21 Juli 2015

Große Koalition und linke Aufsteiger: Die europäischen Parteien in der Griechenland-Krise

Sergej Stanishev, Präsident der Sozialdemokratischen Partei Europas, hat auch eine Meinung zum Grexit.
Dass sich die Griechenland-Krise, die die europäische Währungsunion derzeit durchlebt, am besten als eine parteipolitische Frage verstehen lässt, habe ich auf diesem Blog bereits mehrfach geschrieben. In ihrer Berichterstattung konzentrieren sich die europäischen Medien zwar vor allem auf die nationalen Interessen der beteiligten Regierungen und sparen dabei auch nicht an Stereotypen über faule Südländer und herrschsüchtige Deutsche. Doch auf die interessantere Frage, wie die (griechische und europäische) Wirtschafts- und Schuldenkrise am besten überwunden werden kann, gibt es keine nationalen Antworten. Wenn eine produktive Auseinandersetzung über unterschiedliche Lösungsansätze stattfindet, dann zwischen den europäischen Parteien.

Und darum kann es helfen, den Blick einmal von der deutschen, französischen und griechischen Regierung zu lösen und ihn stattdessen auf die Europäische Volkspartei (EVP), die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) und die Partei der Europäischen Linken (EL) zu richten.

Die europäische Große Koalition

Seitdem es die Europäische Union gibt, ist ihre Politik von einer „informellen Großen Koalition“ geprägt. Dies liegt vor allem an einer Reihe von Verfahrensmechanismen, die sicherstellen sollen, dass kein einzelner Akteur im Alleingang seine Interessen durchsetzen kann. Beschlüsse sind in der EU meist nur möglich, wenn es dafür eine breite, parteien-, länder- und institutionenübergreifende Mehrheit gibt – und das bedeutet in der Regel eine Zusammenarbeit der beiden größten Parteien EVP und SPE, oft erweitert um die liberale ALDE.

Andere Parteien, zum Beispiel die nationalkonservative AEKR, die grüne EGP oder die linke EL, werden in die europäische Entscheidungsfindung zwar bisweilen einbezogen, sind aber deutlich weniger einflussreich. Auch politische Wahlen auf nationaler oder europäischer Ebene konnten an dieser informellen Großen Koalition bislang kaum etwas ändern. Allenfalls brachten sie gewisse Verschiebungen im Kräftegleichgewicht zwischen den beiden großen Parteien. Ein Ende der europäischen Großen Koalition ist aber nahezu unmöglich, da strukturell eben nur EVP und SPE in der Lage sind, gemeinsam in allen europäischen Institutionen die notwendigen politischen Mehrheiten zu sichern.

Eine liberalkonservative Krisenpolitik

In den ersten Jahren der Eurokrise nun war innerhalb der Großen Koalition die EVP die klar dominierende Partei. Sie stellte seit 1999 die größte Fraktion im Europäischen Parlament, seit 2004 den Präsidenten der Europäischen Kommission, seit 2009 den Präsidenten des Europäischen Rates und regierte seit 2005 in den beiden größten EU-Mitgliedstaaten Deutschland und Frankreich. Entsprechend waren auch die Strategien zur Bekämpfung der Eurokrise vor allem liberalkonservativ geprägt: Eine Kombination aus Sparmaßnahmen in den öffentlichen Haushalten und Strukturreformen zur Liberalisierung der Wirtschaft sollte das Vertrauen der Investoren wiederherstellen und dadurch das Wachstum zurückbringen.

Zum Gesicht dieser Politik wurden neben dem damaligen liberalen Währungskommissar Olli Rehn (Kesk./ALDE) vor allem die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble (beide CDU/EVP). Doch auch die europäischen Sozialdemokraten trugen diese Politik mit – teils aus Überzeugung (immerhin hatte der Merkels sozialdemokratischer Vorgänger Gerhard Schröder in den Jahren vor der Krise in Deutschland eine ganz ähnliche Politik verfolgt), teils weil sie angesichts der dominanten Position der EVP ohnehin keine durchsetzbaren Alternativen sahen.

In der Folge wurden die Mitgliedsparteien der SPE allerdings zum ersten großen politischen Verlierer der Krise: Vor allem in den meistbetroffenen Staaten wandten sich ihre Wähler unzufrieden ab, sodass 2011 mehrere sozialdemokratische Regierungen stürzten und die EVP in kurzer Zeit die nationalen Wahlen in Portugal, Spanien und Griechenland gewann. Auf dem Höhepunkt ihrer institutionellen Macht waren die Christdemokraten Ende 2011 an 22 der damals 27 EU-Regierungen beteiligt; in 17 Fällen stellten sie den Regierungschef. Innerhalb der Eurozone war die EVP nur in Zypern und Slowenien in der Opposition.

Wahlniederlagen der EVP

Allerdings führte die von der EVP vorgegebene Politik nicht zu einer raschen Überwindung der Krise. Die akute Angst vor einem Zerfall der Währungsunion wurde im Sommer 2012 vor allem durch die Europäische Zentralbank beendet, doch die forcierte Sparpolitik verhinderte einen schnellen wirtschaftlichen Wiederaufschwung. 2013 erreichte die Arbeitslosigkeit in der Eurozone den Rekordwert von 12,0 Prozent; in Griechenland und Spanien stieg sie im selben Jahr sogar auf über 25 Prozent.

In der Folge wuchs auch unter den europäischen Bürgern die Unzufriedenheit mit der Krisenpolitik – und mit der EVP, die sie dafür verantwortlich machten. Bei den nationalen Wahlen in Frankreich 2012 und Italien 2013 erlitten die Christdemokraten empfindliche Niederlagen; heute sind sie nur noch in 17 der 28 Mitgliedstaaten an der Regierung beteiligt und stellen 10 Regierungschefs. Bei der Europawahl 2014 schließlich verlor die EVP fast ein Fünftel ihrer Sitze und gewann erstmals seit zwanzig Jahren europaweit weniger Stimmen als die Sozialdemokraten. Und auch die liberale ALDE stürzte ab und landete (zum ersten Mal seit 1984) hinter den Nationalkonservativen nur auf dem vierten Platz.

Trotz dieser Verluste stellte die EVP dank einiger Besonderheiten im Europawahlrecht jedoch auch 2014 noch einmal die stärkste Fraktion des Europäischen Parlaments. Ihr Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) wurde Kommissionspräsident, und mit Donald Tusk (PO/EVP) stellt sie weiterhin auch den Präsidenten des Europäischen Rates. Für die SPE hingegen blieben nur weniger prominente Ämter: Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD/SPE), Außenbeauftragte Federica Mogherini (PD/SPE) und Eurogruppen-Präsident Jeroen Dijsselbloem (PvdA/SPE).

Aufstieg der Europäischen Linkspartei

Eigentlicher politischer Profiteur dieser Krise der großen Parteien aber war die Europäische Linke. Verglichen mit den Erfolgen des Eurokommunismus in den 70er Jahren hatten die Parteien links der Sozialdemokratie nach dem Ende des Kalten Krieges stark an Bedeutung verloren. In der Krise gelang es der EL jedoch, sich als Hauptkritiker der angeblich „alternativlosen“ Austeritätspolitik der Großen Koalition zu profilieren. Bei der Europawahl 2014 legte die linke GUE/NGL-Fraktion deshalb von 35 auf 52 Sitze zu, und auch danach setzte sich ihr Popularitätsgewinn weiter fort: Wenn heute Europawahl wäre, käme sie den Umfragen zufolge sogar auf 61 Mandate.

Die größten Erfolge erzielte die Linke dabei in den Ländern, in denen die Arbeitslosenquote infolge der Krise am stärksten gestiegen war: In Spanien etablierte sich die neu gegründete Partei Podemos auf Augenhöhe mit den Christ- und Sozialdemokraten; in Griechenland übernahm Syriza Anfang 2015 sogar die Regierung. Alexis Tsipras war damit zwar nicht der erste linke Regierungschef in der EU; in Zypern hatte bereits von 2008 bis 2013 die EL-nahe AKEL regiert. Er war jedoch der Erste, der seine Wahl durch eine explizite Kampfansage an die europäische Große Koalition gewann und entgegen einer klaren Parteinahme des EU-Kommissionspräsidenten Juncker.

Die Linke sucht nach einer machtpolitischen Strategie

Trotz dieser Zugewinne blieb die EL aber europaweit nur eine kleinere Partei: bestenfalls auf der Höhe von ALDE und AEKR, nicht aber von EVP und SPE. Mit der Regierungsübernahme in Griechenland stellte sich für sie deshalb die Frage, wie sie echten Einfluss auf die europäische Krisenpolitik nehmen könnte. Tsipras setzte vor allem auf den Versuch, die übrigen Euro-Staaten unter Druck zu setzen – sei es mit angedeuteten Vetodrohungen in der gemeinsamen Außenpolitik oder auch mit dem Referendum vom 5. Juli, das nicht zuletzt als eine Demonstration seines Rückhalts in der Bevölkerung dienen sollte.

Letztlich aber zog der griechische Ministerpräsident dabei den Kürzeren und musste schließlich in den Verhandlungen mit den anderen Regierungschefs nachgeben. Als Hauptschwäche der Linken erwies sich, dass sie außer in Griechenland an keiner weiteren nationalen Regierung beteiligt ist (lediglich in Schweden toleriert sie ein rot-grünes Minderheitskabinett). Tsiprasʼ Hoffnung liegt deshalb inzwischen vor allem auf den Wahlen in Spanien und Portugal Ende dieses Jahres, wo Podemos und die portugiesische Linkspartei CDU für die Mehrheitsbildung entscheidend werden könnten. Sobald die Linke erst einmal in genügend Mitgliedstaaten mitregiert, so die Idee, könnte ihr Kampf gegen die Austeritätspolitik auch auf europäischer Ebene erfolgreich sein.

Harte Linie der EVP

Wie aber reagieren die anderen Parteien auf die Herausforderung der Linken? Interessanterweise zeigten sich schon in den Wahlprogrammen vor der Europawahl 2014 klare Unterschiede zwischen ihren wirtschaftspolitischen Strategien. Während EVP und ALDE weiterhin vor allem auf ein unternehmerfreundliches Klima, weniger Staatsausgaben und eine strikte Kontrolle der öffentlichen Defizite setzten, machten sich SPE und Grüne eher für öffentliche Investitionen stark, für die sie den Mitgliedstaaten auch mehr haushaltspolitische Spielräume zugestehen wollten. Auch wenn sie dabei hinter den radikaleren Forderungen der EL zurückblieben, begannen sich die Sozialdemokraten also von dem harten Sparkurs zu distanzieren, den sie in den Jahren zuvor in vielen Mitgliedstaaten noch mitgetragen hatten.

Und auch in der aktuellen Griechenland-Krise zeigten sich nun noch einmal deutliche – inhaltliche wie strategische – Differenzen zwischen den großen Parteien. So vermeidet die EVP jegliches Eingeständnis von Fehlern und setzt weiterhin vor allem auf die „alternativlose“ Austeritätspolitik. Die Frankfurter Allgemeine etwa zitierte jüngst Ratspräsident Tusk (PO/EVP) mit der Warnung vor der „Illusion […], es gebe eine Alternative zum bestehenden Wirtschaftssystem, ohne Sparpolitik und Einschränkungen“. Zugleich verweisen EVP-Politiker oft darauf, dass sich die wirtschaftliche Lage in den Krisenstaaten in den letzten beiden Jahren schließlich leicht gebessert habe.

Gegenüber Alexis Tsipras wiederum verfolgt die EVP eine sehr harte Linie. Parteipräsident Joseph Daul warf der griechischen Regierung nach dem Referendum vom 5. Juli „reckless political games“ vor; bei anderen Christdemokraten war die Wortwahl noch drastischer. Höhepunkt dieser Kritik waren die Vorschläge für einen griechischen Euro-Austritt, die zahlreiche Christdemokraten mehr oder weniger unverhohlen vorbrachten: besonders prominent Wolfgang Schäuble und Alain Juppé, etwas weniger eindeutig Alexander Stubb und Nicolas Sarkozy. Auch wenn die wohl einflussreichste EVP-Politikerin, Angela Merkel, zuletzt ein Ende dieser Grexit-Debatte forderte, wurde darin doch die Überzeugung vieler Christdemokraten deutlich, dass es eine Politik, wie sie die linke Tsipras-Regierung betreibt, in der Eurozone eigentlich gar nicht geben dürfte.

Die SPE fordert ein Ende der Sparpolitik

Die SPE hingegen zeigt sich demgegenüber deutlich kompromissbereiter. Im Wahlkampf vor dem griechischen Referendum gab es zwar auch von sozialdemokratischer Seite einige Angriffe gegen die Tsipras-Regierung (etwa durch Martin Schulz oder Jeroen Dijsselbloem). Nach der Abstimmung jedoch suchte die SPE anders als die EVP rasch eine Solidarisierung mit den griechischen Nein-Stimmenden: SPE-Präsident Sergej Stanishev verwies darauf, dass die SPE ebenfalls schon seit Jahren gegen die „harsh austerity-only policies of the conservatives“ sei, und schloss einen Grexit als Lösung kategorisch aus. Auch die wichtigsten nationalen SPE-Politiker wie Matteo Renzi, François Hollande und Jean-Christophe Cambadélis vertraten eine ähnliche Linie – mit Ausnahme von Sigmar Gabriel, der dafür allerdings auch von seiner eigenen nationalen Partei heftig kritisiert wurde und daher rasch zurückruderte.

Inhaltlich verfolgt die SPE inzwischen mehrheitlich offenbar einen Kurs, der zwischen (wünschenswerten) Strukturreformen und (abzulehnenden) Sparmaßnahmen unterscheidet. Eine scharfe Distanzierung von der EL vermeidet die Partei dabei; ein Artikel auf ihrer Homepage betont die demokratische Legitimation der Syriza, die „the only hope for legitimacy in Greece“ sei. Wie weit die SPE bei dieser Abkehr von der Austeritätspolitik genau gehen will, ist bislang allerdings unklar. Trotz aller Kritik an der EVP scheinen auch die Sozialdemokraten die informelle Große Koalition, die bislang die Regierbarkeit der Eurozone sichert, jedenfalls nicht grundsätzlich in Frage zu stellen.

Eine fruchtbare Auseinandersetzung

Im Umgang mit der griechischen Krise zeigen die europäischen Parteien also sehr deutlich unterscheidbare Ansätze – und natürlich ließe sich das Bild noch weiter ausdifferenzieren, wenn man auch die liberale ALDE (die zwischen einem rechten Pro-Grexit- und einem linken, eher investitionsfreundlichen Flügel gespalten scheint), die grüne EGP (die inhaltlich den Sozialdemokraten nahesteht, ohne durch großkoalitionäre Disziplin gebunden zu sein) oder die Nationalkonservativen (wo der finnische Außenminister Timo Soini ein neues Hilfsprogramm für Griechenland erst kategorisch ausgeschlossen, zuletzt aber eine Kehrtwende vollzogen hat) mit einbezieht.

Umso bedauerlicher ist es, dass in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem nationale Interessen im Vordergrund stehen. Das liegt natürlich daran, dass die Hauptakteure in den Verhandlungen um ein neues Kreditprogramm die nationalen Regierungschefs sind, die sich nur gegenüber ihrer eigenen nationalen Wählerschaft verantworten. Wenn es um unterschiedliche Vorschläge zur Lösung der Eurokrise geht, ist die Auseinandersetzung zwischen den europäischen Parteien jedoch sehr viel fruchtbarer und interessanter. Wir sollten beginnen, diese Debatte endlich auch in der Öffentlichkeit zu führen.

Bild: By Vladimir Petkov (Кой сега е номер 2?) [CC BY-SA 2.0], via Wikimedia Commons.

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