Das
Warten hat ein Ende: Am heutigen Donnerstag beginnt die Europawahl – zunächst
in Großbritannien und den Niederlanden, bis zum Sonntag dann auch in allen anderen EU-Mitgliedstaaten. In den
letzten Wochen sind in diesem Blog bereits einige Artikel erschienen,
was bei der Wahl zu erwarten ist: Hier gibt es die letzte Sitzprojektion, eine Roadmap mit den wichtigsten Ereignissen der kommenden Wochen sowie verschiedene Szenarien, wie sich
das Rennen um die Kommissionspräsidentschaft nach der Wahl entfalten
könnte.
Doch
sollte man sich von solchen Prognosen nicht zu dem Eindruck verleiten
lassen, dass der Ausgang dieser Europawahl eigentlich schon
feststünde. In Wirklichkeit sind noch viele Fragen offen, auf die es
teils am Wahlabend, teils auch erst in den Tagen und Wochen danach
Antworten geben wird. Hier soll es deshalb darum gehen, wo die
wichtigsten Ungewissheiten dieses Wahlgangs liegen und worauf es sich
in den nächsten Tagen zu achten lohnt.
Liegen die Umfragen richtig?
Die
erste, offensichtliche Unsicherheit ist natürlich die
Fehleranfälligkeit von Wahlumfragen. Für das Gesamtergebnis ist
diese umso relevanter, je größer der betreffende Mitgliedstaat ist:
In kleinen Ländern, in denen insgesamt nur wenige Sitze vergeben
werden, müssen Abweichungen größer sein, um sich auf die
Sitzverteilung auszuwirken. Überraschungen am Wahlabend könnte es
deshalb vor allem in einigen größeren Mitgliedstaaten geben, in
denen die Umfragen zuletzt sehr volatil oder unzuverlässig waren:
- Besonders groß ist die Unsicherheit dabei im Vereinigten Königreich, wo sich die Umfragewerte der Parteien während des Wahlkampfs schnell entwickelten und stark schwankten. Wie hoch der erwartete Sieg der neu gegründeten Brexit Party wirklich ausfällt, wie tief die regierenden Conservatives (AKRE), aber auch die Labour Party (SPE) abstürzen und welche der proeuropäischen Parteien (LibDem/ALDE, Greens/EGP, SNP/EFA sowie die neu gegründete ChUK) wie stark dazugewinnen, wird sich erst am Wahlabend zeigen.
- Ebenfalls unklar ist der Ausgang in Polen, wo sich die Werte der Parteien je nach Umfrageinstitut stark unterscheiden. In der letzten Woche sagte eine Umfrage der regierenden PiS (EKR) einen Vorsprung von 15 Prozentpunkten voraus, während eine andere das Oppositionsbündnis KE (PO/EVP, SLD/SPE, PSL/EVP u.a.) um 10 Prozentpunkte vorn sah
- In Italien schwanken die Werte weniger stark, doch bei den letzten Wahlen (den nationalen Wahlen 2013 und 2018 und der Europawahl 2014) wichen die Ergebnisse regelmäßig weit von den Prognosen ab. Ob die Umfrageinstitute diesmal besser treffen, wird erst der Wahlabend zeigen.
- In Deutschland schließlich können aufgrund der fehlenden Sperrklausel Kleinstparteien schon mit wenig mehr als einem halben Prozent der Stimmen einen Sitz gewinnen; die meisten Umfrageinstitute weisen Werte in dieser Größenordnung jedoch nicht einzeln aus. Welche und wie viele Kleinstparteien ins Parlament einziehen könnten, ist deshalb ungewiss.
Welche Parteien überwinden die Sperrklausel?
Ein
weiterer Unsicherheitsfaktor sind nationale Sperrklauseln: Die
Europawahl findet bis heute nach Mitgliedstaaten getrennt statt;
jedes Land hat sein eigenes Sitzkontingent und gegebenenfalls auch
seine eigene Sperrklausel,
die mal bei 3, mal bei 4 oder 5 Prozent liegt. Ob eine Partei knapp
über oder knapp unter der Hürde liegt, kann deshalb mit einem
Schlag über mehrere Sitze entscheiden – vor allem in großen
Mitgliedstaaten wie Frankreich, Polen und Italien. Das wiederum hat
Einfluss auf die Stärke der betreffenden Fraktionen im Europäischen
Parlament.
Davon
betroffen ist etwa der französische PS
(SPE):
In
den Umfragen liegt
er mal
über, mal unter der Fünfprozenthürde, was für die europäischen
Sozialdemokraten einen Unterschied von vier bis fünf Sitzen im
Parlament ausmachen
wird.
In der nationalkonservativen EKR-Fraktion wird
es für die
Mitgliedsparteien aus Frankreich (DLF)
und Italien (FdI)
knapp;
Erstere liegt in den meisten Umfragen knapp unter, Letztere knapp
über der Hürde. Für
die liberale ALDE haben die Mitgliedsparteien aus Italien (+E)
und Ungarn (MM)
nur Außenseiterchancen. Und in Polen gibt es mit
Kʼ15
und
Konfederacja
gleich
zwei rechtspopulistische
Listen, deren Einzug ins Parlament ungewiss ist.
Wie sind die Fraktionen zugeschnitten?
Die
Wahlumfragen
sind
jedoch nicht der einzige Unsicherheitsfaktor für
die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments. Womöglich noch
wichtiger werden die Entscheidungen einer Reihe von Parteien, die bis
jetzt noch nicht öffentlich erklärt haben, welcher Fraktion sie
sich nach der Wahl anschließen wollen. Diese Entscheidungen werden voraussichtlich auch am Wahlabend noch nicht fallen, ziemlich sicher aber in den Tagen und Wochen danach: Bis das Parlament sich am 2. Juli zu seiner konstituierenden Sitzung trifft, dürften alle Parteien ihre Fraktion gefunden haben.
Für den Zuschnitt der Fraktionen insgesamt sind dabei natürlich vor allem jene Parteien wichtig, die auf nationaler Ebene besonders viele Sitze gewinnen können. Unter diesen gibt es derzeit zwei, deren Zukunft besonders unklar ist: die ungarische Fidesz
und das italienische M5S.
Verlässt die Fidesz die EVP?
Die Fidesz, die der Sitzprojektion zufolge mit 13 Sitzen rechnen kann, gehört
bislang der christdemokratisch-konservativen EVP-Fraktion an. Diese
nahm die Partei um Regierungschef Viktor Orbán über
viele Jahre hinweg auch gegen
den Vorwurf in Schutz, auf nationaler Ebene Demokratie und
Rechtsstaat zu zerstören. In
den letzten Monaten änderte sich dies jedoch: Die EVP ging zunehmend
auf Distanz und beschloss
im März 2019 die Suspendierung der Fidesz; umgekehrt sendet auch
Orbán deutliche
Signale für einen EVP-Austritt.
Sollte
es dazu kommen, wären die Rechtsfraktionen EKR und ENF wohl beide
sehr gern bereit, die Fidesz aufzunehmen, wobei
Viktor Orbán zuletzt vor
allem die Nähe zur ENF inszenierte. Allerdings achtete er dabei
genau darauf, das Tischtuch mit der EVP nicht endgültig zu
zerschneiden. Nach der Wahl könnte die Fidesz deshalb letztlich doch
auch in der EVP verbleiben, falls sich beide Seiten davon einen
Vorteil versprechen – was insbesondere dann der Fall sein könnte,
wenn die EVP auf die Sitze der Fidesz angewiesen ist, um weiterhin
stärkste Fraktion zu bleiben.
Schafft
das M5S eine eigene Fraktion …
Das
italienische Movimento
Cinque
Stelle
(M5S),
das
18 Abgeordnete erreichen könnte,
gehörte
bisher der heterogenen, nationalpopulistischen EFDD-Fraktion an.
Diese jedoch wird es künftig nicht mehr in ihrer heutigen Form
geben: Mehrere der aktuellen Mitglieder werden bei der Wahl nicht
mehr ins Parlament einziehen; andere haben bereits den Wechsel in
andere Fraktionen angekündigt. Das M5S strebt deshalb die Gründung
einer neuen Fraktion an, wofür
nach der Geschäftsordnung
des Europäischen Parlaments
mindestens 25 Abgeordnete aus sieben verschiedenen Mitgliedstaaten nötig
sind. Von den Verbündeten, die das
M5S bislang präsentiert hat,
haben jedoch nur zwei (die polnische Kʼ15 und die kroatische ŽZ)
Aussicht auf Sitze im Parlament.
Damit
die neue Fraktion doch noch zustande kommt, müsste das M5S deshalb
nach der Wahl weitere Partner dazugewinnen. In Frage kämen dafür
etwa die britische Brexit Party (als De-facto-Nachfolgepartei der
UKIP, die bislang der EFDD angehörte), die litauische TT (bisher
ebenfalls EFDD), die lettische KPV (die, sofern
sie einen Sitz gewinnt,
erstmals ins Parlament einziehen würde),
die rumänische ALDE (die bisher der liberalen ALDE-Fraktion
angehörte, dort jedoch
im April ausgeschlossen wurde) und die
ungarische Jobbik (bisher fraktionslos). Hinzu
könnten noch Überläufer anderer Parteien kommen – so wie 2014
die Französin Joëlle
Bergeron, die auf der Liste des Front National (ENF) gewählt
worden war, diesen aber schon kurz nach der Europawahl verließ und
die
Gründung der EFDD-Fraktion ermöglichte.
… oder schließt es sich einer bestehenden an?
Doch
auch wenn die Bildung einer neuen Fraktion nicht ganz unmöglich ist,
bleibt sie unwahrscheinlich und prekär. Sollte das M5S damit
scheitern, könnte es sich einer der bestehenden anderen Fraktionen
anschließen – wobei allerdings recht unklar ist, welcher.
Ausgeschlossen dürfte ein Beitritt zu EVP, S&D und ENF sein, in
denen bereits jeweils andere große italienische Parteien vertreten
sind. Ein Beitritt zur liberalen
ALDE-Fraktion scheiterte schon
Anfang 2017. Eine gewisse programmatische Übereinstimmung gibt
es zur Linksfraktion GUE/NGL, in der das M5S jedoch (ebenso wie in
der grünen G/EFA-Fraktion) durch seine schiere Größe das interne
Kräftegleichgewicht durcheinanderbringen würde. Es ist zweifelhaft,
dass die Fraktion sich darauf einlassen würde.
Damit
bliebe noch die nationalkonservative EKR-Fraktion um die polnische
Regierungspartei PiS: Auch wenn das M5S mit dieser inhaltlich eher
nicht auf einer gemeinsamen Linie liegt, könnte ein Beitritt im
beiderseitigen Interesse sein, um jeweils an Sichtbarkeit und
Einfluss zu gewinnen. Ob es dazu kommt oder ob das M5S doch
fraktionslos bleibt, wird sich jedoch erst in den Wochen nach der
Wahl zeigen.
Wer
wechselt noch?
Neben
Fidesz und M5S gibt es noch eine Reihe weiterer mittelgroßer
Parteien, deren künftige Fraktionszugehörigkeit ebenfalls unklar
ist.
- Die größte von ihnen ist die britische Brexit Party um Nigel Farage (19 Sitze in der Projektion), die faktisch die Nachfolge der UKIP antritt. Wie bisher wird Farage das Europäische Parlament vor allem als Bühne nutzen wollen, wofür die Mitgliedschaft in einer Fraktion und das damit verbundene längere Rederecht im Plenum hilfreich sind. An einer konstruktiven Beteiligung an der Parlamentsarbeit dürfte er hingegen kaum interessiert sein. Entsprechend könnte eine Fortsetzung des heterogenen EFDD-Bündnisses mit dem M5S für die Brexit Party interessant sein – weniger hingegen der Beitritt zur Rechtsaußenfraktion ENF, deren Mitglieder großteils nicht mehr auf den EU-Austritt, sondern auf eine aktive Umgestaltung der EU von innen heraus abzielen.
- Die spanische Rechtsaußenpartei Vox (6 Sitze in der Projektion) hat bislang noch keine klare Aussage getroffen, ob sie sich der EKR- oder der ENF-Fraktion anschließen will. Vox spielt damit eine wichtige Rolle für das Kräfteverhältnis zwischen den Rechtsfraktionen – zusammen mit Fidesz, den polnischen Kʼ15 und Konfederacja sowie einigen rechten Kleinparteien, die sich ebenfalls noch nicht erklärt haben.
- Die rumänische ALDE (4 Sitze) wurde im April aus der ALDE-Fraktion ausgeschlossen und ist im Parlament seitdem heimatlos.
- Die tschechische Regierungspartei ANO (6 Sitze) gehört bislang der ALDE-Fraktion an, ist dort jedoch wegen Korruptions- und Autoritarismus-Vorwürfen umstritten. Die erwartete Neugründung und Umbenennung der ALDE nach dem Beitritt der französischen Regierungspartei LREM könnte deshalb ein Anlass sein, um die ANO auszuschließen. Bei einem Treffen von ALDE- und LREM-Vertretern Mitte Mai war die ANO jedenfalls auffällig abwesend.
- Die polnische Wiosna (4 Sitze) wurde erst vor wenigen Monaten neu gegründet und wird erstmals ins Parlament einziehen. Die Partei hat bereits ihre Nähe zur sozialdemokratischen S&D-Fraktion bekundet, schließt aber auch andere Optionen wie die ALDE und die G/EFA noch nicht aus.
- Die tschechischen Piráti (4 Sitze) werden erstmals ins Parlament einziehen. Bislang gehörten Abgeordnete der europäischen Piratenpartei stets der G/EFA-Fraktion an; ob das auch in Zukunft so bleibt oder ob sie zur ALDE wechseln, wollen sie jedoch erst nach der Wahl entscheiden.
- Die griechische Regierungspartei Syriza (6 Sitze) gehört zur Linksfraktion GUE/NGL, betonte zuletzt jedoch wiederholt die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit mit den übrigen Mitte-links-Fraktionen. Manche Beobachter spekulieren deshalb, dass Syriza zur sozialdemokratischen S&D-Fraktion wechseln könnte – insbesondere falls innerhalb der GUE/NGL die kompromisslose, linksnationalistische französische Mitgliedspartei France Insoumise deutlich an Gewicht gewinnt.
Welche
Mehrheiten im Parlament sind möglich?
Die
größte offene Frage an dieser Europawahl dürften ihre Auswirkungen
auf die Ernennung der EU-Spitzenämter sein, allen voran des nächsten
Kommissionspräsidenten. Die Debatte darüber wird sich in den Tagen
nach der Wahl schnell zuspitzen: Bereits
für kommenden Dienstag
ist ein Sondergipfel
des Europäischen Rates angesetzt, auf
dem über das
neue Personaltableau
beraten werden soll.
Indessen
hat das Europäische Parlament wiederholt angekündigt, für das Amt
des Kommissionspräsidenten niemanden in Betracht zu ziehen, der
nicht zuvor Spitzenkandidat einer europäischen Partei gewesen ist.
Der entscheidende Hebel ist dabei Art.
17 Abs. 7 EUV, nach dem der Kommissionspräsident für seine Wahl
die Unterstützung einer absoluten
Mehrheit der Abgeordneten
benötigt. Und
so wird – selbst wenn wegen der beschriebenen Ungewissheiten das
genaue Kräfteverhältnis zwischen den Fraktionen am
Wahlabend noch nicht ganz
feststehen wird – vom ersten Tag an darüber diskutiert werden,
welche Mehrheiten im Parlament künftig möglich sind.
Hat
Weber oder Timmermans die Nase vorn?
Ein
Fokus wird dabei auf dem Verhältnis
zwischen den beiden größten Fraktionen EVP und S&D
liegen: Wird die EVP mit deutlichem Abstand stärkste Kraft, so hat
deren Spitzenkandidat Manfred Weber gute Chancen, als „Wahlsieger“
und damit als legitimer nächster Kommissionspräsident anerkannt zu
werden. Fällt das Ergebnis hingegen knapp aus oder hat gar die S&D
die Nase vorn, so dürfte der sozialdemokratische Spitzenkandidat
Frans Timmermans ebenfalls einen Anspruch auf den Posten erheben.
- Projektion vom 2. Mai 2019, Details hier.
Im
Wahlkampf hat Timmermans zudem immer wieder die Möglichkeit ins
Spiel gebracht, sich von einer Mitte-links-Allianz
aus S&D, ALDE, G/EFA und GUE/NGL wählen
zu lassen. Damit ein solch heterogenes Bündnis funktionieren kann,
müsste es jedoch deutlich über der absoluten Mehrheit liegen, um
gegebenenfalls einige Abweichler auszuhalten. Bleibt es (wie nach der
letzten Projektion zu erwarten ist) knapp unter der absoluten
Mehrheit, dürfte dieser Weg für Timmermans definitiv versperrt
sein.
In
diesem Fall wären
auch Timmermansʼ
nächste Schritte
von Interesse: Stellt er sich öffentlich hinter Weber, um das
Spitzenkandidaten-Verfahren zu stärken – so wie Martin
Schulz das 2014 mit Jean-Claude Juncker tat?
Oder wahrt er die Distanz und öffnet damit die Tür zu
komplizierteren Verhandlungen, bei denen auch
Kompromisskandidaten zum Zug kommen könnten?
Können
die Grünen Königsmacher sein?
Doch auch wenn sich Timmermansʼ S&D hinter Weber stellt, würde das
noch nicht genügen, um diesen zum Kommissionspräsidenten zu wählen.
Damit EVP und S&D auf eine absolute Mehrheit kommen, sind
jedenfalls noch die Stimmen einer dritten Fraktion nötig. In Frage
kämen hierfür vor allem die liberale ALDE oder die grüne G/EFA. Die ALDE lehnt das
Spitzenkandidaten-Verfahren jedoch ab und dürfte für eine Wahl Webers deshalb aus Prinzip nicht zur
Verfügung stehen. Die
G/EFA hingegen würde mit
sich reden lassen
– doch auch hier hegen viele Mitglieder große Vorbehalte gegenüber
Manfred Weber, sodass bei der Wahl jedenfalls
mit einigen Abweichlern zu rechnen wäre.
Aus
dieser Perspektive spielt es deshalb auch eine Rolle, wie viele Sitze
ein mögliches Bündnis aus EVP, S&D und G/EFA bei
der Europawahl gewinnt. Liegt es deutlich über einer absoluten
Mehrheit, so dürfte das Webers Chancen verbessern. Erreicht es die
absolute Mehrheit hingegen
nur knapp (wie die Projektion erwarten lässt), wird
bei der Wahl des Kommissionspräsidenten wohl
kein Weg an der ALDE vorbeiführen.
Was
passiert in den Mitgliedstaaten?
Die
gesamteuropäischen Ergebnisse sind das wichtigste, aber nicht das
einzig Interessante an der Europawahl. Auch die nationalen
Teilergebnisse können politische Auswirkungen haben – auf die
betreffenden Mitgliedstaaten, aber indirekt auch auf die EU
insgesamt:
- In Polen ist die Europawahl vor allem ein Kräftemessen zwischen der Regierungspartei PiS (AKRE) und dem Oppositionsbündnis KE, das von der liberalkonservativen PO (EVP) über die sozialdemokratische SLD (S&D) bis zu den grünen Zieloni (EGP) reicht. Welches Lager dabei vorne liegt, sendet ein wichtiges Zeichen für die nationale Parlamentswahl im Herbst – deren Ausgang für die Zukunft von Demokratie und Rechtsstaat in Polen von entscheidender Bedeutung sein dürfte.
- In Italien wachsen die Spannungen zwischen den beiden Regierungsparteien Lega (BENF) und M5S, seit Wochen wird über das bevorstehende Ende der Koalition spekuliert. Die Europawahl ist dafür ein Testlauf: Erreicht die Lega deutlich über 30 Prozent, könnte sie sich stark genug fühlen, um Neuwahlen herbeizuführen und eine reine Rechtsregierung ohne das M5S anzustreben.
- In Österreich fällt die Europawahl in die aufgeheizte Stimmung nach dem Platzen der Koalition zwischen ÖVP (EVP) und FPÖ (BENF): Gleich am Montag steht im nationalen Parlament ein Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP/EVP) an. Die Wahl dürfte hier deshalb als wichtiger politischer Stimmungstest gesehen werden und wohl einen Dauerwahlkampf bis zu den nationalen Neuwahlen im September einleiten.
- Auch in Dänemark ist die Europawahl ein Probelauf, nämlich für die nationale Parlamentswahl, die nur zehn Tage später stattfindet. Den Umfragen zufolge könnte dabei der „blaue“ Mitte-rechts-Block seine Mehrheit an die „rote“ Mitte-links-Allianz verlieren – was für die EU auch insofern von Bedeutung ist, als damit die Partei der möglichen Kommissionspräsidentschaftskandidatin Margrethe Vestager (RV/ALDE) wieder in die nationale Regierung zurückkehren würde.
- Im Vereinigten Königreich schließlich dürfte die Europawahl das nationale Parteiensystem völlig durchpflügen und eine neue Polarisierung entlang der Position zum EU-Austritt zeigen: Während die neu gegründete Brexit Party klar gewinnen dürfte, legen auch die proeuropäischen LibDems (ALDE) und Greens (EGP) deutlich zu. Die europapolitisch ambivalente Labour Party hingegen könnte auf den dritten Platz zurückfallen, und die regierenden Conservatives (AKRE) müssen gar ein einstelliges Ergebnis befürchten. Dieses Debakel wird auch die britische Regierungskrise befeuern: Womöglich gibt Premierministerin Theresa May noch an diesem Freitag ihren Rücktritt bekannt.
Ein
spannender Wahlabend
Im
Vergleich zu nationalen Parlamentswahlen hat
die Europawahl weniger Drama zu bieten: Sie ist keine
Richtungsentscheidung, bei der Regierung und Opposition einander
konfrontieren und eine Seite den Gewinn davonträgt. Stattdessen
führt sie nur zu einer Neukalibrierung der komplexen
Machtverhältnisse auf europäischer Ebene: zu politischen
Verschiebungen, die oft zu fein sind, um die
Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit zu fesseln, und die zum
Teil auch erst in den Tagen und Wochen nach der Wahl erkennbar sein
werden.
Am
Ende aber wird das Ergebnis dieser Europawahl den Kurs der
Europäischen Union in den nächsten fünf Jahren prägen. Und es
sind genügend Fragen offen, um uns am Sonntag auf einen spannenden
Abend zu freuen.
Bilder: Wahlurne: Element5 Digital [Public Domain], via Unsplash; Sitzprojektion: eigene Grafik.
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