Seit vergangenem Montag ist die digitale Diskussionsplattform der Konferenz zur Zukunft Europas online. Und die Erwartungen sind hoch: Wie der Europaabgeordnete Guy Verhofstadt (Open VLD/ALDE) bei der Präsentation der Plattform erklärte, soll diese „der Kern, der Motor und das Schwungrad“ der Konferenz sein, „ein vollkommen neues interaktives Instrument, an dem Menschen auf unterschiedliche Weise teilnehmen können“. Für die portugiesische Europaministerin Ana Paula Zacarias (PS/SPE) als Vertreterin des Rates ist die Plattform eine Möglichkeit für die Bürger:innen, „ihre Sorgen zu äußern, ihre Träume zu teilen und mit ihren politischen Vertreter:innen in Kontakt zu kommen“ sowie „unterschiedliche Ansichten frei und ohne Tabus zu debattieren“.
Die zuständige Kommissarin Dubravka Šuica (HDZ/EVP) wiederum versprach, dass alle Bürgerbeiträge auf der Plattform von der Konferenz „voll“ berücksichtigt würden, und verwies auf den neuen Konferenz-Hashtag #TheFutureIsYours als „Einladung an die EU-Bürger:innen, zur Zukunft der EU beizutragen und diese mitzubestimmen“. Entscheidend sei nun, darin waren sich alle drei einig, dass sich möglichst viele Bürger:innen an der Plattform beteiligten.
Und wie sieht das in der Praxis aus?
Die Sprache Europas holpert noch etwas
Besucht man die Plattform, darf man zuerst seine Sprache auswählen: Die Plattform ist mit einer Übersetzungssoftware ausgestattet, durch die sämtliche Beiträge in allen Amtssprachen der Europäischen Union gelesen werden können. Das klingt erst einmal großartig, ganz im Sinne des Umberto-Eco-Bonmots, dass die Sprache Europas die Übersetzung sei.
In der Realität liest sich das (wie jede:r weiß, der schon einmal mit automatischen Übersetzungsprogrammen gearbeitet hat) oft eher holprig. Selbst bei Übertragungen zwischen großen Sprachen gehen Nuancen im Ausdruck schnell verloren, vereinzelt sind Sätze überhaupt nicht mehr verständlich. Befremdlich ist, dass selbst im Rahmentext der Plattform noch Übersetzungsfehler zu finden sind. So ist etwa der Überblick über bevorstehende Veranstaltungen mit „Sitzungen“ überschrieben; die Möglichkeit, Beiträge anderer Nutzer:innen zu unterstützen (Englisch: „endorsement“), wird im Deutschen mit „Genehmigung“ wiedergegeben.
Aber immerhin: Die wesentlichen Gedanken sind in aller Regel nachzuvollziehen. Und ohnehin sind die meisten Beiträge auf der Plattform bislang auf Englisch verfasst. Wer über ein wenig Sprachkenntnisse verfügt, kann die automatische Übersetzung deshalb auch einfach abschalten.
„Veranstaltungen“ und „Ideen“
Inhaltlich bietet die Seite neben allgemeinen Informationen über die Konferenz zur Zukunft Europas vor allem zwei Funktionen: zum einen eine Übersicht über europapolitische Veranstaltungen, zum anderen ein als „Ideen“ bezeichnetes Diskussionsforum. Beide speisen sich aus dezentralen Nutzerbeiträgen. Um sich aktiv daran zu beteiligen, müssen Nutzer:innen sich erst einmal anmelden. Das geht allerdings sehr schnell und einfach – entweder mithilfe eines Social-Media-Accounts oder mit EU Login, einer Art Nutzerkonto für alle Online-Dienstleistungen der Europäischen Kommission. Einmal angemeldet, verfügt man über ein (wenn auch recht rudimentäres) öffentliches Nutzerprofil und hat auch die Möglichkeit, anderen Nutzer:innen zu „folgen“.
Außerdem können angemeldete Nutzer:innen eigene Veranstaltungen ankündigen und „Ideen“ einbringen. Letztere bestehen aus einem Titel, einem kurzen Text von bis zu 1.500 Zeichen und, falls gewünscht, einem Bild oder einer angehängten Datei. Um Dopplungen zu vermeiden, wird jeder Beitrag dann durch eine Software darauf geprüft, ob es bereits einen ähnlichen Vorschlag gibt (was allerdings nur mittelmäßig funktioniert).
Nach der Veröffentlichung können Beiträge von anderen Nutzer:innen mit einer Art Like-Button unterstützt („genehmigt“) und kommentiert werden. Alles in allem handelt es sich also um eine Art europapolitisches Facebook – wenn auch mit einer etwas engeren Bandbreite an Funktionen und einem etwas stärkeren Fokus auf Inhalte als auf Personen.
Neun thematische Kategorien
Für den besseren Überblick sind sowohl die Veranstaltungen als auch das Diskussionsforum in neun thematische Kategorien eingeteilt, die Überschriften wie Klimawandel und Umwelt, Gesundheit, Digitaler Wandel, Die EU in der Welt oder Demokratie in Europa tragen. Daneben gibt es noch eine zehnte Kategorie namens Weitere Ideen – schließlich soll die Konferenz thematisch offen sein.
Nutzer:innen können einzelnen Kategorien „folgen“, um über jeden Beitrag informiert zu werden, der darin neu erscheint. Jedes einzelne Thema ist zudem in weitere Unterkategorien unterteilt. Für den Bereich Demokratie in Europa heißen diese beispielsweise Desinformation, EU-Politik – mitreden, mitgestalten, Medien sowie Unsere Demokratie schützen.
Nach einer Woche 5000 Teilnehmer:innen mit 1000 Vorschlägen
Und wie erfolgreich verlief der Start der Plattform? Auf ihrer Startseite findet sich ein Überblick in Zahlen: Bis zum heutigen Montag haben sich 5.236 Teilnehmer:innen angemeldet, die insgesamt 165 Veranstaltungen angekündigt, 1.008 Ideen eingebracht, dazu 1.775 Kommentare verfasst und 5.259 „Genehmigungen“ (Likes) hinterlassen haben.
Zum Vergleich: 5.236 Personen entsprechen einem knappen Drittel der Mitgliederzahl der Europa-Union Deutschland, und allein an der Konsultation über die EU-weite Abschaffung der Zeitumstellung nahmen fast tausendmal so viele Menschen teil. Bis die Plattform wirklich die breite europäische Öffentlichkeit erreicht, ist es also noch ein ziemlich weiter Weg. Andererseits sind seit der Freischaltung natürlich auch erst sieben Tage vergangen. Es könnte sein, dass die Nutzerzahl noch einmal ansteigt, wenn am 9. Mai die Zukunftskonferenz auch offiziell beginnt und die Massenmedien darüber berichten.
Viele vertraute Ideen
Bislang aber wirkt die Plattform eher wie ein Forum für Aktivist:innen, die sich ohnehin viel mit Europapolitik beschäftigen. Ein Indiz dafür sind schon die thematischen Interessen: Die Kategorien, denen derzeit die meisten Nutzer:innen folgen, sind Demokratie in Europa sowie Die EU in der Welt – also Fragen der institutionellen Reform und der Außenpolitik, die sonst eher nicht in dem Ruf stehen, in der Öffentlichkeit auf besonders großes Interesse zu stoßen.
Und auch inhaltlich finden sich viele Ideen, die Europa-Aktivist:innen (oder regelmäßigen Leser:innen dieses Blogs) nicht ganz unvertraut sein dürften. Im Bereich Demokratie in Europa sind das – neben eher pauschalen Rufen nach einer „demokratischen Union demokratischer Staaten“, einer „europäischen Föderation“ oder den „Vereinigten Staaten von Europa“ – zum Beispiel transnationale Europawahl-Listen, ein Initiativrecht für das Europäische Parlament, ein allgemeines Unionsbürger-Wahlrecht auch für nationale Wahlen, mehr Transparenz im Rat, europäische öffentlich-rechtliche Medien und ein einzelner Sitz für das Europäische Parlament.
Im Bereich Die EU in der Welt wiederum finden sich unter anderem die Abschaffung nationaler Vetorechte in der gemeinsamen Außenpolitik, der Aufbau einer europäischen Armee, die Zusammenlegung aller mitgliedstaatlichen Botschaften in Drittstaaten unter dem Dach der EU, die Fortsetzung der Erweiterungspolitik oder der stärkere Einsatz für eine Demokratisierung der Vereinten Nationen.
Größtenteils konstruktive Vorschläge – aber wie lange noch?
Vorschläge, die auf einen Rückbau der EU hinauslaufen würden, kommen hingegen kaum vor. Auch scheint die weitaus große Mehrheit der Beiträge jedenfalls bislang mit konstruktiven Absichten geschrieben zu sein. Beides könnte sich natürlich recht schnell ändern, wenn das öffentliche Interesse zunimmt und forenerprobte Nationalpopulist:innen die Plattform für ihre Zwecke entdecken.
Dass die Anmelde- und Beteiligungsverfahren so niedrigschwellig sind, könnte dann leicht noch zum Problem werden. Was eine Einladung an die breite Öffentlichkeit sein soll, wird auch Internettrollen das Handwerk erleichtern, falls die Plattform eines Tages wichtig genug wird, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken. Man darf gespannt sein, wie gut es den Administrator:innen der Plattform dann gelingen wird, die Beteiligungsregeln durchzusetzen, ohne sich dem Vorwurf politischer Manipulation und „Zensur“ auszuliefern.
Weitgehend unstrukturierte Debatte
Ein weiteres Problem zeigt sich schon jetzt: Auch wenn gezielte Störungen der Debatte bislang noch nicht zu erkennen sind, unterscheidet sich die inhaltliche Flughöhe und argumentative Qualität der einzelnen Vorschläge teils erheblich. Neben routinierten Zusammenfassungen, mit denen Funktionsträger:innen zivilgesellschaftlicher Organisationen die Kernpunkte ihrer politischen Programme präsentieren, finden sich Beiträge, die vor allem aus Schlagworten bestehen; neben konkreten Reformansätzen stehen nur grob skizzierte utopische Visionen; neben nachvollziehbar aufgebauten Erklärungen gibt es Beiträge voller Phrasen und Gedankensprünge. Kurzum, es geht zu wie so oft in sozialen Medien und Online-Diskussionsforen.
Hinzu kommt, dass durch die schiere Zahl von Beiträgen schon jetzt schnell der Überblick verloren geht. Die thematischen (Unter-)Kategorien sind zu grob und die automatische Prüfung auf Vorschlagsdopplungen viel zu unzuverlässig, um die Debatte sinnvoll zu strukturieren. Zum Beispiel stehen immer wieder offensichtlich unvereinbare Forderungen unverbunden nebeneinander, statt als Alternativen diskutiert zu werden: Soll man den Rat nun abschaffen oder in eine zweite Kammer umwandeln? Soll die Kommissionspräsident:in per Spitzenkandidatenverfahren vom Europäischen Parlament gewählt werden oder direkt von der Bevölkerung?
Eine Chance für Aktivist:innen – aber auch für den Diskurs?
Die Plattform wirkt deshalb ein wenig wie eine europapolitische Wundertüte – ein buntes Sammelsurium an Möglichkeiten, aus denen sich jedoch nur sehr begrenzt eine echte politische Debatte herauskristallisiert. Kenner:innen mag es ein gewisses Vergnügen bereiten, hier Vorschlagsbingo zu spielen: Welche altbekannten Forderungen haben es schon auf die Plattform geschafft, welche fehlen noch? Darüber hinaus bietet die Plattform vor allem Aktivist:innen einen Anreiz, die von ihnen favorisierten Vorschläge durch Likes und wohlwollende Kommentare zu fördern, um so die Meinungsbildung der Konferenz zu beeinflussen. Das ist zwar nicht unbedingt repräsentativ für die Gesamtbevölkerung, aber im Sinne einer partizipativen Demokratie auch nicht verwerflich: Hier zeigt sich, welche Vereine und Verbände ihre Mitglieder am besten mobilisieren.
Ob die Plattform damit auch für ein größeres Publikum attraktiv wird, ob sie zur politischen Information und Meinungsbildung, gar zu einer wirklichen inhaltlichen Weiterentwicklung des europapolitischen Diskurses beitragen kann, ist allerdings mindestens zweifelhaft. Wer sich für strukturierte Argumente oder für differenzierte Abwägungen interessiert, dürfte in der Regel an anderer Stelle eher fündig werden. Es ist eine Art europapolitisches Facebook, und sehr viel mehr als das sollte man sich nicht davon erhoffen.