29 Mai 2019

Nach der Europawahl 2019


GUE/
NGL
Grüne/
EFA
S&D ALDE EVP EKR EDD ENF fʼlos Weitere
alt 52 52 187 69 216 77 42 36 20
neu,
mit UK
42 69 144 113 177 61 45* 71 11 18*
dynamisch 44 73 147 117 165 76 88 41
neu,
ohne UK
41 62 139 101 180 59 16* 75 10 22*
dynamisch 44 67 142 105 168 74 93 12
Die Zahlen entsprechen dem Stand der Fraktionszuordnungen am 29. Mai 2019, unmittelbar nach der Europawahl. Für die Fraktionsstärken bei Konstituierung des Parlaments am 2. Juli 2019 siehe hier.

Wahlergebnis (mit UK, dynamisches Szenario), Stand: 29.5.2019. Details hier.
Kaum ist die Europawahl vorbei, schon geht die europapolitische Debatte zu den nächsten Aufregern über: Wer wird Kommissionspräsidentin, wer sichert sich einen der anderen EU-Top-Jobs? Die gestrigen Treffen der Fraktionschefs des Europäischen Parlaments sowie der Staats- und Regierungschefs boten hierzu wenig neue Informationen, aber ausgiebig Raum für Diskussion und Spekulation. An dieser Stelle aber soll es noch einmal um eine Bilanz der Wahl selbst gehen: Wie haben sich die Kräfte- und Mehrheitsverhältnisse im Parlament geändert, welche langfristigen Entwicklungen setzten sich fort, und wo zeichnen sich Trendwenden ab?

Dabei sind alle Angaben zu den Fraktionsstärken in diesem Artikel noch vorläufig: Da viele nationale Parteien noch nicht eindeutig erklärt haben, welcher Fraktion sie sich anschließen wollen, lassen sich Aussagen über die künftige Zusammensetzung des Parlaments bis jetzt nur unter Vorbehalt treffen. (Ein laufend aktualisierter Gesamtüberblick über die neuen Fraktionen ist hier zu finden.) Die wesentlichen Konturen des Wahlergebnisses aber zeichnen sich jetzt schon deutlich ab.

Niedergang der Volksparteien

Das erste, offensichtlichste und schon am Wahlabend stark kommentierte Ergebnis sind dabei die massiven Stimmverluste der traditionellen Volksparteien der rechten und linken Mitte, die im Europäischen Parlament die Fraktionen der Europäischen Volkspartei (EVP) und der Sozialdemokraten (S&D) bilden. Die S&D erreichte ihr mit Abstand schlechtestes Wahlergebnis überhaupt; und auch die EVP befindet sich nahe an ihrem Tiefstpunkt von 1989 und könnte noch darunter fallen, falls sich die ungarische Fidesz dazu entschließt, die Fraktion zu verlassen. Gemeinsam kommen die beiden Fraktionen der informellen Großen Koalition, deren Zusammenarbeit seit jeher den Ton im Europäischen Parlament angab, erstmals nicht mehr auf eine absolute Mehrheit der Sitze.

Historische Wahlergebnisse.
Allerdings ist diese Entwicklung durchaus nicht überraschend. Schon bei den vorangehenden drei Europawahlen war der kombinierte Sitzanteil der beiden größten Fraktionen bei jeder Europawahl kontinuierlich zurückgegangen. Und auch während der Wahlperiode 2014-19 hatten Umfragen von Anfang an einen nahezu kontinuierlichen Abstieg für EVP und S&D gezeigt: In den Sitzprojektionen auf diesem Blog hatte die Große Koalition schon seit Dezember 2017 keine Mehrheit mehr. Auch wenn sich der Niedergang der traditionellen Volksparteien beschleunigt hat, war diese Europawahl also nicht etwa ein „Erdbeben“, wie diverse Medien schrieben, sondern nur die Fortsetzung eines längerfristigen Trends.

Eher „Finnlandisierung“ als „Niederlandisierung“

Ein Schlagwort, mit dem dieser Trend verschiedentlich zu beschreiben versucht wird, ist die „Niederlandisierung“ des europäischen Parteiensystems. Gemeint ist damit die zunehmende Fragmentierung der Parteienlandschaft, wie man sie in den Niederlanden besonders deutlich beobachten kann. Begünstigt durch ein reines Verhältniswahlrecht ohne Sperrklausel sind dort seit der letzten nationalen Wahl 13 Parteien im Parlament vertreten, von denen nur eine einzige auf mehr als 15 Prozent der Stimmen kam.

So ganz lässt sich der Vergleich allerdings nicht auf das Europäische Parlament übertragen. Denn anders als in den Niederlanden führte der Niedergang der großen Volksparteien auf europäischer Ebene bislang nicht zu einer Zersplitterung mit einer Vielzahl kleiner und kleinster Gruppierungen. Auch wenn in verschiedenen Mitgliedstaaten neue Parteien ins Europäische Parlament einziehen, gelingt es den bestehenden Fraktionen vielmehr recht gut, diese zu integrieren. Tatsächlich könnte sich die Zahl der Fraktionen im nächsten Parlament sogar von acht auf sieben verringern.

Das Besondere an der Entwicklung auf europäischer Ebene ist deshalb nicht so sehr die Fragmentierung, sondern der schrumpfende Abstand zwischen den großen und den mittelgroßen und kleineren Fraktionen. Sucht man für dieses Muster ein Vergleichsbeispiel aus einem der EU-Mitgliedstaaten, so wird man am ehesten wohl in Finnland fündig, wo es drei bis vier große Parteien gibt, die jeweils um die 20 Prozent der Stimmen erreichen. Auch in anderen Mitgliedstaaten, etwa Spanien, Luxemburg und Deutschland, zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab, ohne dass daraus gleich eine so starke Zersplitterung des Parlaments wie in den Niederlanden folgen würde.

Neue Polarisierung: Inklusion vs. Exklusion

Die mittelgroßen Fraktionen, die bei dieser Europawahl dazugewinnen konnten, entstammen aus sehr unterschiedlichen Ecken des politischen Spektrums: Mit dem größten Sitzzuwachs im neuen Parlament können die liberale ALDE und die rechte ENF rechnen (die beide künftig unter einem anderen Namen firmieren werden), gefolgt von den europäischen Grünen. Alle drei Fraktionen könnten so stark werden wie noch niemals zuvor.

Auch dieses Ergebnis lässt sich als Folge eines längerfristigen Trends verstehen, nämlich einer zunehmenden Polarisierung entlang des Gegensatzes zwischen inkludierender und exkludierender Politik. Während sich die traditionellen Volksparteien vor allem über einen ökonomischen Rechts-Links-Gegensatz (wirtschaftliche Freiheit oder soziale Umverteilung) definierten, gewinnen in der politischen Debatte schon seit einigen Jahrzehnten zunehmend andere Konfliktachsen an Bedeutung. Im Wesentlichen geht es dabei in der Regel um die Trennlinie zwischen der („inkludierenden“) Gleichstellung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen einerseits und der („exkludierenden“) Bewahrung etablierter gesellschaftlicher Ordnungsmuster, Hierarchien und sozialer Privilegien andererseits. Dieser Gegensatz zeigt sich besonders deutlich etwa in der Migrations- und der Geschlechterpolitik sowie der Debatte über den Islam, aber auch in der Frage, welche Verhaltensänderungen bestimmten sozialen Gruppen zur Bekämpfung des Klimawandels zuzumuten sind.

Diese Debatten werden meist nicht mehr von den traditionellen Volksparteien der linken und rechten Mitte dominiert, deren Anhängerschaft in diesen Fragen oft intern gespalten ist. Wer die Pole in den neuen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen besetzt, sind vielmehr rechte und rechtspopulistische Parteien einerseits und urban-kosmopolitische (Links-)Liberale andererseits. Und genau diese Gruppierungen gewannen auch bei dieser Europawahl am stärksten hinzu.

Erfolge kosmopolitischer Liberaler und Grüner

Am kosmopolitischen Pol sind dabei sowohl die liberale ALDE-Fraktion als auch die europäischen Grünen angesiedelt. Letztere waren nach der Europawahl 2014 zunächst zurückgefallen, legten in den Umfragen aber seit Mitte 2017 kontinuierlich zu und konnten am Wahlabend – wohl auch begünstigt durch die mediale Sichtbarkeit der „Fridays-for-Future“-Klimademonstrationen, die in den Tagen und Wochen vor der Wahl in zahlreichen Mitgliedstaaten stattfanden – noch einmal deutlich die Erwartungen übertreffen. Allerdings ist diese „grüne Welle“ stark auf den Nordwesten der EU begrenzt: Während die Grünen in Deutschland, Frankreich, Irland, Österreich und Finnland gut abschnitten, konnten sie unter den seit 2004 beigetretenen Mitgliedstaaten nur in Lettland und Litauen Sitze gewinnen.

Die liberale ALDE wiederum hatte die größten Zugewinne dank der jungen französischen Regierungspartei LREM, die bei der Wahl erstmals ins Parlament einzog und mit 21 Sitzen gleich die mit Abstand stärkste Kraft in der Fraktion wird. Stark zulegen konnten auch die britischen LibDems, die den größten Teil der Anti-Brexit-Stimmen auf sich zogen. Aber auch in den östlichen Mitgliedstaaten konnten zentristisch-liberale Parteien, die oft erst vor wenigen Jahren gegründet wurden, Erfolge feiern – etwa in Rumänien, Ungarn oder der Slowakei, wo die neuen ALDE-Mitglieder sich jeweils als Gegenpol zu autoritären oder als korrupt angesehenen nationalen Regierungen profilieren konnten.

Konsolidierung der Rechten

Auf der rechten Seite fallen die Zugewinne weniger spektakulär aus, als das die mediale Aufregung in den Wochen vor der Wahl zum Teil erwarten ließ. Nur wenige Parteien – vor allem die italienische Lega – konnten sich gegenüber der Europawahl 2014 deutlich verbessern; insgesamt dürfte das rechte Lager von rund 160 auf gut 180 Sitze zulegen (rechte Fraktionslose sowie das italienische M5S jeweils eingeschlossen). Dieses Ergebnis ist damit vor allem Ausdruck einer Konsolidierung in den letzten Jahren: Bei der Europawahl 2014 hatten rechtspopulistische Parteien in vielen Ländern deutliche Zugewinne erfahren, die sie nun im Wesentlichen halten konnten. Wie in vielen EU-Mitgliedstaaten wird auch im Europäischen Parlament der starke Rechtsblock zur neuen Normalität.

Diese Konsolidierung des rechten Lagers zeigt sich auch in der Aufteilung der Fraktionen, auch wenn hier noch einiges im Fluss ist. Die von der Lega dominierte, stark wachsende ENF dürfte zur neuen Referenzfraktion werden, der die meisten nationalen Rechtsparteien beitreten. Anders als früher handelt es sich dabei auch nicht mehr um ein reines Oppositionsbündnis: Inzwischen sind rechte Parteien in mehreren EU-Staaten an der Regierung beteiligt und setzen angesichts ihres wachsenden Einflusses im Ministerrat zunehmend darauf, europäische Politik aktiv mitzugestalten – wenigstens in Fragen wie dem Außengrenzschutz, in dem sie länderübergreifend eine geschlossene Position vertreten.

Neuzuschnitt der Rechtsfraktionen

Die EFDD-Fraktion hingegen, die bisher unter Führung der britischen UKIP und des italienischen M5S eine heterogene Sammlung meist nationalpopulistischer Parteien versammelte, wird im neuen Parlament wohl nicht mehr existieren. Auch die vom M5S angestrebte Neugründung der Fraktion mit veränderter Mitgliederschaft dürfte scheitern: Von den vier möglichen Partnerparteien, die M5S-Chef Luigi di Maio im Februar präsentierte, schaffte nur eine einzige (die kroatische ŽZ) den Sprung ins Parlament.

Größere Veränderungen stehen auch der nationalkonservativen EKR-Fraktion bevor, in der die bisher dominierende Kraft, die britischen Tories, stark geschwächt aus der Wahl hervorgingen und nach dem Brexit ganz wegfallen werden. Unter der neuen Führung der polnischen Regierungspartei PiS wird die EKR zwar als eigene Fraktion bestehen bleiben, muss sich aber neu definieren. Sie könnte künftig zum Auffangbecken für europaskeptische Parteien werden, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht an der ENF beteiligen wollen: Sei es, dass sie (wie die PiS) die pro-russische Linie der ENF ablehnen, sei es, dass sie (wie die italienischen FdI) auf nationaler Ebene mit einem ENF-Mitglied konkurrieren. Insgesamt dürfte die EKR dabei jedenfalls heterogener werden und zugleich weiter nach rechts rücken.

Mehrheitsoptionen: Die Große Koalition muss sich erweitern

Mehrheitsoptionen (mit UK, dynamisches Szenario), Stand: 29.5.2019. Details hier.
Der Niedergang der großen und der Aufstieg der mittelgroßen Fraktionen wirft auch die Frage auf, welche Mehrheitsoptionen im Europäischen Parlament noch möglich sind. Die Große Koalition aus EVP und S&D wird künftig bekanntlich auf die Unterstützung weiterer Fraktionen angewiesen sein. Die plausibelsten Partner sind dabei die liberale ALDE, mit der es ohne Weiteres für eine Mehrheit reicht, sowie die Grünen, mit denen zusammen EVP und S&D ebenfalls auf knapp mehr als die Hälfte der Sitze kommen.

Diese notwendige Erweiterung der Großen Koalition wird das Kräftegleichgewicht im Parlament beeinflussen, eine dramatische Veränderung dürfte sie jedoch nicht bringen. Tatsächlich waren Liberale und Grüne schon bisher bei den meisten Abstimmungen auf einer gemeinsamen Linie wie EVP und S&D: Die Suche nach großen, fraktionenübergreifenden Mehrheiten ist im Europäischen Parlament eine gängige Praxis, um in der institutionellen Auseinandersetzung mit dem Rat erfolgreich zu sein. Die neuen Mehrheitsverhältnisse werden also nur die bisherige Entwicklung verstärken, nach der die Parteien der Mitte – oft zu ihrem eigenen Verdruss – eng zusammenarbeiten müssen.

Mehrheitsoptionen: Mitte-Links kann an Bedeutung gewinnen

Neben der Großen Koalition spielten im Parlament bislang vor allem zwei Mehrheitsoptionen eine Rolle: ein Mitte-Links-Bündnis aus Sozialdemokraten, Liberalen, Grünen und Linken, das vor allem in Umwelt- und Bürgerrechtsfragen zusammenfand, sowie ein Mitte-Rechts-Bündnis als EVP, Liberalen und EKR, das in Wirtschafts- und Handelsfragen oft gemeinsame Linien vertrat. Beide Bündnisse hatten im Parlament jedoch knapp keine eigene Mehrheit, sodass sie jeweils auf Abweichler oder Enthaltungen aus anderen Fraktionen angewiesen waren.

In den nächsten Jahren könnte von diesen beiden Optionen vor allem das Mitte-Links-Bündnis an Bedeutung gewinnen. Dank der Sitzgewinne von ALDE und Grünen könnte es künftig knapp auf eine eigene Mehrheit im Parlament kommen; und auch in der Europäischen Kommission werden die Parteien links der EVP anders als früher eine Mehrheit der Mitglieder stellen. Allerdings sollte man dabei auch keine zu hohen Erwartungen haben: Das Bündnis bleibt eine politisch heterogene Gruppe („von Jean-Luc Mélenchon bis Christian Lindner“), aus der sich keine stabile themenübergreifende Allianz wird schmieden lassen. Und nicht zuletzt haben Regierungen mit EVP-Beteiligung auch nach wie vor eine Sperrminorität im Ministerrat. Es ist deshalb zu erwarten, dass sich zwar die Zusammenarbeit innerhalb des Mitte-Links-Bündnisses intensiviert, dieses aber auch in Zukunft nicht die dominante Mehrheitsoption im Parlament wird.

Mehrheitsoptionen: Mitte-Rechts wird politisch schwieriger

Demgegenüber kann das Mitte-Rechts-Bündnis zwar ungefähr seine Sitzzahl halten und wird auch künftig wohl nur knapp unter einer absoluten Mehrheit bleiben. Politisch wird diese Mehrheitsoption künftig jedoch schwieriger werden: Die nach rechts rückende und heterogenere EKR dürfte als Bündnispartner künftig unzuverlässiger werden – während sich umgekehrt die ALDE-Mitgliedsparteien in zahlreichen Ländern gerade über ihre Abgrenzung nach rechts definieren.

Von den auf nationaler Ebene regierenden Rechtsparteien (wie der Lega oder noch vor kurzem der österreichischen FPÖ) sowie von Vertretern des rechten Flügels der EVP (wie dem ungarischen Regierungschef Viktor Orbán) wurde vor der Wahl noch eine weitere mögliche Mehrheitsoption ins Spiel gebracht: nämlich ein reines Rechtsbündnis zwischen EVP, EKR und ENF. Tatsächlich kam es bereits in der Vergangenheit punktuell zu Abstimmungen, bei denen die EVP mithilfe der Rechtsparteien eine Mehrheit gegen S&D und ALDE schmiedete (etwa 2018 in der Frage der gesamteuropäischen Wahllisten). Allerdings hat das Bündnis aus EVP, EKR und ENF für sich allein weder im Europäischen Parlament noch in der Kommission oder dem Rat eine Mehrheit. Zudem lehnt der gemäßigt-liberale Flügel der EVP eine regelmäßige Zusammenarbeit mit der ENF ab.

Spitzenkandidaten: Unterwegs zur parlamentarischen Normalität

Für die Besetzung der EU-Spitzenämter bringen diese Wahlergebnisse vor allem die Aussicht auf komplizierte Verhandlungen. Mit EVP, S&D und Grünen gibt es im Europäischen Parlament zwar eine Mehrheit für das Spitzenkandidaten-Verfahren; erst gestern unterstrichen die Chefs dieser Fraktionen noch einmal, dass sie niemanden zum Kommissionspräsidenten wählen werden, der nicht zuvor als Kandidat für dieses Amt Wahlkampf geführt hat. Von dieser Linie abzuweichen, dürfte für das Parlament nicht ohne eine bleibende institutionelle Schwächung möglich sein.

Auf der anderen Seite zeichnet sich aber auch noch keine Mehrheit für einen spezifischen Kandidaten ab. Die möglichen Wege, die die vier hauptsächlichen Bewerber – Manfred Weber (CSU/EVP), Frans Timmermans (PvdA/SPE), Margrethe Vestager (RV/ALDE) sowie den Nicht-Spitzenkandidaten Michel Barnier (LR/EVP) – ins Amt führen könnten, wurden auf diesem Blog an anderer Stelle bereits genauer beschrieben. In den nächsten Wochen wird es nun intensive Gespräche sowohl zwischen den europäischen Parteien und Fraktionen als auch zwischen den nationalen Regierungschefs im Europäischen Rat geben, in denen Ratspräsident Donald Tusk (PO/EVP) für sich gestern bereits die Rolle als Vermittler in Anspruch genommen hat.

Damit erfährt auch das Spitzenkandidaten-Verfahren selbst eine Veränderung: Während es bei der Wahl 2014 noch oft so ausgelegt wurde, dass der Kandidat der stärksten Fraktion ein quasi automatisches Zugriffsrecht auf die Kommissionspräsidentschaft hätte, nehmen die Nach-Wahl-Verhandlungen zwischen den europäischen Parteien nun einen größeren Raum ein. Das lässt sich als eine Entwicklung in Richtung parlamentarischer Normalität verstehen – wobei der neue Kommissionspräsident anders als die meisten nationalen Regierungschefs nicht nur in einer, sondern in zwei Kammern (Parlament und Europäischem Rat) eine Mehrheit benötigt.

Und schließlich: Die Wahlbeteiligung

Was bei vielen Freunden der europäischen Integration am Wahlabend aber die größte Freude auslöste, waren die Daten zur europaweiten Wahlbeteiligung: Von der ersten Europawahl 1979 bis zur letzten Wahl 2014 war diese kontinuierlich zurückgegangen, von 62,0 auf 42,6 Prozent. Nun kam es erstmals zu einem Anstieg auf 51,0 Prozent – wenn auch weiterhin mit großen nationalen Unterschieden, deren Extreme wie schon vor fünf Jahren Belgien (88,5%) und die Slowakei (22,7%) markierten. Besonders stark stieg die Wahlbeteiligung in Polen (45,7% statt 23,8%), Spanien (64,3% statt 43,8%) und Rumänien (51,1% statt 32,4%) an; deutlich niedriger als 2014 lag sie nur in Bulgarien (30,8% statt 35,8%).

Der wichtigste Erklärungsfaktor für diesen Anstieg der Wahlbeteiligung dürfte die wachsende Sichtbarkeit europäischer und überstaatlicher Themen sein, die in den letzten Jahren die öffentliche Debatte in vielen Mitgliedstaaten beherrschten – von der Eurokrise über die Migration bis zum Klimawandel – und vielen Menschen vor Augen führten, dass Politik nicht mehr nur im nationalen Parlament gemacht wird. Hinzu kommt eine europaweit wachsende Zustimmung zur europäischen Integration, die insbesondere seit dem Brexit-Referendum 2016 auch von Sorge um den Verlust bisheriger Errungenschaften begleitet ist. Speziell in Deutschland, wo die Wahlbeteiligung ebenfalls überdurchschnittlich stark (nämlich von 48,1% auf 61,4%) anstieg, kamen noch massive Mobilisierungskampagnen aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft hinzu.

Angesichts all dessen erscheint eine Beteiligung von nur wenig mehr als der Hälfte der Wahlberechtigten dann allerdings auch nicht allzu überragend. Tatsächlich hat sich an den strukturellen Gründen für das vergleichsweise große Desinteresse der Bevölkerung nichts geändert. Immerhin: Dass die Beteiligung diesmal nicht noch weiter sank, verschafft dem Parlament erst einmal eine etwas bessere demokratische Legitimation. Es ist zu hoffen, dass es damit auch die nötigen institutionellen Reformen durchsetzen kann, damit künftige Europawahlen zu echten Richtungsentscheidungen werden.

Bilder: Eigene Grafiken.

1 Kommentar:

  1. Hallo,
    ich möchte nur die Gelegenheit nutzen, um dieses Blog zu loben: Die Analysen sind kurz, aber umfassend; mit vielen Informationen für Leser wie mich, die gerne mehr wüssten über europäische Politik, aber oft nicht viel Ahnung davon haben, was in anderen Ländern vor sich geht. Auch weil die Berichterstattung der meisten Medien sich viel zu sehr auf die nationalen Ereignisse konzentriert.

    Also eine wichtige Informationsquelle, die durchaus auch meine Wahlentscheidung beeinflusst hat. Weiter so!

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