25 Oktober 2015

Wie die EU auf Camerons „Nachverhandlung“ reagieren sollte

Bis Ende 2017 will Großbritannien ein Referendum über den Austritt aus der EU durchführen; zuvor aber fordert Premierminister David Cameron eine Reform der Union, über die der Europäische Rat im kommenden Dezember beraten wird. Wo liegen in der „British Question“ die Interessen der EU selbst und wie sollte sie auf Camerons Wünsche reagieren? In einer losen Serie von Gastartikeln antworten Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft hier auf diese Frage. Heute: Michael Emerson. (Zum Anfang der Serie.)
David Cameron befindet sich auf seiner eigenen steilen Lernkurve.

Die EU sollte vorsichtig antworten und dabei auf die fortdauernde Entwicklung von David Camerons Positionen achten. Sie sollte nach akzeptablen Lösungen für etwas suchen, das eher ein politisches Hochrisikospiel innerhalb des Vereinigten Königreichs ist als eine besonders bedeutende Angelegenheit für die EU.

Einige Worte zu den grundsätzlichen Parametern der Situation. Cameron begann den Prozess mit sehr wenig europapolitischem Verständnis und Erfahrung, angetrieben von den Slogans seiner europaskeptischen Tory-Abgeordneten. Seitdem befindet er sich auf seiner eigenen steilen Lernkurve. Die umfassenden Studien, die seine Regierung selbst durchführen ließ, zeigten ihm, dass die „Repatriierung“ von EU-Kompetenzen weder begründet noch politisch durchsetzbar war. Diese Forderungen haben sich deshalb inzwischen in Luft aufgelöst.

Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass eine Abspaltung von der EU womöglich zu einer Abspaltung Schottlands vom Vereinigten Königreich führen könnte, und das ist jedenfalls nicht das politische Vermächtnis, dass er hinterlassen möchte. Infolgedessen wird er verzweifelt nach einer Lösung suchen.

Nötig sind einige echte und einige Pseudo-Lösungen

Seit seiner Wiederwahl hat Cameron außerdem viel Zeit in Europa-Reisen gesteckt, um die Reaktionen auf seine möglichen Forderungen zu sondieren. Daraus hat er inzwischen ein Gefühl für die roten Linien anderer Mitgliedstaaten gewonnen, zum Beispiel was die Personenfreizügigkeit betrifft.

Im Ergebnis geht der Prozess nun deshalb darum, einige echte und einige Pseudo-Lösungen für ein gemischtes Paket von Themen zu finden. In einigen Fällen ist dafür die komplexe Aushandlung technischer Einzelheiten nötig, in anderen hingegen die Suche nach Sprachregelungen, um bestimmten nicht-operativen und rhetorischen Forderungen zu entsprechen.

Bei der Binnenmigration hilft der EuGH

In die erste Kategorie gehört etwa die Forderung, dass Nicht-Euro-Staaten bei der Finanzmarktregulierung nicht diskriminiert werden dürfen. Dies sollte verhandelbar sein.

Ähnliches gilt für die EU-Binnenmigration und damit verwandte Fragen zu Sozialleistungen. Hier gibt es eine wichtige Unterscheidung zwischen erwerbstätigen und nicht erwerbstätigen Migranten. In allen Fällen sollte das Prinzip der Unionsbürger-Gleichbehandlung in der Tat eine rote Linie sein. Der Europäische Gerichtshof hat jedoch für beide Kategorien von Migranten in jüngerer Zeit Urteile gefällt, die helfen dürften, den britischen Anliegen zu entsprechen, nämlich im Fall Dano im November 2014 und im Fall Alimanovic jetzt am 15. September 2015.

Für nicht-erwerbstätige Personen klärt das Urteil im Leipziger Dano-Fall, dass die Mitgliedstaaten die Kompetenz haben, das Recht auf einen Daueraufenthalt und damit auf Sozialleistungen selbst zu regeln. Im Fall Alimanovic, auch dieser aus Deutschland, urteilte der Gerichtshof, dass Mitgliedstaaten unter bestimmten Umständen beitragsfreie Sozialleistungen für Migranten verweigern können, die nach Arbeit suchen, aber keine Beschäftigung haben.

Diese Fälle kamen für Cameron überraschend, zwangen ihn aber zuzugestehen, dass der Gerichtshof zum Erreichen seiner Ziele beitrug. Die übrigen Mitgliedstaaten sollten Cameron in dieser Situation ermutigen, den Handlungsspielraum, der sich aus diesen Urteilen für das Vereinigte Königreich ergeben hat, voll auszunutzen. Eine umständliche „Nachverhandlung“ wäre dafür nicht nötig.

Britischer Zickzackkurs beim Arbeitsschutz

Darüber hinaus gibt es auch Forderungen von Tory-Abgeordneten, wieder aus den EU-Arbeitsschutzregulierungen auszusteigen. Das Vereinigte Königreich ist hier in der Vergangenheit einen Zickzackkurs gefahren: Unter dem früheren Premierminister John Major sicherte es sich ein Opt-out, das es dann unter Tony Blair aufgab.

Als letzten Dreh warnt nun der neue Chef der Labour Party, der hart linke Jeremy Corbyn, falls Cameron in dieser Sache ein neues Opt-out fordern und erreichen sollte, werde er das politisch bekämpfen. Dies würde jede Vorstellung unterminieren, dass Cameron in dieser Sache wirklich eine große Mehrheit der britischen öffentlichen Meinung vertritt. Die anderen Mitgliedstaaten können hier also bei einer harten Haltung bleiben, in dem Wissen, dass Camerons eigene Position schwach ist.

Rhetorische Lösungen für Pseudo-Forderungen

Nun zu den Pseudo-Forderungen, allen voran zu der Wendung einer „immer engeren Union“ in der Präambel des EU-Vertrags. Dies ist eine harmlose und nette, aber nicht-operative Bestrebung. Camerons Forderung kann hier durch einen vordatierten Scheck erfüllt werden, das heißt durch eine Vereinbarung, dass ein künftiger Vertrag eine etwas flexiblere (und ebenso nicht-operative) Formulierung einführen wird, die zwischen der Eurozone und dem Rest unterscheidet.

Außerdem gibt es noch die Forderung, massive Migrationsbewegungen nach künftigen EU-Erweiterungen zu verhindern. Als Antwort darauf könnte man hervorheben, dass die Übergangsbestimmungen in künftigen Beitrittsverträgen einstimmig beschlossen werden müssen.

Manche „Reform“-Wünsche betreffen nur laufende Angelegenheiten

Schließlich gibt es noch die Kategorie von EU-„Reform“-Wünschen, die sich eigentlich auf normale laufende EU-Angelegenheiten beziehen, in denen die anderen Mitgliedstaaten ihre ehrliche Unterstützung ausdrücken können, ohne dabei etwas speziell für das Vereinigte Königreich zu tun: die Handelsliberalisierung mit den USA und Japan usw., die Vollendung und Weiterentwicklung des Binnenmarkts für Dienstleistungen, Energie und den digitalen Sektor und der Abbau unnötiger EU-Bürokratie (den die Juncker-Kommission bereits in Angriff genommen hat).

All dies lässt sich gut in die Schlussfolgerungen eines Europäischen Rates packen, zusammen mit den anderen hier erwähnten Maßnahmen.

Michael Emerson ist Associate Senior Research Fellow beim Centre for European Policy Studies (CEPS).

Serienübersicht

1: Vor dem Austrittsreferendum: Wie soll die EU auf die britischen Forderungen reagieren?
2: Verdient das Vereinigte Königreich eine „besondere Behandlung“? [DE/EN] ● Simon Usherwood
3: Wie die EU auf Camerons „Nachverhandlung“ reagieren sollte [DE/EN] ● Michael Emerson
4: Großbritannien will Karten spielen: Stärkere nationale Parlamente in der EU [DE/EN] ● Valentin Kreilinger
5: Italien und der Brexit [DE/EN] ● Eleonora Poli

Übersetzung aus dem Englischen: Manuel Müller
Bilder: Number 10 [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; privat [alle Rechte vorbehalten].

How the EU should respond to Cameron’s “renegotiation”

By the end of 2017, the United Kingdom will carry out a referendum on the withdrawal from the EU. Before that, Prime Minister David Cameron calls for a reform of the Union, which the European Council will discuss coming December. But what are the EU’s own interests in the “British Question” and how should it respond to Cameron’s wishes? Representatives from politics, science and civil society answer to this question here in a series of guest articles. Today: Michael Emerson. (To the start of the series.)
“David Cameron has been on his own steep learning curve.”

The EU should respond carefully, watching the ongoing evolution in positions being taken by David Cameron. Look for acceptable solutions to what is more of a high risk political game within the UK than a matter of great substance for the EU.

Consider the basic parameters of the situation. Cameron started the process with a very poor understanding or experience of the EU, driven by the slogans of his eurosceptic Tory MPs. He has been on his own steep learning curve. His government’s own comprehensive researches informed him that “repatriation” of EU competences was neither justified nor feasible politically. So these demands have evaporated.

At the same time he has become aware that secession from the EU could quite possibly lead to secession of Scotland from the UK, and that is a political legacy that he does not want. So he will be desperate for a solution.

Real and pseudo solutions

Cameron has also now spent much of his time since re-election touring Europe to test the market for his possible demands. From this he has now a sense of the red lines of other member states, e.g. on the free movement of people.

As a result the process becomes one of arranging some real, and some pseudo solutions for a mixed bag of issues, some involving intricate negotiation of technicalities, some arranging wording that can take care of various non-operational and rhetorical demands.

The ECJ helps to deal with intra-EU migration

In the first category comes the demand for non-discrimination in financial market regulations against non-euro member states. This should be negotiable.

Next is intra-EU migration and related issues of welfare benefits. Here there is the important distinction between migrants who are in, or not in the labour force. In all cases the non-discrimination principle should be indeed a red line. However for both categories the European Court of Justice has recently handed down judgments that help accommodate British concerns, namely the Dano case in November 2014 and the Alimanovic case now on 15 September 2015.

For non-active persons the Dano ruling of a case in Leipzig clarifies the competence of member states for determining rights to permanent residence and thence of social benefits. In the Alimanovic case, also in Germany, the court judged that member states could in certain circumstances deny non-contributory social benefits to migrants that were searching for work but were without employment.

These cases took Cameron by surprise, but forced him to admit that the court was helping achieve his objectives. The other member states in this situation should encourage Cameron to maximise the UK’s margin of manoeuvre opened by these cases, which do not require difficult “renegotiation”. It is also now known that the Commission will by December propose some amendment of EU law to reduce abuse of social welfare benefits by intra-EU migrants. We have to wait and see how far this satisfies Cameron.

Zig-zagging on labour rights

More broadly there are demands from Tory MPs for opting out again from EU labour rights regulations. Remember that the UK has zig-zagged on this, out under John Major, in under Tony Blair and still today.

The latest twist here is that the new Labour leader, hard-left Jeremy Corbyn, warns that if Cameron requests and gets a renewed opt-out here, he will fight this politically, which will undermine any sense that Cameron was truly representing a large majority of British political opinion. So other member states can be tough here, knowing that Cameron’s position is weak.

Rhetorical solutions for pseudo demands

Now to the pseudo demands, first of all the “ever closer union” phrase in the preamble to the EU Treaty. This is a harmless and nice but non-operational aspiration. It can be met by a post-dated cheque, i.e. an agreement that a future treaty will accommodate some flexible (and equally non-operational) language, distinguishing between the eurozone and the rest.

Then there is the request to avoid massive migrations from future EU enlargements. This can be met by emphasising that the nature of transitional arrangements in future accessions will have to be agreed unanimously.

Some “reform” desiderata are just normal ongoing business

Finally there is the category of EU “reform” desiderata that amount to normal ongoing EU business, where other member states can genuinely express their support, without however doing anything immediately just for the UK: trade liberalisation with the U.S. and Japan, etc., completing and developing the single market for services, energy and the digital sector, and cutting unnecessary EU red tape (which the Juncker Commission is already embarked upon).

All of this can fit well into conclusions to be adopted by the European Council, packaged with the other measures mentioned.

Michael Emerson is Associate Senior Research Fellow at the Centre for European Policy Studies (CEPS).

Related articles

1: Vor dem Austrittsreferendum: Wie soll die EU auf die britischen Forderungen reagieren?
2: Does the UK deserve a ‘special deal’? [DE/EN] ● Simon Usherwood
3: How the EU should respond to Cameron’s “renegotiation” [DE/EN] ● Michael Emerson
4: The UK wants to play cards: Stronger national parliaments in the EU [DE/EN] ● Valentin Kreilinger
5: Italy and Brexit [DE/EN] ● Eleonora Poli 

Pictures: Number 10 [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; private [all rights reserved].

19 Oktober 2015

Wenn am nächsten Sonntag Europawahl wäre (Oktober 2015): Rechtes Rekordhoch in der Flüchtlingskrise

Stand: 17.10.2015
Wenn das Thema Migration in den Mittelpunkt der öffentlichen Debatte gerät, profitieren davon vor allem rechtspopulistische Parteien: Dieser traurige politische Gemeinplatz scheint sich in Europa auch in diesen Wochen zu bestätigen. Die drei Rechtsfraktionen des Europäischen Parlaments EKR, EFDD und ENF jedenfalls sind in den aktuellen Umfragen zusammen so stark wie noch nie zuvor. Wenn am nächsten Sonntag Europawahl wäre, kämen sie gemeinsam auf 171 Sitze – sechzehn mehr als im derzeitigen Parlament.

Zwar wäre es sicher falsch, dieses Rekordhoch der Rechten allein der jüngsten Flüchtlingskrise zuzuschreiben. Tatsächlich legen sie in den Umfragen bereits seit Anfang des Jahres kontinuierlich zu. Zuletzt jedoch hat sich dieser Anstieg noch einmal markant beschleunigt, und auch innerhalb des rechten Lagers fand eine Radikalisierung statt.

Je rechter, desto erfolgreicher

So muss die nationalkonservative EKR europaweit gegenüber der letzten Projektion vor acht Wochen sogar deutliche Einbußen hinnehmen. Einige ihrer radikaleren Mitglieder, besonders die deutsche AfD, legen zwar klar zu; die beiden größten Parteien – die britischen Conservatives und die polnische PiS – verlieren hingegen, sodass die EKR nun insgesamt nur noch auf 66 Sitze käme (–4).

Profitieren kann hingegen die nationalpopulistische EFDD-Fraktion. Deren beiden wichtigsten Mitglieder, die britische UKIP und das italienische M5S, taten sich schon seit jeher immer wieder mit migrationsfeindlichen Positionen hervor und können nun beide leicht zulegen. Insgesamt würde die EFDD damit nun 51 Sitze erreichen (+4), ihr bislang bester Wert überhaupt.

Größter Gewinner der letzten Wochen aber ist die Rechtsaußen-Fraktion ENF: Sowohl der französische FN als auch die österreichische FPÖ und besonders die niederländische PVV konnten ihre Umfragewerte deutlich verbessern. In der Summe käme die ENF nun auf 54 Mandate (+5), auch dies ein neuer Höchstwert der Fraktion.

EVP und S&D stabil

Dieser Aufstieg der rechten Parteien geht allerdings nicht in erster Linie zu Lasten der politischen Mitte: Die Fraktionen der Großen Koalition zeigen trotz der Flüchtlingskrise kaum veränderte Umfragewerte. In der EVP verlieren zwar die deutsche CDU/CSU sowie einige andere Mitgliedsparteien an Zustimmung; in anderen Ländern können die Christdemokraten jedoch auch Zugewinne verzeichnen. Insgesamt würde die EVP damit wie vor acht Wochen 204 Sitze erreichen (±0).

Unter den Sozialdemokraten wiederum würde sich vor allem die französische PS verbessern, was der S&D-Fraktion auch im Ganzen leichte Zugewinne beschert (193 Sitze/+3). Obwohl diese Schwankungen im Vergleich zu früheren Monaten nicht besonders groß sind, sorgen sie nebenher noch für eine weitere Neuigkeit: Noch niemals in dieser Wahlperiode war der Abstand zwischen EVP und S&D so gering.

Streit um Fidesz und SMER

Trotz dieser weitgehenden Stabilität in den Umfragewerten könnte die Flüchtlingskrise allerdings auch für die großen europäischen Parteien noch größere Auswirkungen haben. Sowohl in der EVP als auch unter den Sozialdemokraten gibt es nämlich einige Mitglieder, deren harte Haltung in der Flüchtlingskrise kaum hinter jener der Rechten zurückblieb. Besonders auffällig war dabei auf Seiten der EVP die ungarische Fidesz um Ministerpräsident Viktor Orbán, die drastische Einschränkungen bei den Rechten von Flüchtlingen beschloss. Als Reaktion forderten nicht nur die europäischen Liberalen zum wiederholten Male Maßnahmen gegen die ungarische Regierung. Auch unter Orbáns christdemokratischen Parteifreunden wurden Stimmen laut, die einen Ausschluss der Fidesz aus der EVP verlangten.

Auf Seiten der Sozialdemokraten wiederum war aus der slowakischen Regierungspartei SMER nicht nur der Vorschlag zu hören, künftig nur noch christliche Flüchtlinge aufzunehmen. Auch dass der slowakische Regierungschef Robert Fico eine Klage gegen die beschlossene EU-weite Umverteilung von Asylbewerbern ankündigte, stieß bei seinen Parteifreunden in anderen Mitgliedstaaten auf Empörung. Tatsächlich leiteten die europäischen Sozialdemokraten deshalb Anfang Oktober ein Suspendierungsverfahren gegen die SMER ein, das allerdings nach einem klärenden Gespräch recht bald wieder auf Eis gelegt wurde. Dennoch bleibt unter den Sozialdemokraten die Spannung zwischen Freunden und Gegnern Ficos erhalten.

Was die Konflikte um Fidesz und SMER für ihre jeweiligen europäischen Mutterparteien so heikel macht, ist, dass beide mit ihrem Kurs auf nationaler Ebene sehr erfolgreich sind: Beide regieren mit absoluter Mehrheit und konnten seit Beginn der Flüchtlingskrise in den Umfragen sogar noch zulegen. Gerade angesichts des knappen Abstands zwischen EVP und S&D könnten die Sitze von Fidesz und SMER sogar entscheidend dafür sein, welche Fraktion die größte ist – und damit auch, wessen Spitzenkandidat der nächste Kommissionspräsident wird. In den Ausschluss-Diskussionen geht es für EVP und S&D also auch um die Frage, ob sie für ihre Prinzipien einen Wahlsieg aufs Spiel setzen. Man darf gespannt sein, wie die Debatten in den nächsten Wochen weitergehen.

Stagnation bei Liberalen und Grünen

Wenig Veränderungen gibt es des Weiteren bei der liberalen ALDE-Fraktion. Diese profitiert derzeit vom Höhenflug ihrer spanischen Mitgliedspartei Ciudadanos, die bei der katalanischen Regionalwahl Ende September als stärkste nicht-separatistische Kraft ins Ziel ging. Aber auch die neu gegründete polnische Partei Nowoczesna trägt zu einer Stärkung der Liberalen bei. In anderen Ländern verschlechtern sich die Umfragewerte der ALDE hingegen, sodass sie insgesamt nur auf einen minimalen Gewinn kommt (75 Sitze/+1).

Die Grünen/EFA wiederum verharren in ihrem Umfragetief und fallen auf 33 Sitze zurück (–2). Die Grünen stagnieren damit bereits seit einem halben Jahr auf dem letzten Platz unter den Fraktionen im Europäischen Parlament.

Erfolge der Linken bei nationalen Wahlen …

Für die Europäische Linke schließlich brachten die letzten Wochen eigentlich einige strategisch wichtige Erfolge bei nationalen Parlamentswahlen. Nach dem Sieg der Syriza in Griechenland Ende September konnten Anfang Oktober auch die beiden portugiesischen Linksparteien BE und CDU punkten: Mit gemeinsam fast 20 Prozent der Stimmen könnten sie, falls es zu einer Einigung kommt, Juniorpartner in einer sozialistisch geführten Koalition werden.

Zudem könnte bei der spanischen Parlamentswahl im Dezember die dortige Podemos in eine ähnliche Position gelangen. Im Ergebnis würden dann in gleich drei südeuropäischen Krisenstaaten Mitgliedsparteien der Linksfraktion GUE/NGL eine entscheidende Rolle für die Regierungsbildung spielen – aus linker Perspektive ohne Zweifel das machtpolitische Best-Case-Szenario.

… aber deutlich schlechtere Umfragewerte

Derzeit allerdings scheint dieser Plan in Spanien nicht ganz aufzugehen: Anfang Oktober scheiterte nicht nur der Versuch eines Wahlbündnisses zwischen Podemos und der anderen spanischen Linkspartei IU; auch in den Umfragen musste Podemos deutliche Einbußen hinnehmen. In einer Art Flucht nach vorn schloss die Parteispitze daraufhin aus, als Juniorpartner in eine Koalition mit den Sozialisten einzutreten. Insgesamt sieht es deshalb derzeit nicht danach aus, dass im EU-Ministerrat demnächst auch Podemos-Vertreter sitzen könnten.

Diese Probleme der spanischen Linken schlagen sich – zusammen mit den ebenfalls etwas schwächeren Umfragewerten der französischen FG, der niederländischen SP und der slowenischen ZL – auch im europaweiten Ergebnis der Linksfraktion GUE/NGL nieder, die derzeit nur noch auf 51 Sitze käme (–5). Damit ist nicht nur der Höhenflug, den die Linken im vergangenen Winter erlebten, endgültig vorüber. Zum ersten Mal in dieser Wahlperiode liegen ihre Umfragewerte darüber hinaus auch unter dem Ergebnis, das sie bei der Europawahl 2014 erzielten.

Die Übersicht

Die folgende Tabelle schlüsselt die Projektion für die Sitzverteilung zwischen den Fraktionen im nächsten Europäischen Parlament nach nationalen Einzelparteien auf. Da es bis heute keine gesamteuropäischen Wahlumfragen gibt, basiert sie auf aggregierten nationalen Umfragen und Wahlergebnissen aus allen Mitgliedstaaten. Wie die Datengrundlage für die Länder im Einzelnen aussieht und nach welchen Kriterien die nationalen Parteien den europäischen Fraktionen zugeordnet wurden, ist im Kleingedruckten unter der Tabelle erläutert.


GUE/
NGL
G/EFA S&D ALDE EVP EKR EFDD ENF fʼlos Weitere
EP heute 52 50 190 70 217 74 45 39 14
Aug. 15 56* 35* 190* 74* 204* 70* 47 49 11 15
Okt. 15 51* 33* 193* 75* 204* 66* 51 54 12 12
DE 9 Linke
1 Tier
9 Grüne
1 Piraten
1 ödp
23 SPD 5 FDP
1 FW
37 Union 6 AfD
1 Familie


1 Partei
1 NPD
FR 1 FG 2 EELV 18 PS 7 MD-UDI 23 LR

23 FN

GB 1 SF 3 Greens
4 SNP
18 Lab

21 Cons
1 UUP
24 UKIP
1 DUP
IT

27 PD
9 FI
1 SVP

21 M5S 12 LN
3 FdI


ES 8 Pod
2 IU
1 Amaiur
1 ERC 14 PSOE 10 Cʼs
1 CDC
1 PNV
16 PP




PL

5 SLD-TR 4 .N 14 PO
3 PSL
22 PiS


3 Kʼ15
RO

13 PSD
16 PNL
1 UDMR




2 UNPR
NL 3 SP
1 PvdD
2 GL 2 PvdA 3 D66
4 VVD
3 CDA 1 CU
7 PVV
EL 8 Syriza
1 Potami
1 Pasok

6 ND 1 ANEL

2 XA
1 KKE
1 EK
BE
1 Groen
1 Ecolo
2 sp.a
3 PS
2 OpenVLD
3 MR
2 CD&V
1 cdH
1 CSP
4 N-VA
1 VB

PT 2 CDU
2 BE

8 PS
9 PSD-CDS




CZ 3 KSČM
6 ČSSD 7 ANO 2 TOP09
1 KDU-ČSL
2 ODS



HU
1 LMP 3 MSZP
1 DK

10 Fidesz


6 Jobbik
SE 2 V 1 MP 5 S 1 C
1 FP
5 M
5 SD


AT
2 Grüne 4 SPÖ 1 Neos 4 ÖVP

7 FPÖ

BG

5 BSP 2 DPS 7 GERB
2 RB




1 PF
DK 1 FmEU
4 S 3 V
1 LA

4 DF



FI 1 Vas 2 Vihr 3 SDP 3 Kesk 3 Kok 1 PS



SK

7 SMER
2 KDH
1 SMK-MKP
1 M-H


1 SNS
1 Sieť
IE 2 SF

3 FF 3 FG



3 Unabh.
HR

5 SDP
6 HDZ




LT
1 LVŽS 4 LSDP 2 LRLS
1 DP
2 TS-LKD
1 TT


LV

3 Sask 2 ZZS 1 V 2 NA



SI 1 ZL
1 SD 2 SMC 3 SDS
1 NSi-SLS





EE

1 SDE 2 RE
2 KE





1 EVA
CY 2 AKEL
1 DIKO
1 EDEK

2 DISY




LU
1 Gréng 1 LSAP 1 DP 3 CSV




MT

3 PL
3 PN





Verlauf

GUE/
NGL
G/EFA S&D ALDE EVP EKR EFDD ENF fʼlos Weitere
17.10.20155133193752046651541212
21.08.20155635190742047047491115
30.06.201561341887320569 43471120
03.05.201560321938020562 4451159
10.03.201560311967721660 4349127
12.01.201565401907021259 4743178
18.11.201460421956921259 4743168
23.09.20145339196672236147401510
28.07.2014564719175215664440134
EP 01.07.14525019167221704837
15

Die Zeile „EP 01.07.14“ kennzeichnet die Sitzverteilung zum 1. Juli 2014, dem Zeitpunkt der Konstituierung des Europäischen Parlaments nach der Europawahl im Mai 2014. Die Spalte für die ENF-Fraktion gibt bis Mai 2015 die Werte der Europäischen Allianz für Freiheit (EAF) bzw. der Bewegung für ein Europa der Nationen und Freiheiten (MENL) und ihr nahestehender Parteien an, die bis zur Fraktionsgründung im Juni 2015 fraktionslos waren.

Die vollen Namen der Fraktionen und der nationalen Einzelparteien erscheinen als Mouseover-Text, wenn der Mauszeiger eine kurze Zeit regungslos auf der Bezeichnung in der Tabelle gehalten wird. Bei den weiteren Parteien ist zudem die ungefähre politische Ausrichtung angegeben, um ihre Bündnismöglichkeiten auf europäischer Ebene anzudeuten. Da die betreffenden Parteien allerdings oft erst vor kurzer Zeit gegründet wurden, befindet sich ihre Programmatik zum Teil noch im Fluss, sodass die Angabe lediglich zur groben Orientierung dienen kann.

Fraktionszuordnung
Für die Projektion werden Parteien, die bereits im Europäischen Parlament vertreten sind, jeweils ihrer derzeitigen Fraktion zugerechnet, es sei denn, sie haben ausdrücklich ihren Entschluss zu einem Fraktionswechsel nach der nächsten Wahl erklärt. Nationale Parteien, die derzeit nicht im Europäischen Parlament vertreten sind, aber einer europäischen Partei angehören oder ihr in der politischen Ausrichtung sehr nahe stehen, werden der Fraktion der entsprechenden europäischen Partei zugeordnet. In Fällen, bei denen sich die Mitglieder einer nationalen Liste nach der Wahl voraussichtlich auf mehrere Fraktionen aufteilen werden, wird jeweils die am plausibelsten scheinende Verteilung zugrundegelegt. Parteien, die nicht im Parlament vertreten sind und bei denen die Zuordnung zu einer bestimmten Fraktion unklar ist, werden als „Weitere Parteien“ eingeordnet. Diese Zuordnungen folgen zum Teil natürlich auch einer subjektiven Einschätzung der politischen Ausrichtung der Parteien. Jeder Leserin und jedem Leser sei es deshalb selbst überlassen, sie nach eigenen Kriterien zu korrigieren.

Für die Bildung einer eigenständigen Fraktion sind nach der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments mindestens 25 Abgeordnete aus mindestens sieben Mitgliedstaaten erforderlich. Mit einem Asterisk (*) gekennzeichnete Gruppierungen würden nach der Projektion diese Bedingungen erfüllen. Andere Gruppierungen müssten gegebenenfalls nach der Europawahl zusätzliche Abgeordnete (z. B. aus der Spalte Weitere“) für sich gewinnen, um sich als Fraktion konstituieren zu können.

Datengrundlage
Soweit verfügbar, wurde bei der Sitzberechnung für jedes Land jeweils die jüngste Umfrage zu den Wahlabsichten für das Europäische Parlament herangezogen. In Ländern, wo es keine spezifischen Europawahlumfragen gibt oder wo die letzte solche Umfrage mehr als ein Jahr zurückliegt, wurde stattdessen die jüngste verfügbare Umfrage für die Wahl zum nationalen Parlament verwendet. Wo mehr als eine Umfrage erschienen ist, wurde der Durchschnitt aller Umfragen aus den letzten zwei Wochen vor der jüngsten Umfrage berechnet. Für Mitgliedstaaten, für die sich überhaupt keine Umfragen finden lassen, wurde auf die Ergebnisse der letzten nationalen Parlaments- oder Europawahl zurückgegriffen.
In der Regel wurden die nationalen Umfragewerte der Parteien direkt auf die Gesamtzahl der Sitze des Landes umgerechnet. In Ländern, wo die Wahl in regionalen Wahlkreisen ohne Verhältnisausgleich erfolgt (Frankreich, Vereinigtes Königreich, Belgien, Irland), werden regionale Umfragedaten genutzt, soweit diese verfügbar sind. Wo dies nicht der Fall ist, wird die Sitzzahl für jeden Wahlkreis einzeln berechnet, dabei aber jeweils die nationalen Gesamt-Umfragewerte herangezogen.
Nationale Sperrklauseln, soweit vorhanden, werden in der Projektion berücksichtigt. In Ländern, in denen es üblich ist, dass Parteien zu Wahlen in Listenverbindungen antreten, werden der Projektion jeweils die am plausibelsten erscheinenden Listenverbindungen zugrunde gelegt.
Da es in Deutschland bei der Europawahl keine Sperrklausel gibt, können Parteien bereits mit weniger als 1 Prozent der Stimmen einen Sitz im Europäischen Parlament gewinnen. Mangels zuverlässiger Umfragedaten wird für diese Kleinparteien in der Projektion jeweils das Ergebnis der letzten Europawahl herangezogen (je 1 Sitz für Tierschutzpartei, ödp, Piraten, FW, Familienpartei, PARTEI und NPD). In Großbritannien haben wegen der Unterschiede im Wahlrecht einige Parteien nur bei Europawahlen echte Chancen, Mandate zu gewinnen. In Umfragen zu nationalen Wahlen schneiden diese Parteien deshalb strukturell deutlich schlechter ab als bei der Europawahl. Dies gilt vor allem für UKIP und Greens. Um dies zu kompensieren, wird in der Projektion für die Greens stets das Ergebnis der Europawahl herangezogen (3 Sitze). Für UKIP und LibDem werden die aktuellen Umfragewerte für nationale Wahlen verwendet, aber für die Projektion mit dem Faktor 3 (UKIP) bzw. 1,33 (LibDem) multipliziert. In Italien können Minderheitenparteien durch eine Sonderregelung auch mit nur recht wenigen Stimmen ins Parlament einziehen. In der Projektion wird die Südtiroler Volkspartei deshalb jeweils mit dem Ergebnis der letzten Europawahl (1 Sitz) geführt.
Die folgende Übersicht führt die Datengrundlage für die Mitgliedstaaten im Einzelnen auf:
Deutschland: nationale Umfragen, 1.-14.10.2015, Quelle: Wikipedia.
Frankreich: nationale Regionalwahl-Umfragen, 9.-14.10.2015 (29.3.2015 für LR, MD-UDI), Quelle: Wikipedia.
Vereinigtes Königreich, England: nationale Umfragen, 28.9.-11.10.2015, Quelle: Wikipedia.
Vereinigtes Königreich, Wales: regionale Umfragen für die nationale Parlamentswahl, 24.9.2015, Quelle: Wikipedia.
Vereinigtes Königreich, Schottland: regionale Umfragen für die nationale Parlamentswahl, 7.7.2015, Quelle: Wikipedia.
Vereinigtes Königreich, Nordirland: Ergebnisse der nationalen Parlamentswahl, 7.5.2015.
Italien: nationale Umfragen, 4.-14.10.2015, Quelle: Wikipedia.
Spanien: nationale Umfragen, 1.-12.10.2015, Quelle: Wikipedia.
Polen: nationale Umfragen, 3.-16.10.2015, Quelle: Wikipedia.
Rumänien: nationale Umfragen, 15.9.2015, Quelle: Inscop.
Niederlande: nationale Umfragen, 4.-15.10.2015, Quelle: Wikipedia.
Griechenland: Ergebnisse der nationalen Parlamentswahl, 20.9.2015.
Belgien, Flandern und Wallonien: nationale Umfragen, 18.5.2015, Quelle: Baromètre politique.
Belgien, deutschsprachige Gemeinschaft: Ergebnisse der Europawahl, 25.5.2014.
Portugal: Ergebnisse der nationalen Parlamentswahl, 4.10.2015.
Tschechien: nationale Umfragen, 7.-13.10.2015, Quelle: Wikipedia. 
Ungarn: nationale Umfragen, 15.-24.9.2015, Quelle: Ipsos, Nézöpont.
Schweden: nationale Umfragen, 6.-12.10..2015, Quelle: Wikipedia.
Österreich: nationale Umfragen, 18.9.-1.10.2015, Quelle: Wikipedia.
Bulgarien: nationale Umfragen, 13.7.2015, Quelle: News7.
Dänemark: nationale Umfragen, 30.9.-12.10.2015, Quelle: Berlinske Barometer.
Finnland: nationale Umfragen, 6.10.2015, Quelle: Wikipedia.
Slowakei: nationale Umfragen, 2.10.2015, Quelle: Wikipedia.
Irland: nationale Umfragen, 12.-23.9.2015, Quelle: Wikipedia.
Kroatien: nationale Umfragen, 25.9.-4.10..2015, Quelle: Wikipedia.
Litauen: nationale Umfragen, 17.9.2015, Quelle: Vilmorus.
Lettland: nationale Umfragen, August 2015, Quelle: Latvian Facts.
Slowenien: nationale Umfragen, September 2015, Quelle: Episcenter, Ninamedia.
Estland: nationale Umfragen, September 2015, Quelle: Erakonnad.
Zypern: Ergebnisse der Europawahl, 25.5.2014.
Luxemburg: Ergebnisse der Europawahl, 25.5.2014.
Malta: nationale Umfragen, Oktober 2015, Quelle: Malta Today.

Bilder: Eigene Grafiken.