Entspricht das Verfahren zur Wahl des Europäischen Parlaments noch unseren
Erwartungen an eine europäische Demokratie? In einer losen Serie von
Gastartikeln antworten Vertreter aus Politik, Wissenschaft und
Zivilgesellschaft hier auf die Frage, wie sie sich ein besseres
Europawahlrecht vorstellen würden. Heute: Tim Weber, stellvertretender Geschäftsführer von Mehr Demokratie e.V. (Zum Anfang der Serie.)
Soll es für das
Europäische Parlament ein einheitliches Wahlrecht geben? Die Frage
wird auch bei Mehr Demokratie e.V. kontrovers diskutiert. Die
Kritiker argumentieren, dass Europa von der Vielfalt lebe und es
keine Notwendigkeit gebe, das Wahlrecht zu vereinheitlichen. Die
Befürworter hingegen führen ins Feld, dass es schließlich ein
Parlament sei und die Unübersichtlichkeit und Unverständlichkeit
der Europäischen Union sich unnötig im Wahlrecht ausdrücke.
Eigentlich fanden am 25. Mai 2014 28 Wahlen statt. In Deutschland werden 96 Abgeordnete gewählt, es gibt keine Sperrklausel; in Österreich sind es 19 Abgeordnete, die Sperrklausel beträgt vier Prozent. In Großbritannien werden 73 Abgeordnete in 12 Bezirken gewählt.
Eigentlich fanden am 25. Mai 2014 28 Wahlen statt. In Deutschland werden 96 Abgeordnete gewählt, es gibt keine Sperrklausel; in Österreich sind es 19 Abgeordnete, die Sperrklausel beträgt vier Prozent. In Großbritannien werden 73 Abgeordnete in 12 Bezirken gewählt.
Immerhin gibt es,
seitdem es Wahlen zum Europäischen Parlament gibt, Grundsätze,
geregelt im Akt
zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen. Es gilt das
Verhältniswahlsystem, aber auch das Modell der übertragbaren
Einzelstimme (Irland, Nordirland, Malta) ist zugelassen. Es darf eine
Sperrklausel geben, die aber nicht höher als fünf Prozent sein
darf. Und es gibt vier Wahlrechtsgrundsätze: „Die Wahl erfolgt
allgemein, unmittelbar, frei und geheim.“
Wie bitte? Gleich sind
die Wahlen nicht? Der Gleichheitsgrundsatz gilt tatsächlich nicht.
Denn ein Abgeordneter aus Italien benötigt wesentlich mehr Stimmen
als ein Abgeordneter aus Zypern oder Malta.
Wahlgleichheit nur
innerhalb eines Landes
Es wird gerne
eingewandt, dass auf diese Weise nun einmal das föderale Prinzip
berücksichtigt werde, die kleinen Länder müssten mit genügend
Abgeordneten vertreten sein. Nun gut, aber kann man damit wirklich
rechtfertigen, dass in Zypern ca. 100.000 Wahlberechtigte, in
Schweden ca. 354.000 Wahlberechtigte und in Italien ca. 642.000
Wahlberechtigte auf einen Abgeordneten kommen? Neben dem
Gesichtspunkt, dass kleinere Länder mit genügend Abgeordneten
vertreten sein sollen, spielen wohl auch Aushandlungsprozesse eine
Rolle, welches Land mit wie vielen Abgeordneten vertreten ist.
Da es sich nicht um
eine EU-Wahl, sondern um 28 EU-Wahlen handelt, die vorgeben, eine
EU-Wahl zu sein, ist diese Ungleichheit zwischen den Ländern auch zu
begründen. Innerhalb der Länder gilt der Gleichheitsgrundsatz. Es
ist eigentlich erstaunlich, dass das Verhältniswahlsystem akzeptiert
wurde. Denn mit der Begründung, dass nur innerhalb eines Landes der
Gleichheitsgrundsatz gilt, hätten Großbritannien und Frankreich
auch ihr Mehrheitswahlrecht behalten können. Da in jedem Wahlkreis
die Stimmen für die nicht gewählten Kandidaten verfallen,
beschränkt sich die Gleichheit in einem Mehrheitswahlsystem zwar auf
den Zählwert, nicht den Erfolgswert einer Stimme. Auch das fällt
aber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht unter den
Gleichheitsgrundsatz – anders als die heutige Verteilung der
Sitzkontingente auf Ebene der EU.
Föderalismus muss
in der zweiten Kammer berücksichtigt werden
Wer ein einheitliches Wahlrecht fordert und den Gleichheitsgrundsatz verwirklicht sehen will, muss wohl einem Zwei-Kammer-System zustimmen, in dem beide Kammern (Parlament und Senat) einem Gesetzentwurf zustimmen müssen, damit er in Kraft tritt. Für das EU-Parlament würde dann der Gleichheitsgrundsatz gelten, kleine Staaten wären nur mit einem Abgeordneten, Deutschland aber mit 100 Abgeordneten vertreten. Im Senat allerdings hätte jeder Staat z. B. zwei Vertreter, hier würde das föderale Prinzip zum Zuge kommen.
Aber auch zu dieser
Frage gibt es bei Mehr Demokratie unterschiedliche und
kontrovers diskutierte Ansichten. Nachfolgend skizziere ich, wie ein
einheitliches EU-Wahlrecht aussehen könnte und was ich für sinnvoll
halte.
Ein
Vorschlag für ein einheitliches EU-Wahlrecht
Das EU-Parlament bestünde aus 629 Abgeordneten, die proportional nach Wahlberechtigten besetzt werden. Die Wahlzahl (der Teiler, durch den die Zahl der Wahlberechtigten geteilt wird, um die Anzahl der Abgeordneten zu ermitteln) beträgt also 614.000. Jeder Mitgliedstaat stellt mindestens einen Abgeordneten. Ab 0,5 wird die Zahl der Abgeordneten aufgerundet. Deutschland als größter Mitgliedstaat käme bei dieser Regelung auf 100 Abgeordnete. Eine Senkung der Wahlzahl auf z. B. 511.250 (und damit eine Erweiterung des Gesamtparlaments auf 782 Sitze) würde für Deutschland 120 Abgeordnete bedeuten und bei proportionaler Besetzung in den kleinsten Mitgliedstaaten keine Erhöhung der Mandate mit sich bringen.
In
ihrem Buch Europa:
nicht ohne uns! (S. 146ff.)
schlagen Michael Efler und andere eine Mindestzahl von vier
Abgeordneten pro Mitgliedstaat vor. Da das föderale Prinzip in der
Zweiten Kammer verwirklicht werden würde, kann beim EU-Parlament
jedoch meines Erachtens die Mindestzahl bei eins bleiben.
Die
Wahlkreise
Die Wahlkreise sollen aus 20 bis 30 zu wählenden Abgeordneten bestehen. Bei Mitgliedstaaten, die insgesamt nur auf weniger als 20 Abgeordnete kommen, dürfen die Wahlkreise auch kleiner sein. Alternativ könnten auch mehrere Staaten einen gemeinsamen Wahlkreis bilden oder länderübergreifende Listenverbindungen erlauben. Dies würde die Wahlchancen vor allem der kleineren Parteien und Wählergemeinschaften verbessern. Denn in Staaten mit nur einem Abgeordneten würde nur eine Partei vertreten sein, d. h. mehrere andere Parteien würden keinen Sitz erhalten.
Bewusst
wird die Möglichkeit länderübergreifender Listen hier nur erwähnt.
Denn im Detail wirft ein solcher Vorschlag weitere Fragen auf.
Gleichwohl würden die Wahlen dadurch eine stärkere transnationale
Qualität erreichen. Auf eine europaweite Liste (wie im Duff-Bericht
des Europäischen Parlaments) wird jedoch verzichtet. Dieser
Vorschlag verkompliziert das Wahlrecht, ohne wirklichen Nutzen zu
erzeugen. Mir scheint die EU auch zu groß, um eine gemeinsame Liste
anzubieten.
Die
maximale Wahlkreisgröße bleibt bei 20 bis 30. Wahlkreise dieser
Größe haben den Vorteil, dass sie für die Wähler/innen
überschaubar sind und kleinere Parteien dennoch eine Chance haben,
ein Mandat zu erzielen: Die natürliche Sperrklausel liegt bei ca.
1,7 bis 2,6 Prozent. Die Auszählung erfolgt nach Sainte-Laguë.
Wahlmodalitäten
In den Wahlkreisen wird nach offenen Listen gewählt. Jeder Wahlberechtigte hat eine oder mehrere Stimmen, die er frei auf die Kandidaten, auch verschiedener Listen verteilen kann. Er kann aber auch alle seine Stimmen einem Kandidaten geben.
Das
aktive und passive Wahlrecht wird einheitlich geregelt, am besten 16
und 18 Jahre wie derzeit in Österreich. Auch für Modalitäten
wie Benachrichtigungen, Briefwahl, Wahllokale pro Wahlberechtigte
etc. soll es einheitliche Mindeststandards geben. Wahltag,
Öffnungszeiten der Wahllokale sowie Wahlpflicht können
unterschiedlich geregelt werden.
Die
folgende Tabelle zeigt auf, wie sich das Europäische Parlament
künftig zusammensetzen könnte (ohne Berücksichtigung möglicher
staatenübergreifender Wahlkreise oder Listenverbindungen):
Staat | Wahlberechtigte | Wahlkreise | Sitze (Wahlzahl: 614.000) | Sitze heute (Vertrag v. Lissabon) | |
DE | 61.400.000 | 4-5 | 100 | 96 | |
FR | 49.400.000 | 3-4 | 80 | 74 | |
IT | 46.900.000 | 3-4 | 76 | 73 | |
GB | 45.400.000 | 3-4 | 74 | 73 | |
ES | 34.731.569 | 2 | 57 | 54 | |
PL | 27.320.965 | 2 | 44 | 51 | |
RO | 18.221.061 | 1 | 30 | 32 | |
NL | 12.815.496 | 1 | 21 | 26 | |
EL | 9.907.995 | 1 | 16 | 21 | |
CZ | 8.395.132 | 1 | 14 | 21 | |
HU | 8.041.386 | 1 | 13 | 21 | |
PT | 8.000.000 | 1 | 13 | 21 | |
BE | 7.871.504 | 1 | 13 | 21 | |
SE | 7.088.303 | 1 | 12 | 20 | |
BG | 6.533.828 | 1 | 11 | 17 | |
AT | 6.410.526 | 1 | 10 | 18 | |
DK | 4.141.329 | 1 | 7 | 13 | |
FI | 4.440.297 | 1 | 7 | 13 | |
SK | 4.414.433 | 1 | 7 | 13 | |
HR | 3.767.343 | 1 | 6 | 11 | |
IE | 3.245.348 | 1 | 5 | 11 | |
LT | 2.475.000 | 1 | 4 | 11 | |
SI | 1.710.856 | 1 | 3 | 8 | |
LV | 1.472.478 | 1 | 2 | 8 | |
EE | 902.873 | 1 | 1 | 6 | |
CY | 606.916 | 1 | 1 | 6 | |
LU | 375.000 | 1 | 1 | 6 | |
MT | 344.356 | 1 | 1 | 6 | |
Summe | 629 | 751 |
Anmerkung: Die Zahl der Wahlkreise hängt von der Zahl der Stimmberechtigten ab. Die Zahl der Sitze errechnet sich durch die Division der Zahl der Stimmberechtigten durch die Wahlzahl (mit Aufrunden ab 0,5); jedes Land erhält mindestens einen Sitz.
Welche
Mindeststandards sollten geregelt werden?
Dieser soeben skizzierte Vorschlag ist von mir und keinesfalls von Mehr Demokratie e.V., wo die Frage, ob es überhaupt ein einheitliches EU-Wahlrecht geben soll, leidenschaftlich diskutiert wird. Einig sind wir uns aber, dass die bereits existierenden Mindeststandards weiter ausgearbeitet werden sollen. Erste Diskussionen gehen dabei in folgende Richtung:
● Die existierende
maximale Sperrklausel von fünf Prozent der Wählenden soll nicht
durch zu kleine Wahlkreise aufgeweicht werden können, wie es z.B. in
Großbritannien der Fall ist. Solange unter den Bedingungen 28
unterschiedlicher Wahlrechte gewählt wird und das EU-Parlament kein
gleichberechtigter Gesetzgeber ist, schließen wir uns der
Argumentation
des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts an und halten eine
Sperrklausel für verzichtbar.
● Das Wahlalter soll
einheitlich geregelt werden, und wir halten den österreichischen Weg
(16 Jahre aktives Wahlrecht) für richtig.
● Ein einheitlicher
Wahltag soll kein Mindeststandard sein. Die
geltende Rechtslage, dass Wahlen innerhalb einer Woche stattfinden
müssen, ist ausreichend. Auch die Möglichkeit der Briefwahl
soll nicht vereinheitlicht werden, da sie ohnehin anfällig für
Manipulationen ist. Ebenso soll die Wahlkampfkostenerstattung kein
Mindeststandard sein, sondern in den Ländern selbst geregelt werden.
Einheitliche Spendentransparenzregeln halten wir aber für sinnvoll.
● Die Bedingungen,
wann eine Gruppe/Partei für die Sitze ihres Landes im EU-Parlament
kandidieren kann, sind unterschiedlich und in einigen Ländern
äußerst schwierig zu erreichen. Die Registrierung unabhängiger
Listen oder Parteien muss möglich sein. Es soll ein Quorum zur
Registrierung bestehen, das aber nicht zu hoch sein darf. Gebühren
für die Registrierung dürfen, wenn überhaupt, nur minimal sein.
Wir schlagen vor, dass sich Listen/Parteien 40 Tage vor der Wahl
registrieren lassen müssen.
Demokratie muss
innerhalb der EU gestaltet und ausgebaut werden
Interessanterweise ist
das Wahlrecht ein fast schon symbolischer Streitpunkt darüber, wie
viel Einheitlichkeit es in der Europäischen Union geben darf. Die
Kritik, dass in einem kontinuierlichen Prozess Kompetenzen an die EU
gehen und dass dies durchaus eine Gefährdung der Demokratie in den
Mitgliedstaaten darstellt, teile ich.
Die Antwort auf diese
Herausforderung kann aber nicht in einem Festhalten an scheinbaren
nationalstaatlichen Errungenschaften liegen. Vielmehr bedürfte es
Änderungen der EU-Grundlagenverträge, die trennschärfer regeln
müssen, welche Fragen auf welcher Ebene entschieden werden. Vor
allen Dingen muss die personelle Zusammensetzung der Organe klar
getrennt werden. Es ist verkehrt, dass die Regierungen der
Mitgliedstaaten (Exekutive) als Gesetzgeber in den Ministerräten der
Europäischen Union wirken (Legislative). Die Kritik an der
Machtfülle der Europäischen Union ist gerade en vogue. Es
sind aber die Regierungen der Mitgliedstaaten, die den Weg dazu
ebnen.
Für Hinweise und
Rückmeldungen bedanke ich mich bei Martin Wilke und Dr. Bjoern
Benken.
Tim Weber ist stellvertretender Geschäftsführer von Mehr Demokratie e.V. In diesem Artikel beschreibt er seine eigenen Gedanken zu einem einheitlichen Europawahlrecht, die sich nicht notwendigerweise mit den Positionen von Mehr Demokratie e.V. decken müssen.
|
Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten, wie sollte es dann aussehen? – Artikelübersicht
1: Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten – wie sollte es dann aussehen?
2: Transnationale Listen: Wie aus 28 nationalen Wahlen eine europäische wird ● Jo Leinen
3: Wie ein einheitliches Wahlsystem die europäischen Parteien stärken und die Legitimation der EU erhöhen könnte ● Frank Decker
4: Transnationale Listen und zwei Kompromisse für das Wahlsystem der Europawahl 2019 (EN/DE) ● Andrew Duff
5: Wie wollen wir in der Europäischen Union wählen? Jedes Land für sich und ungleich? ● Tim Weber
6: Transnationale Listen und ein europäischer Senat: Vorschlag für eine Wahlrechtsreform für Europa ● Christian Moos
7: Wie ich mir ein besseres Europawahlrecht vorstelle ● Manuel Müller
8: Die Europawahl 2014 neu berechnet: Das Bundestagswahlrecht als Blaupause für ein einheitliches Europawahlrecht? ● Michael Kaeding
1: Wenn Sie das Wahlrecht zum Europäischen Parlament frei gestalten könnten – wie sollte es dann aussehen?
2: Transnationale Listen: Wie aus 28 nationalen Wahlen eine europäische wird ● Jo Leinen
3: Wie ein einheitliches Wahlsystem die europäischen Parteien stärken und die Legitimation der EU erhöhen könnte ● Frank Decker
4: Transnationale Listen und zwei Kompromisse für das Wahlsystem der Europawahl 2019 (EN/DE) ● Andrew Duff
5: Wie wollen wir in der Europäischen Union wählen? Jedes Land für sich und ungleich? ● Tim Weber
6: Transnationale Listen und ein europäischer Senat: Vorschlag für eine Wahlrechtsreform für Europa ● Christian Moos
7: Wie ich mir ein besseres Europawahlrecht vorstelle ● Manuel Müller
8: Die Europawahl 2014 neu berechnet: Das Bundestagswahlrecht als Blaupause für ein einheitliches Europawahlrecht? ● Michael Kaeding
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