- Jean-Claude Juncker will über eine Neuvermessung der europäischen Währungsunion diskutieren. Aber leider ist die Öffentlichkeit gerade mit anderem beschäftigt.
Das
Top-Thema, das in den letzten Tagen die öffentliche Aufmerksamkeit für
europapolitische Fragen fesselt, ist natürlich die Griechenland-Krise. Das
Feiglingsspiel, bei dem sich die griechische Regierung und ihre Geldgeber mit
wechselseitigen Drohgebärden einzuschüchtern und zugleich ihre jeweilige
nationale Wählerschaft zu beeindrucken versuchen, bleibt nicht ohne Wirkung;
und von der Bild-Zeitung, die wie
gewohnt den Scharfmacher spielt,
bis hin zur altehrwürdigen
Europa-Union Deutschland gibt es kaum jemanden, der sich nicht daran
beteiligt – auch wenn es offensichtlich noch einigen Raum für Kompromisse gibt.
Wenn ein zentraler Konfliktpunkt der Verhandlungen tatsächlich nur in der Frage
besteht, ob Griechenland mit seinen Geldgebern ein „agreement“
oder ein „programme“ abschließt, darf man wohl durchaus darauf vertrauen,
dass es in letzter Minute doch noch zu einer Einigung kommt.
Ein neues
Dokument der „vier Präsidenten“
Die
interessantere Frage ist deshalb schon heute nicht, wie genau die Übereinkunft mit
der griechischen Regierung am Ende aussehen wird, sondern wie es mit der
Währungsunion in Zukunft weitergeht. Die Krise der letzten Jahre hat einige
eklatante Schwächen in ihrem institutionellen Aufbau offensichtlich gemacht,
und auch wenn es zuletzt schon einige Nachbesserungen gab (vom ESM über das „europäische
Semester“ bis zur Bankenunion), dürfte die Eurozone von einem optimalen
Währungsraum doch noch ein gutes Stück davon entfernt sein.
Angesichts
dessen ist es bedauerlich, dass ein Dokument, das die Europäische Kommission am
vergangenen Donnerstag veröffentlichte, in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis
genommen wurde. Es handelt sich um einen „analytischen Vermerk“ mit dem Titel Preparing
for Next Steps on Better Economic Governance in the Euro Area, den Kommissionspräsident
Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) in Zusammenarbeit mit Ratspräsident Donald Tusk
(PO/EVP), Eurogruppen-Präsident Jeroen Dijsselbloem (PvdA/SPE) und
Zentralbankpräsident Mario Draghi verfasst hat.
Er
soll die Grundlage für einen ausführlicheren Bericht über eine „engere
Koordinierung der Wirtschaftspolitik“ geben, den der Europäische Rat im
vergangenen Dezember erbeten hat und der spätestens im kommenden Juni
vorgelegt werden soll. Thema sind die Ursachen, die zur Eurokrise führten, die
Maßnahmen, die dagegen ergriffen wurden, und die Schritte, die für die Zukunft noch
nötig sind.
Junckers
Reformaufschlag
Der
Vermerk steht damit in Kontinuität zu dem Bericht Auf dem Weg zu einer echten Wirtschafts- und Währungsunion (PDF),
den die „vier Präsidenten“ bereits im Dezember 2012 vorlegten. Zwei Dinge haben
sich seitdem allerdings geändert: Zum einen lag die Federführung damals noch
beim Ratspräsidenten, nicht bei der Kommission. Und zum anderen hat sich durch
die Europawahl auch die personelle Zusammensetzung geändert; statt Juncker und
Tusk waren 2012 noch José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) und Herman Van Rompuy
(CD&V/EVP) im Amt.
Das
neue Dokument gibt daher nicht nur einen Einblick in das Krisennarrativ, das
unter den führenden Entscheidungsträgern der EU als konsensuell gelten darf. Es
könnte auch der Aufschlag zur institutionellen Reformagenda von Jean-Claude
Juncker sein, der sich bekanntlich als
Chef einer „politischen Kommission“ versteht und gerne seine eigenen Schwerpunkte
und Akzente setzt.
Die vielfältigen
Ursachen der Eurokrise
Und
tatsächlich knüpft der „analytische Vermerk“ kaum an den Bericht von 2012 an,
sondern beginnt mit einer Reihe ganz grundsätzlicher Feststellungen über die Eurozone.
Diese versteht Juncker nicht nur als Währungsunion, sondern auch als ein „politisches
Projekt“. Die Mitgliedstaaten geben darin „ein für alle Mal“ ihre nationalen
Währungen auf und bilden deshalb eine „Schicksalsgemeinschaft“, die
gleichermaßen „Solidarität in Krisenzeiten“ und „Respekt für die gemeinsam
vereinbarten Regeln“ voraussetzt.
Anschließend
widmet sich der Text recht ausführlich den „vielfältigen Ursachen“ der Eurokrise,
die als „Finanzkrise“ im Bankensektor begonnen habe und vor allem durch die
nationalen Bankenrettungsprogramme zu einer „Staatsschuldenkrise“ geworden sei.
Gleichzeitig sei sie aber auch eine „Wettbewerbsfähigkeitskrise“: Da die
Produktivität in einigen Mitgliedstaaten deutlich hinter anderen zurückblieb, entstanden
Handelsbilanzungleichgewichte, die nach Ausbruch der Krise zu einer
Kapitalflucht in die produktiveren Länder führten. Und schließlich gebe es auch
noch eine „Märktekrise“ – genauer ein Marktversagen, da die Investoren zuerst nicht
in der Lage waren, diese Entwicklungen zu antizipieren, und dann nach Ausbruch
der Krise panikartig überreagierten.
Bereits
ergriffene Maßnahmen
Gegen
all diese Probleme wurde bereits eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, von denen
der Vermerk fünf auflistet:
●
den Europäischen
Stabilitätsmechanismus (ESM), der Krisenländern mit Rettungskrediten
beispringen kann,
●
die Bankenunion,
die verhindern soll, dass Krisen im Finanzsektor erneut zu nationalen Staatsschuldenkrisen
führen,
●
das Verfahren
bei makroökonomischen Ungleichgewichten, das problematische
Wirtschaftsentwicklungen künftig schon früher sichtbar machen soll,
●
der reformierte Stabilitätspakt
und der Fiskalpakt,
die die Staaten zu strikter Haushaltsdisziplin verpflichten, sowie
●
die Stärkung des Europäischen
Statistikamts Eurostat, die verhindern soll, dass Mitgliedstaaten gefälschte
Defizit-Daten veröffentlichen.
Teufelskreis
zwischen Verschuldung und Wachstumsschwäche
Auf
eine vertiefte Analyse dieser bereits ergriffenen Maßnahmen verzichtet der
Vermerk. In einem weiteren Abschnitt wendet er sich stattdessen den
gegenwärtigen drückendsten Problemen der Eurozone zu: der hohen Arbeitslosigkeit
und dem niedrigen Wachstum. Letzteres stehe in einem gefährlichen Teufelskreis
mit der öffentlichen und privaten Verschuldung, da sich hohe Schulden „üblicherweise“
negativ auf das Wirtschaftswachstum auswirkten, ein niedriges Wachstum aber
auch den Schuldenabbau erschwere.
(Der
Versuch, diesen Effekt auch mit Daten nachzuweisen, misslingt in dem Vermerk allerdings:
Jedenfalls illustriert er die Behauptung, dass ein hoher Schuldenstand zu einem
niedrigeren Wachstum führen würde, mit einer Grafik, aus der sich ein solcher Zusammenhang
beim besten Willen nicht erkennen lässt – siehe
hier, Seite 6, Chart 6. Aber natürlich soll der Vermerk kein
ökonomisches Lehrbuch sein, und immerhin hat er mit seiner These auch die Bank für Internationalen
Zahlungsausgleich und das
deutsche Finanzministerium auf seiner Seite.)
Junckers Lösung:
Strukturreformen und Binnenmarkt
Dieser
Teufelskreis zwischen niedrigem Wachstum und Staatsverschuldung ist schließlich
auch der gedankliche Rahmen, aus dem der Vermerk die nötigen nächsten Schritte
ableitet. Dabei bekennt er sich zunächst noch einmal knapp zu einer „konsistenten
Strategie um das ‚Tugend-Dreieck‘ aus Strukturreformen, Investitionen und
fiskalischer Verantwortung“. Aber natürlich sind mehr öffentliche Investitionen
auch mit höheren Ausgaben, also Schulden verbunden, und natürlich schnürt „fiskalische
Verantwortung“, also eine scharfe Sparpolitik, das Wirtschaftswachstum ab.
Ohne
dies allzu explizit zu machen, lässt der Vermerk deshalb diese beiden Ansätze fallen
und setzt bei den vorgeschlagenen kurzfristigen Maßnahmen stattdessen ganz auf
Strukturreformen: Auf nationaler Ebene sollen die Arbeitsmärkte flexibilisiert,
die Gründung von Unternehmen erleichtert und der Marktzugang vereinfacht werden.
Länderübergreifend soll es außerdem darum gehen, den Europäischen Binnenmarkt auszubauen,
um die Mobilität von Arbeitskräften und die Verflechtung des Kapitalmarkts zu
erhöhen.
Dieser
Zweiklang aus nationalen Strukturreformen und einer Vertiefung des Binnenmarkts
dürfte also die Strategie sein, mit der Jean-Claude Juncker die Eurozone aus
der Wirtschaftskrise holen will. Und siehe da: Dieselben beiden Forderungen bildeten
auch den
wirtschaftspolitischen Schwerpunkt im Europawahlprogramm der Europäischen Volkspartei,
als deren Spitzenkandidat Juncker vor einem knappen halben Jahr zum
Kommissionspräsidenten gewählt wurde.
Und langfristig?
Auf
die Frage, wie es mit der Währungsunion langfristig weitergehen soll, bleibt
der Vermerk allerdings eine Antwort schuldig: Stattdessen endet er mit einer
Reihe von Fragezeichen, für die erst der nächste Bericht der „vier Präsidenten“
im Juni eine Lösung präsentieren soll. Die weitergehenden Vorschläge, die
bereits in dem Bericht von 2012 enthalten waren (unter anderem war darin von
einer europäischen Arbeitslosenversicherung die Rede, ganz wie ich sie auch
auf diesem Blog verschiedentlich thematisiert habe), „bleiben“ zwar „gültig“.
Erst einmal soll nun aber weiter diskutiert werden.
Unter
den Freunden entschlossener Integrationsschritte (etwa bei
Paolo Vacca, dem Generalsekretär der Union Europäischer Föderalisten) ist
diese Verzögerung nicht nur auf Begeisterung gestoßen. Warum noch einmal zurück
an den Diskussionstisch, wenn die nötigen Reformen doch schon vor fast zweieinhalb
Jahren klar benannt worden sind? Andererseits könnte in Junckers neuem Anlauf
aber auch eine Chance liegen: nämlich darauf, auch in der Öffentlichkeit ein
Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es anders als 2012 nicht mehr primär darum
geht, eine akute Krise zu bekämpfen, sondern die Eurozone auch für die mittlere
und fernere Zukunft wetterfest und
demokratisch zu machen.
Aber
dafür müssten wir natürlich erst einmal aufhören, uns über Alexis Tsipras
aufzuregen. Vielleicht sind wir im Juni ja so weit.
Alle Zitate aus dem Vermerk sind meine Übersetzung des englischen Originaltextes. Bild: By Erina (Own work) [Public domain], via Wikimedia Commons.
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