkeit sind die politischen Machthaber gezwungen,
sich vor den Beherrschten zu verantworten; erst durch die Wahl werden
sie zu „Volksvertretern“, die den Anspruch erheben können, die
Interessen jener anonymen, imaginären Gemeinschaft zu
repräsentieren, von der nach demokratischen Vorstellungen alle
politische Gewalt ausgeht.
Das perfekte Wahlrecht
gibt es nicht
Angesichts dieser
zentralen Bedeutung der Wahl ist natürlich auch das Verfahren
wichtig, nach denen sie stattfindet. Nur wenn die Bürger durch eine
Wahl auch wirkliche Veränderungen herbeiführen können, werden sie
sie als Legitimationsmechanismus auch ernst nehmen, und nur wenn die
Wahl bestimmten Gerechtigkeitskriterien entspricht, werden auch die
Unterlegenen ihr Ergebnis akzeptieren. Damit Wahlen überhaupt einen
demokratischen Sinn haben, muss das Wahlrecht bestimmten Ansprüchen
genügen.
Das eine, perfekte
Wahlrecht aber gibt es nicht. Das liegt nicht nur daran, dass etliche
real verbreitete Wahlverfahren logische
Paradoxien aufweisen: Vielmehr ist es schlicht unmöglich, die
millionenfache Vielfalt der Gesellschaft in einem kleinen Parlament
aus wenigen hundert Menschen auf „objektiv richtige“ Weise
abzubilden. Politische Repräsentation ist eine Abstraktion – so
wie eine Landkarte, die ja auch niemals die „wirkliche“ Geografie
abbildet, sondern nur eine Abstraktion davon. Und so wie derselbe
Kontinent ganz unterschiedlich aussehen kann, je nachdem, ob man ihn
auf einer politischen
oder einer topografischen
Karte betrachtet, so kann je nach Wahlverfahren auch die
Volksvertretung ganz unterschiedlich beschaffen sein, ohne dass die
eine oder andere Option offensichtlich „besser“ oder „schlechter“
wäre als die andere.
Zielkonflikte bei
Wahlverfahren
Hinter der Idee einer
Volksvertretung steht die Notwendigkeit, die Komplexität politischer
Entscheidungen zu reduzieren. Wir Millionen Bürger können nicht
jedes Problem vollständig ausdiskutieren, und deshalb brauchen wir
Verfahren, die die Entscheidungsfindung vereinfachen. Die Wahl einer
repräsentativen Volksvertretung mithilfe von Kandidatenlisten und
Parteien ist so eine Vereinfachung.
Aber natürlich gehen mit
einer solchen Reduktion von Komplexität immer auch Zielkonflikte
einher: Wie wichtig ist zum Beispiel die regionale Ausgewogenheit des
gewählten Parlaments, wie wichtig sind Geschlechter- oder
Minderheitenquoten? Wie viel Vielfalt – etwa in Form von
Kleinparteien – kann ein Parlament aushalten, wenn es weiter
handlungs- und entscheidungsfähig bleiben soll? Wer soll überhaupt das Recht haben, zu kandidieren? Und welche Bedingungen soll man an die Parteien stellen, die Kandidatenlisten aufstellen dürfen? Die Vielzahl von demokratischen
Wahlsystemen, die man auf der Welt beobachten kann, geht unter
anderem darauf zurück, dass unterschiedliche Gesellschaften zu
unterschiedlichen Zeiten diese Fragen unterschiedlich beantwortet
haben.
Wahlverfahren auf den
Prüfstand stellen
Hinter der Entscheidung,
wie ein Wahlverfahren ausgestaltet werden soll, stehen also
Wertefragen, für die es keine einfachen Antworten gibt. Wahlsysteme
sind teils verfassungspolitische Kunstwerke, die konfliktgeladene
Gesellschaften befrieden und ein fragiles Gleichgewicht zwischen
widerstreitenden Interessen sichern sollen; teils sind sie schlicht
historisch gewachsen und das Resultat zweifelhafter Kompromisse oder
überkommener Machtstrukturen.
So oder so verdienen sie
es, regelmäßig auf den Prüfstand gestellt zu werden: Entsprechen
die Verfahren, nach denen wir unsere Parlamente wählen, noch unseren
Vorstellungen von politischer Repräsentation? Bilden sie unsere
Gesellschaft in einer Weise ab, die wir für angemessen halten?
Setzen sie den politischen Machthabern die richtigen Anreize für
eine verantwortungsvolle Regierungsführung? Wahlverfahren sind nicht
alles in einer Demokratie – aber ohne ein gutes Wahlverfahren ist
eine gute Demokratie fast unmöglich.
Der europäische
Direktwahlakt
Das Wahlverfahren für
das Europäische Parlament dürfte ein Musterbeispiel für ein
Wahlsystem sein, das seine Entstehung vor allem historischen Zufällen
verdankt. Gegründet wurde das Parlament 1952 als eine bloße
Parlamentarische Versammlung, in die die nationalen Parlamente der
Mitgliedstaaten jeweils eine bestimmte Anzahl Delegierte entsandten.
Und auch als diese Delegierten 1979 erstmals direkt gewählt wurden,
blieb man bei der Logik nationaler Sitzkontingente.
Bis heute regelt das
europäische Wahlgesetz, der sogenannte Direktwahlakt,
lediglich generelle Bestimmungen und einige Minimalanforderungen für
die Ausgestaltung der nationalen Wahlverfahren (hier
ein Überblick). Deren genaue Durchführung aber bleibt den
einzelnen Mitgliedstaaten überlassen, die dabei in der Regel auf
ihre sehr unterschiedlichen nationalen Traditionen zurückgriffen. Um
es in den Worten des deutschen Bundesverfassungsgerichts im
Lissabon-Urteil
(Rn. 286) zu sagen, handelt es sich beim Europäischen Parlament
deshalb nicht um eine echte europäische Volksvertretung – sondern
lediglich „um eine nur vermittelte Repräsentation der politischen
Machtlagen der Mitgliedstaaten“.
Fallstricke des
Europawahlrechts
Aber entspricht das
noch unseren Vorstellungen von einer europäischen
Demokratie? Tatsächlich wurden die zahlreichen Fallstricke und
inneren Widersprüche des Europawahlrechts in den letzten Jahren
immer wieder Thema
der öffentlichen Auseinandersetzung. Und auch in diesem Blog war
des Öfteren davon die Rede: etwa wenn es um die
Rechtmäßigkeit nationaler Sperrklauseln ging, um die
Zukunftsfähigkeit
der Parteiendemokratie oder schlicht darum, dass bei der
Europawahl 2014 die
Partei mit den meisten Stimmen nur die zweitstärkste Fraktion wurde.
Immerhin haben diese
Auseinandersetzungen auch das öffentliche Bewusstsein dafür
geschärft, dass die derzeitigen Regelungen des europäischen
Direktwahlakts auch geändert werden können. Die Initiative dafür
muss vom Europäischen Parlament ausgehen, das nach Art.
223 AEU-Vertrag „einen Entwurf der erforderlichen Bestimmungen
für die allgemeine unmittelbare Wahl seiner Mitglieder nach einem
einheitlichen Verfahren in allen Mitgliedstaaten oder im Einklang mit
den allen Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundsätzen“ erstellt.
Wie könnte ein
besseres Europawahlverfahren aussehen?
Aber wie könnte ein
solcher Entwurf aussehen? Welche Bestimmungen müssen tatsächlich
europaweit einheitlich geregelt sein, und wie viel Heterogenität der
nationalen Europawahlgesetze ist akzeptabel oder gar wünschenswert?
Sollten die nationalen Sitzkontingente in ihrer heutigen Form
weiterexistieren, oder wie sollten die Wahlkreise sonst zugeschnitten
sein? Wer sollte das Recht haben, Kandidatenlisten aufzustellen?
Welche Rolle sollten die europäischen Parteien spielen? Sollte es
Sperrklauseln geben, und wenn ja, in welcher Form?
Kurz gesagt: Wenn Sie die
Möglichkeit hätten, das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei
zu gestalten – wie sollte es dann aussehen? Diese Frage habe ich
verschiedenen Vertretern aus Politik, Wissenschaft und
Zivilgesellschaft gestellt, und ihre Antworten sollen in den
kommenden Wochen in einer Serie auf diesem Blog erscheinen. Den
Anfang macht in Kürze der Europaabgeordnete Jo Leinen.
Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten, wie sollte es dann aussehen? – Artikelübersicht
1: Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten – wie sollte es dann aussehen?
2: Transnationale Listen: Wie aus 28 nationalen Wahlen eine europäische wird ● Jo Leinen
3: Wie ein einheitliches Wahlsystem die europäischen Parteien stärken und die Legitimation der EU erhöhen könnte ● Frank Decker
4: Transnationale Listen und zwei Kompromisse für das Wahlsystem der Europawahl 2019 (EN/DE) ● Andrew Duff
5: Wie wollen wir in der Europäischen Union wählen? Jedes Land für sich und ungleich? ● Tim Weber
6: Transnationale Listen und ein europäischer Senat: Vorschlag für eine Wahlrechtsreform für Europa ● Christian Moos
7: Wie ich mir ein besseres Europawahlrecht vorstelle ● Manuel Müller
8: Die Europawahl 2014 neu berechnet: Das Bundestagswahlrecht als Blaupause für ein einheitliches Europawahlrecht? ● Michael Kaeding
1: Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten – wie sollte es dann aussehen?
2: Transnationale Listen: Wie aus 28 nationalen Wahlen eine europäische wird ● Jo Leinen
3: Wie ein einheitliches Wahlsystem die europäischen Parteien stärken und die Legitimation der EU erhöhen könnte ● Frank Decker
4: Transnationale Listen und zwei Kompromisse für das Wahlsystem der Europawahl 2019 (EN/DE) ● Andrew Duff
5: Wie wollen wir in der Europäischen Union wählen? Jedes Land für sich und ungleich? ● Tim Weber
6: Transnationale Listen und ein europäischer Senat: Vorschlag für eine Wahlrechtsreform für Europa ● Christian Moos
7: Wie ich mir ein besseres Europawahlrecht vorstelle ● Manuel Müller
8: Die Europawahl 2014 neu berechnet: Das Bundestagswahlrecht als Blaupause für ein einheitliches Europawahlrecht? ● Michael Kaeding
Bild: By Dennis Skley [CC BY-ND 2.0], via Flickr.
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