26 April 2021

Die digitale Plattform der Konferenz zur Zukunft Europas: eine Art europapolitisches Facebook

Wo sonst hat man schon die Möglichkeit, dem Spitzenkandidatenverfahren ein Like zu geben?

Seit vergangenem Montag ist die digitale Diskussionsplattform der Konferenz zur Zukunft Europas online. Und die Erwartungen sind hoch: Wie der Europaabgeordnete Guy Verhofstadt (Open VLD/ALDE) bei der Präsentation der Plattform erklärte, soll diese „der Kern, der Motor und das Schwungrad“ der Konferenz sein, „ein vollkommen neues interaktives Instrument, an dem Menschen auf unterschiedliche Weise teilnehmen können“. Für die portugiesische Europaministerin Ana Paula Zacarias (PS/SPE) als Vertreterin des Rates ist die Plattform eine Möglichkeit für die Bürger:innen, „ihre Sorgen zu äußern, ihre Träume zu teilen und mit ihren politischen Vertreter:innen in Kontakt zu kommen“ sowie „unterschiedliche Ansichten frei und ohne Tabus zu debattieren“.

Die zuständige Kommissarin Dubravka Šuica (HDZ/EVP) wiederum versprach, dass alle Bürgerbeiträge auf der Plattform von der Konferenz „voll“ berücksichtigt würden, und verwies auf den neuen Konferenz-Hashtag #TheFutureIsYours als „Einladung an die EU-Bürger:innen, zur Zukunft der EU beizutragen und diese mitzubestimmen“. Entscheidend sei nun, darin waren sich alle drei einig, dass sich möglichst viele Bürger:innen an der Plattform beteiligten.

Und wie sieht das in der Praxis aus?

Die Sprache Europas holpert noch etwas

Besucht man die Plattform, darf man zuerst seine Sprache auswählen: Die Plattform ist mit einer Übersetzungssoftware ausgestattet, durch die sämtliche Beiträge in allen Amtssprachen der Europäischen Union gelesen werden können. Das klingt erst einmal großartig, ganz im Sinne des Umberto-Eco-Bonmots, dass die Sprache Europas die Übersetzung sei.

In der Realität liest sich das (wie jede:r weiß, der schon einmal mit automatischen Übersetzungsprogrammen gearbeitet hat) oft eher holprig. Selbst bei Übertragungen zwischen großen Sprachen gehen Nuancen im Ausdruck schnell verloren, vereinzelt sind Sätze überhaupt nicht mehr verständlich. Befremdlich ist, dass selbst im Rahmentext der Plattform noch Übersetzungsfehler zu finden sind. So ist etwa der Überblick über bevorstehende Veranstaltungen mit „Sitzungen“ überschrieben; die Möglichkeit, Beiträge anderer Nutzer:innen zu unterstützen (Englisch: „endorsement“), wird im Deutschen mit „Genehmigung“ wiedergegeben.

Aber immerhin: Die wesentlichen Gedanken sind in aller Regel nachzuvollziehen. Und ohnehin sind die meisten Beiträge auf der Plattform bislang auf Englisch verfasst. Wer über ein wenig Sprachkenntnisse verfügt, kann die automatische Übersetzung deshalb auch einfach abschalten.

„Veranstaltungen“ und „Ideen“

Inhaltlich bietet die Seite neben allgemeinen Informationen über die Konferenz zur Zukunft Europas vor allem zwei Funktionen: zum einen eine Übersicht über europapolitische Veranstaltungen, zum anderen ein als „Ideen“ bezeichnetes Diskussionsforum. Beide speisen sich aus dezentralen Nutzerbeiträgen. Um sich aktiv daran zu beteiligen, müssen Nutzer:innen sich erst einmal anmelden. Das geht allerdings sehr schnell und einfach – entweder mithilfe eines Social-Media-Accounts oder mit EU Login, einer Art Nutzerkonto für alle Online-Dienstleistungen der Europäischen Kommission. Einmal angemeldet, verfügt man über ein (wenn auch recht rudimentäres) öffentliches Nutzerprofil und hat auch die Möglichkeit, anderen Nutzer:innen zu „folgen“.

Außerdem können angemeldete Nutzer:innen eigene Veranstaltungen ankündigen und „Ideen“ einbringen. Letztere bestehen aus einem Titel, einem kurzen Text von bis zu 1.500 Zeichen und, falls gewünscht, einem Bild oder einer angehängten Datei. Um Dopplungen zu vermeiden, wird jeder Beitrag dann durch eine Software darauf geprüft, ob es bereits einen ähnlichen Vorschlag gibt (was allerdings nur mittelmäßig funktioniert).

Nach der Veröffentlichung können Beiträge von anderen Nutzer:innen mit einer Art Like-Button unterstützt („genehmigt“) und kommentiert werden. Alles in allem handelt es sich also um eine Art europapolitisches Facebook – wenn auch mit einer etwas engeren Bandbreite an Funktionen und einem etwas stärkeren Fokus auf Inhalte als auf Personen.

Neun thematische Kategorien

Für den besseren Überblick sind sowohl die Veranstaltungen als auch das Diskussionsforum in neun thematische Kategorien eingeteilt, die Überschriften wie Klimawandel und Umwelt, Gesundheit, Digitaler Wandel, Die EU in der Welt oder Demokratie in Europa tragen. Daneben gibt es noch eine zehnte Kategorie namens Weitere Ideen – schließlich soll die Konferenz thematisch offen sein.

Nutzer:innen können einzelnen Kategorien „folgen“, um über jeden Beitrag informiert zu werden, der darin neu erscheint. Jedes einzelne Thema ist zudem in weitere Unterkategorien unterteilt. Für den Bereich Demokratie in Europa heißen diese beispielsweise Desinformation, EU-Politik – mitreden, mitgestalten, Medien sowie Unsere Demokratie schützen.

Nach einer Woche 5000 Teilnehmer:innen mit 1000 Vorschlägen

Und wie erfolgreich verlief der Start der Plattform? Auf ihrer Startseite findet sich ein Überblick in Zahlen: Bis zum heutigen Montag haben sich 5.236 Teilnehmer:innen angemeldet, die insgesamt 165 Veranstaltungen angekündigt, 1.008 Ideen eingebracht, dazu 1.775 Kommentare verfasst und 5.259 „Genehmigungen“ (Likes) hinterlassen haben.

Zum Vergleich: 5.236 Personen entsprechen einem knappen Drittel der Mitgliederzahl der Europa-Union Deutschland, und allein an der Konsultation über die EU-weite Abschaffung der Zeitumstellung nahmen fast tausendmal so viele Menschen teil. Bis die Plattform wirklich die breite europäische Öffentlichkeit erreicht, ist es also noch ein ziemlich weiter Weg. Andererseits sind seit der Freischaltung natürlich auch erst sieben Tage vergangen. Es könnte sein, dass die Nutzerzahl noch einmal ansteigt, wenn am 9. Mai die Zukunftskonferenz auch offiziell beginnt und die Massenmedien darüber berichten.

Viele vertraute Ideen

Bislang aber wirkt die Plattform eher wie ein Forum für Aktivist:innen, die sich ohnehin viel mit Europapolitik beschäftigen. Ein Indiz dafür sind schon die thematischen Interessen: Die Kategorien, denen derzeit die meisten Nutzer:innen folgen, sind Demokratie in Europa sowie Die EU in der Welt – also Fragen der institutionellen Reform und der Außenpolitik, die sonst eher nicht in dem Ruf stehen, in der Öffentlichkeit auf besonders großes Interesse zu stoßen.

Und auch inhaltlich finden sich viele Ideen, die Europa-Aktivist:innen (oder regelmäßigen Leser:innen dieses Blogs) nicht ganz unvertraut sein dürften. Im Bereich Demokratie in Europa sind das – neben eher pauschalen Rufen nach einer „demokratischen Union demokratischer Staaten“, einer „europäischen Föderation“ oder den „Vereinigten Staaten von Europa“ – zum Beispiel transnationale Europawahl-Listen, ein Initiativrecht für das Europäische Parlament, ein allgemeines Unionsbürger-Wahlrecht auch für nationale Wahlen, mehr Transparenz im Rat, europäische öffentlich-rechtliche Medien und ein einzelner Sitz für das Europäische Parlament.

Im Bereich Die EU in der Welt wiederum finden sich unter anderem die Abschaffung nationaler Vetorechte in der gemeinsamen Außenpolitik, der Aufbau einer europäischen Armee, die Zusammenlegung aller mitgliedstaatlichen Botschaften in Drittstaaten unter dem Dach der EU, die Fortsetzung der Erweiterungspolitik oder der stärkere Einsatz für eine Demokratisierung der Vereinten Nationen.

Größtenteils konstruktive Vorschläge – aber wie lange noch?

Vorschläge, die auf einen Rückbau der EU hinauslaufen würden, kommen hingegen kaum vor. Auch scheint die weitaus große Mehrheit der Beiträge jedenfalls bislang mit konstruktiven Absichten geschrieben zu sein. Beides könnte sich natürlich recht schnell ändern, wenn das öffentliche Interesse zunimmt und forenerprobte Nationalpopulist:innen die Plattform für ihre Zwecke entdecken.

Dass die Anmelde- und Beteiligungsverfahren so niedrigschwellig sind, könnte dann leicht noch zum Problem werden. Was eine Einladung an die breite Öffentlichkeit sein soll, wird auch Internettrollen das Handwerk erleichtern, falls die Plattform eines Tages wichtig genug wird, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken. Man darf gespannt sein, wie gut es den Administrator:innen der Plattform dann gelingen wird, die Beteiligungsregeln durchzusetzen, ohne sich dem Vorwurf politischer Manipulation und „Zensur“ auszuliefern.

Weitgehend unstrukturierte Debatte

Ein weiteres Problem zeigt sich schon jetzt: Auch wenn gezielte Störungen der Debatte bislang noch nicht zu erkennen sind, unterscheidet sich die inhaltliche Flughöhe und argumentative Qualität der einzelnen Vorschläge teils erheblich. Neben routinierten Zusammenfassungen, mit denen Funktionsträger:innen zivilgesellschaftlicher Organisationen die Kernpunkte ihrer politischen Programme präsentieren, finden sich Beiträge, die vor allem aus Schlagworten bestehen; neben konkreten Reformansätzen stehen nur grob skizzierte utopische Visionen; neben nachvollziehbar aufgebauten Erklärungen gibt es Beiträge voller Phrasen und Gedankensprünge. Kurzum, es geht zu wie so oft in sozialen Medien und Online-Diskussionsforen.

Hinzu kommt, dass durch die schiere Zahl von Beiträgen schon jetzt schnell der Überblick verloren geht. Die thematischen (Unter-)Kategorien sind zu grob und die automatische Prüfung auf Vorschlagsdopplungen viel zu unzuverlässig, um die Debatte sinnvoll zu strukturieren. Zum Beispiel stehen immer wieder offensichtlich unvereinbare Forderungen unverbunden nebeneinander, statt als Alternativen diskutiert zu werden: Soll man den Rat nun abschaffen oder in eine zweite Kammer umwandeln? Soll die Kommissionspräsident:in per Spitzenkandidatenverfahren vom Europäischen Parlament gewählt werden oder direkt von der Bevölkerung?

Eine Chance für Aktivist:innen – aber auch für den Diskurs?

Die Plattform wirkt deshalb ein wenig wie eine europapolitische Wundertüte – ein buntes Sammelsurium an Möglichkeiten, aus denen sich jedoch nur sehr begrenzt eine echte politische Debatte herauskristallisiert. Kenner:innen mag es ein gewisses Vergnügen bereiten, hier Vorschlagsbingo zu spielen: Welche altbekannten Forderungen haben es schon auf die Plattform geschafft, welche fehlen noch? Darüber hinaus bietet die Plattform vor allem Aktivist:innen einen Anreiz, die von ihnen favorisierten Vorschläge durch Likes und wohlwollende Kommentare zu fördern, um so die Meinungsbildung der Konferenz zu beeinflussen. Das ist zwar nicht unbedingt repräsentativ für die Gesamtbevölkerung, aber im Sinne einer partizipativen Demokratie auch nicht verwerflich: Hier zeigt sich, welche Vereine und Verbände ihre Mitglieder am besten mobilisieren.

Ob die Plattform damit auch für ein größeres Publikum attraktiv wird, ob sie zur politischen Information und Meinungsbildung, gar zu einer wirklichen inhaltlichen Weiterentwicklung des europapolitischen Diskurses beitragen kann, ist allerdings mindestens zweifelhaft. Wer sich für strukturierte Argumente oder für differenzierte Abwägungen interessiert, dürfte in der Regel an anderer Stelle eher fündig werden. Es ist eine Art europapolitisches Facebook, und sehr viel mehr als das sollte man sich nicht davon erhoffen.

Die digitale Plattform der Konferenz zur Zukunft Europas ist hier zu finden.

13 April 2021

Verkleinerung der Europäischen Kommission: hilfreich, aber nicht notwendig

Die europäische Demokratie hat Reformbedarf, und an Ideen dafür mangelt es nicht. In loser Folge nimmt diese Serie institutionelle Reformvorschläge in den Blick. Was sollen sie erreichen, wie könnten sie umgesetzt werden – und sind sie wirklich die Mühe wert? Teil 3: eine Verkleinerung der Europäischen Kommission. (Zum Anfang der Serie.)
Wenn alle 27 Mitglieder da sind, kann es auf den Kommissionsbänken zuweilen recht eng werden.

Die Europäische Kommission besteht bekanntlich aus einer Präsidentin und 26 weiteren Mitgliedern – einem je Mitgliedstaat. Verglichen mit den Minister:innen einer nationalen Regierung sind das ziemlich viele. Ein paar Beispiele: Die deutsche und italienische Regierung haben je 15, die französische 16 Minister:innen (jeweils plus Regierungschef:in). In kleineren Länder sind die Kabinette oft noch schlanker, und selbst Spanien, das sich am oberen Rand der EU-Staaten befindet, kommt mit 22 Minister:innen aus.

Sollte also auch die Kommission auf eine besser überschaubare Zahl an Mitgliedern verkleinert werden? Besonders im deutschsprachigen Raum, aber nicht nur dort, erfreut sich dieser Vorschlag einer breiten parteienübergreifenden Zustimmung. Zu den Politiker:innen, die sich in den letzten Jahren dafür aussprachen, zählen unter anderem Angela Merkel (CDU/EVP), Sebastian Kurz (ÖVP/EVP), Jean-Claude Juncker (CSV/EVP), Manfred Weber (CDU/EVP), Martin Schulz (SPD/SPE), Christian Lindner (FDP/ALDE) und Jörg Meuthen (AfD/ID).

Eine Verkleinerung ist schon im EU-Vertrag angelegt

Mehr noch: Auch im EU-Vertrag ist die Verringerung der Kommissarszahl eigentlich schon längst angelegt. Laut Art. 17 (5) EUV besteht die Kommission ab 2014 „aus einer Anzahl von Mitgliedern, die zwei Dritteln der Zahl der Mitgliedstaaten entspricht“ – das wären derzeit also 18 Kommissar:innen, die „in einem System der strikt gleichberechtigten Rotation zwischen den Mitgliedstaaten“ ausgewählt werden sollen.

Allerdings folgt in besagtem Artikel auch gleich der Nachsatz: „… sofern der Europäische Rat nicht einstimmig eine Änderung dieser Anzahl beschließt“. Tatsächlich beschloss der Europäische Rat im Mai 2013, vorerst bei der alten Regelung zu bleiben, nach der jedes Land ein Kommissionsmitglied stellt. 2019 wurde diese Aussetzung der Kommissionsverkleinerung noch einmal für die aktuelle Wahlperiode bestätigt. Doch die im Vertrag beschriebene Regelung steht weiterhin im Raum und wird vor der Europawahl 2024 wird das Thema voraussichtlich wieder auf der Tagesordnung stehen.

In der Hohen Behörde gab es noch keine Länderquoten

Historisch wurde die Zahl der Kommissionsmitglieder seit Gründung der EU mehrfach angepasst. Die 1952 gegründete Hohe Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl – die erste Vorläuferin der heutigen Kommission – umfasste (nach Art. 10 EGKS-Vertrag) neun Mitglieder, von denen acht von den nationalen Regierungen gemeinsam ernannt und das neunte von den übrigen acht kooptiert wurde. Kein Mitgliedstaat durfte mehr als zwei Mitglieder stellen; feste Länderquoten gab es jedoch nicht. Tatsächlich stammten in der ersten Hohen Behörde zwei Mitglieder aus dem kleinen Belgien, nur eines aus dem größeren Italien.

Für die 1958 eingerichtete Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde der Aufbau der Hohen Behörde weitgehend übernommen, aber die Kooptationsregelung abgeschafft. Nach Art. 158 EWG-Vertrag wurden die neun Kommissionsmitgliedern nun allein von den nationalen Regierungen „im gegenseitigen Einvernehmen“ ernannt. Der Fusionsvertrag von 1967 hielt erstmals formal fest, dass der Kommission mindestens ein Staatsangehörige:r jedes Mitgliedstaats angehörte. Feste Länderquoten gab es weiterhin nicht. In der Praxis stellten nun jedoch die drei größeren Mitgliedstaaten (Deutschland, Frankreich, Italien) immer je zwei Kommissionsmitglieder, die drei kleineren (Niederlande, Belgien, Luxemburg) je eines.

EU-Erweiterungen ließen die Kommission wachsen

Durch die EU-Erweiterungen 1973, 1981, 1986 und 1995 wurde die Kommission dann schrittweise vergrößert, sodass das Vereinigte Königreich und Spanien ebenfalls zwei, alle anderen neu beigetretenen Länder ein Mitglied stellen konnten. Ab 1995 gab es deshalb bereits 20 Kommissar:innen, nach der Osterweiterung im Mai 2004 stieg die Zahl kurzzeitig sogar auf 30 an.

Um dieser Expansion entgegenzuwirken, legte der Osterweiterungsvertrag jedoch fest, dass die im Herbst 2004 ernannte Kommission nur noch „aus einem Staatsangehörigen eines jeden Mitgliedstaats“ bestehen sollte. De facto verzichteten die fünf größten Mitgliedstaaten also auf ihre zweite Kommissar:in, sodass die Kommission nun 25 Mitglieder umfasste. Damit kam es nicht nur zur ersten Verkleinerung der Kommission, sondern auch erstmals zu einer strikten formalen Quote („eine Kommissar:in pro Land“).

Das irische Lissabon-Referendum

Neue EU-Erweiterungen ließen die Kommission allerdings schnell wieder anwachsen. Ab 2007 umfasste sie 27, ab 2013 28 Mitglieder. Der 2007 verabschiedete Reformvertrag von Lissabon sah deshalb die oben erwähnte neue Verkleinerung vor, nach der nur noch zwei Drittel der EU-Länder ein Kommissionsmitglied stellen sollen.

Diese Regelung stieß jedoch auch auf Kritik in einigen kleineren Mitgliedstaaten, die fürchteten, ohne ein „eigenes“ Kommissionsmitglied an Einfluss in der EU zu verlieren. Zum Diskussionsthema wurde dies insbesondere in Irland, wo in einem Referendum 2008 eine Mehrheit der Bevölkerung die Ratifikation des Vertrags ablehnte. Um Entgegenkommen gegenüber den Skeptiker:innen zu signalisieren, versprach der Europäische Rat deshalb im Dezember 2008, fürs Erste von der Verkleinerung der Kommission abzusehen. Nach einem zweiten, diesmal erfolgreichen irischen Referendum 2009 erfüllte der Europäische Rat dieses Versprechen 2013 mit dem oben erwähnten Beschluss.

Effizienz- und Sichtbarkeitsprobleme

Dennoch setzte sich die Diskussion um eine Kommissionsverkleinerung auch in den folgenden Jahren weiter fort. Tatsächlich scheinen die Probleme einer Kommission mit (aufgrund des britischen Austritts derzeit wieder) 27 Mitgliedern auf der Hand zu liegen.

Dies beginnt schon mit der Ressortaufteilung: Ähnlich wie die Minister:innen in einer nationalen Regierung sind auch die Kommissionsmitglieder jeweils für ein bestimmtes Politikfeld zuständig. Doch je mehr die Kommission wuchs, desto kleinteiliger wurden diese Bereiche. So gab es von 2007 bis 2009 einen eigenen Kommissar für Mehrsprachigkeit, von 2009 bis 2014 eine Kommissarin für Klimaschutz, deren Aufgabenbereich sowohl von der Umwelt- als auch der Verkehrs- und der Energiepolitik getrennt war. In der aktuellen Kommission sind für die Ressorts „Wirtschaft“, „Binnenmarkt“, „Finanzdienstleistungen“, „Handel“, „Beschäftigung“ sowie „Kohäsion und Reformen“ jeweils unterschiedliche Mitglieder verantwortlich. Es ist offensichtlich, dass es da zu inhaltlichen Überschneidungen kommen muss.

Die Zersplitterung der Ressorts ist zudem nicht nur ein Problem für die Effizienz, sondern auch für die Außendarstellung der Kommission. Alle oder wenigstens die meisten Minister:innen der eigenen nationalen Regierung nennen zu können, ist für politisch interessierte Menschen nicht unüblich. Die Namen aller aktuellen Kommissionsmitglieder kennen hingegen selbst Berufseuropäer:innen oft nicht auswendig. Das macht es für eine breite Öffentlichkeit nicht nur schwierig, politische Verantwortlichkeiten richtig zuzuordnen; es verstärkt auch den Eindruck von der Kommission als einer „anonymen“, bürgerfernen Bürokratie.

Bessere interne Strukturen als Alternative zur Verkleinerung

Allerdings ist eine Verkleinerung der Kommission nicht die einzige Lösung, um diese Effizienz- und Sichtbarkeitsprobleme zu bewältigen. Ein anderer Weg besteht darin, die interne Arbeitsweise der Kommission besser zu strukturieren. In dieser Hinsicht hat sich seit der Präsidentschaft von Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) bereits einiges getan.

So führte Juncker erstmals ein „Cluster-System“ ein, in dem jeweils eine Gruppe von Kommissar:innen in einem Projektteam unter Koordinierung einer Kommissions-Vizepräsident:in zusammenarbeitete. Allerdings hatten die Vizepräsident:innen zunächst nur einen viel kleineren Beamtenapparat zur Verfügung als die übrigen Kommissar:innen, was zu internen Problemen führte.

Ursula von der Leyen (CDU/EVP) entwickelte das System deshalb weiter. Zum einen erhöhte sie die Zahl der Vizepräsident:innen auf acht – sodass es heute ebenso viele Vizepräsident:innen gibt, wie die Hohe Behörde einst einfache Mitglieder hatte. Zum anderen stärkte sie ihre Rolle weiter und schuf für drei besonders wichtige Themenfelder (Klimaschutz, Digitalisierung, Wirtschaft) die Position von „Exekutiv-Vizepräsident:innen“, die nicht nur Koordinierungsaufgaben einnehmen, sondern auch über eigene Generaldirektionen verfügen, die ihnen zuarbeiten.

Binnenhierarchisierung durch Vizepräsident:innen

Diese Struktur ist im Einzelnen recht unübersichtlich (einen guten Überblick von Politico gibt es hier) und vermutlich noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Klar ist aber, dass sich die Kommission in Richtung einer Binnenhierarchisierung entwickelt, in der sich politische Macht von den einfachen Kommissionsmitgliedern zu den Vizepräsident:innen verschiebt.

Dadurch verändert sich aber auch die Rolle der einfachen Kommissionsmitglieder. Lange Zeit war es eine plausible Faustformel, eine Kommissar:in als die europäische Entsprechung einer nationalen Minister:in zu betrachten – auch dem Vergleich im ersten Absatz dieses Artikels lag dieser Ansatz zugrunde. Wenn sich die Binnenhierarchisierung der Kommission weiter fortsetzt, dürfte es jedoch angemessener sein, nur die Kommissions-Vizepräsident:innen mit nationalen Minister:innen gleichzusetzen.

Neuer Vergleichsmaßstab: Kommissar:innen = Staatssekretär:innen

Die einfachen Kommissar:innen hingegen lassen sich dann am besten mit nationalen Vizeminister:innen oder Staatssekretär:innen vergleichen – politischen Mandatsträger:innen mit eigenem Aufgabenbereich, die aber einer Minister:in untergeordnet sind und dieser zuarbeiten. Dass die Ressorts von Staatssekretär:innen kleinteiliger sind, versteht sich von selbst, aber inhaltliche Überschneidungen sind kein Problem, solange die Minister:innen ihrer Koordinationsaufgabe nachkommen. Und auch in der Öffentlichkeit stehen Staatssekretär:innen in der Regel nicht im Fokus.

Passt man den Maßstab entsprechend an, so fällt die Europäische Kommission mit acht Vizepräsident:innen und 18 einfachen Kommissar:innen sogar vergleichsweise klein aus. In Deutschland etwa gibt es derzeit 36 parlamentarische Staatssekretär:innen, in Frankreich 26 ministres délégués und secrétaires d’État, in Spanien 27 secretarios de Estado, in Italien 42 viceministri und sottosegretari di Stato.

Natürlich hinkt der Vergleich in mancher Hinsicht auch. Zum Beispiel fasst die Kommission Beschlüsse nach Art. 250 AEUV grundsätzlich „mit der Mehrheit ihrer Mitglieder“, während Staatssekretär:innen im nationalen Regierungskabinett meist nicht stimmberechtigt sind. Jedenfalls aber macht der Vergleich deutlich, dass für die Effizienz- und Sichtbarkeitsprobleme der Kommission eine Verkleinerung nicht zwingend notwendig ist.

Das Problem der „eigenen“ nationalen Kommissar:innen

Es gibt allerdings auch noch ein anderes Argument dafür, die Zahl der Kommissionsmitglieder zu verringern – und zwar eines, das genau entgegengesetzt ist zu den Gründen, die den Europäischen Rat 2008 dazu brachten, auf die Verkleinerung zu verzichten. Wie erwähnt, sorgten sich damals einige Mitgliedstaaten, ohne eine „eigene“ Kommissar:in in Brüssel an Einfluss zu verlieren. Diese Sorge impliziert, dass die Kommissionsmitglieder in irgendeiner Weise die Positionen ihrer Herkunftsländer vertreten würden. Doch genau das soll nach den EU-Verträgen nicht der Fall sein.

Nach Art. 17 (1) EUV fördert die Kommission „die allgemeinen Interessen der Union“; sie repräsentiert nicht wie der Europäische Rat die Summe der Mitgliedstaaten, sondern das gemeinsame, gesamteuropäische Interesse. Die derzeitige feste Länderquote („ein Mitglied pro Land“) legt jedoch – gerade auch in der öffentlichen Wahrnehmung – nahe, dass die Kommissar:innen innerhalb der Kommission ihren jeweiligen Herkunftsstaat verträten.

Dieses Problem wird durch die derzeitige Nominierungspraxis noch verschärft. Zwar sieht Art. 17 (7) UAbs. 2 EUV vor, dass der Rat gemeinsam die Liste der Kommissionsmitglieder annimmt, für die die einzelnen Regierungen nur „Vorschläge“ machen dürfen. In der Realität ist dieser Ratsbeschluss jedoch eine bloße Formalie, da die Regierungen die Vorschläge der anderen Regierungen grundsätzlich nur durchwinken. Für ihre (Wieder-)Ernennung sind die Kommissionsmitglieder deshalb – sofern sich nicht die Kommissionspräsident:in oder das Europäische Parlament querstellt – allein von ihrer jeweiligen nationalen Regierung abhängig. Dadurch entsteht eine strukturelle Loyalität, die dem Geist des Vertrags widerspricht.

Eine Verkleinerung könnte helfen – aber der Effekt bliebe begrenzt

Eine Verkleinerung der Kommission würde dieses Problem zwar nicht lösen, aber auflockern. Regierungen, die gerade kein Mitglied nominieren dürfen, würden wohl stärker darauf achten, dass auch die übrigen Regierungen bei ihren Vorschlägen das gesamteuropäische Interesse im Blick haben. Und auch die nationalen Öffentlichkeiten würden beim Blick nach Brüssel nicht mehr in erster Linie nach der „eigenen“ Kommissar:in suchen, sondern die Kommission womöglich stärker als Vertreterin einer gemeinsamen gesamteuropäischen Politik wahrnehmen.

Die Verkleinerung der Kommission hätte also ein praktisches und symbolpolitisches Potenzial, die Kommission als supranationales demokratisches Organ zu stärken. Allerdings dürfte die Stärke dieses Effekts recht begrenzt bleiben. Andere Reformen versprechen einen sehr viel größeren Hebel. Insbesondere müsste die Kommission enger an das Europäische Parlament gebunden werden – etwa durch eine Reform des Misstrauensvotums oder durch mehr Mitsprache der Abgeordneten bei der Nominierung der Kommissionsmitglieder. Eine Verkleinerung der Kommission kann für solche weitergehenden Reformen politisch hilfreich sein. Eine zwingende Voraussetzung ist sie aber nicht: Theoretisch wäre es auch denkbar, die Kommission komplett zu parlamentarisieren und dennoch das Prinzip „ein Mitglied pro Land“ beizubehalten.

Verlockend ist vor allem die leichte Umsetzbarkeit

Sollte die Kommission also verkleinert werden? Manches spricht dafür, dass durch eine solche Reform mehr Nutzen als Schaden entstünde, aber wirklich notwendig erscheint sie nicht. Trotzdem könnte der Vorschlag bald wieder auf der Tagesordnung stehen – und sei es nur, weil er politisch und verfassungsrechtlich verhältnismäßig leicht umzusetzen ist. Anders als für viele andere EU-Reformen ist für ihn keine Vertragsänderung nötig, sondern nur ein einstimmiger Beschluss des Europäischen Rates, die bereits jetzt in Art. 17 (5) EUV beschriebenen Regeln anzuwenden.

Diese einfache Umsetzbarkeit dürfte verlockend für Politiker:innen sein, die beispielsweise am Ende der Konferenz zur Zukunft Europas ein konkretes institutionelles Ergebnis präsentieren wollen, aber vor den Mühen einer echten Vertragsreform zurückschrecken. Doch ähnlich wie ein Initiativrecht für das Europäische Parlament wäre das in erster Linie symbolpolitisches Handeln. Die eigentlichen Prioritäten liegen anderswo.



Bild: © European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Wikimedia Commons.