- An der TV-Debatte zur Europawahl 2019 nahmen sechs Spitzenkandidaten teil – Kommissionspräsident wurde keiner von ihnen. Und nun?
Die
demokratische
Grundidee hinter dem Spitzenkandidaten-Verfahren war einfach:
Statt den Namen des nächsten Kommissionspräsidenten jeweils erst
nach der Europawahl zwischen den Staats- und Regierungschefs
aushandeln zu lassen, sollten die europäischen Parteien schon vor
der Wahl Kandidaten für dieses Amt benennen. Dadurch würden die
Wähler mit ihrer Stimme selbst einen indirekten Einfluss auf die
Besetzung der wichtigsten europäischen Exekutivposition ausüben
können – und die Funktionsweise der EU einen Schritt weiter an die
Abläufe parlamentarischer Demokratien angeglichen werden, in denen
die Nominierung von Spitzenkandidaten (ob diese nun party leader,
Kanzlerkandidat oder candidato
premier heißen) seit jeher
gebräuchlich ist.
Ganz
unumstritten war das Verfahren, das 2014 zum ersten Mal zur Anwendung
kam, allerdings nie. Und spätestens seitdem das Europäische
Parlament im vergangenen Juli keinen der Spitzenkandidaten der
vorangegangenen Europawahl, sondern die vom Europäischen Rat
vorgeschlagene Überraschungskandidatin Ursula von der Leyen
(CDU/EVP) zur Kommissionspräsidentin wählte, ist die
Reformdiskussion wieder voll entbrannt. Von der Leyen selbst erklärte
in ihren politischen
Leitlinien, „dass wir die Art und Weise, wie wir die politische
Führung unserer Organe bestimmen und wählen, auf den Prüfstand
stellen“ und „das Spitzenkandidaten-System gemeinsam verbessern
müssen“, und kündigte eine „Konferenz zur Zukunft Europas“
an, die bis Sommer 2020 entsprechende Vorschläge machen soll.
Ein europapolitischer Dauerbrenner
Wirft man den Blick zurück, so entpuppt sich die Diskussion über das
Verfahren zur Wahl der Kommission und ihres Präsidenten als ein
europapolitischer Dauerbrenner der letzten drei
Jahrzehnte. Dabei gewann das Parlament schrittweise immer weiter an Bedeutung:
Wurden die Kommissionsmitglieder in der Anfangszeit der europäischen Integration noch allein von den nationalen Regierungen ernannt (Art.
158 EWG-Vertrag),
so erhielt das Parlament mit dem Vertrag von Maastricht 1993
erstmals ein Zustimmungsrecht (Art.
158 EGV-Maastricht). Außerdem wurde die Amtszeit der Kommission ab 1995 von vier auf fünf Jahre verlängert, um sie mit den Wahlperioden des Parlaments in
Einklang zu bringen.
Der Vertrag von Amsterdam stärkte
ab 1999 auch die Rolle des Kommissionspräsidenten
selbst: Dieser wird seitdem schon vor
den übrigen Kommissionsmitgliedern gewählt und
erhält bei deren Nominierung ein Mitspracherecht
(Art.
214 EGV-Amsterdam).
Mit dem Vertrag von Nizza 2002 verloren die nationalen Regierungen ihr Veto; seitdem gilt im Europäischen Rat bei der Ernennung der Kommission die qualifizierte Mehrheit,
wodurch Blockaden einzelner Länder leichter überwunden werden
können (Art.
214 EGV-Nizza).
Symbolisch
gekrönt wurde diese Entwicklung Ende 2009 mit dem Vertrag von
Lissabon, der zwar nicht den formalen Ablauf, wohl aber die
Formulierungen für die Kommissionswahl änderte (Art.
17 EUV).
Hieß es vorher, dass die Regierungen den Kommissionspräsidenten
„ernennen“ und das Parlament seine „Zustimmung“ dazu gibt, so
„schlägt“ der Europäische Rat den Präsidenten nun nur noch
„vor“ (wobei er das Ergebnis der Europawahl „berücksichtigt“),
während das Parlament ihn „wählt“. Diese Wortwahl legt nahe,
dass das Parlament der zentrale Ort für die Legitimierung des
Kommissionspräsidenten sein soll: Nicht
von ungefähr deckt sie sich mit jener in
Art.
63 des
deutschen Grundgesetzes,
nach der der deutsche Bundeskanzler „auf Vorschlag des
[Bundes-]Präsidenten
vom Bundestage […] gewählt“ wird.
Konfliktreiches
Tauziehen zwischen Parlament und Rat
Parallel
zu diesen Reformen im Vertragstext änderte sich schrittweise auch
die Verfassungspraxis – in ständigem,
oft konfliktreichem
Tauziehen
zwischen
Parlament und Rat. Die Auseinandersetzungen
begannen
vor allem nach der Europawahl 1999, als die nationalen Regierungen
trotz des Wahlsiegs
der konservativen Europäischen Volkspartei
mit Romano Prodi (Dem/ELDR) einen Kommissionspräsidenten aus dem
Mitte-links-Spektrum nominierten. 2004 machte die EVP deshalb schon
vor der Wahl klar, dass sie bei einem erneuten Sieg die
Kommissionspräsidentschaft für eines ihrer Mitglieder beanspruchen
würde. Letztlich fiel die Entscheidung der Regierungschefs daraufhin
auf José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP).
Fünf
Jahre später forderte die Union Europäischer Föderalisten mit der
Kampagne Who
is your candidate?
die europäischen Parteien dazu auf, noch einen Schritt weiter zu
gehen und bereits vor der Europawahl 2009 ihre Kandidaten für die
Kommissionspräsidentschaft zu benennen. Der unmittelbare Effekt
dieser Kampagne hielt sich in Grenzen: Während die EVP sich damit begnügte, Barroso für eine zweite Amtszeit zu empfehlen,
ließen sich die europäischen Sozialdemokraten überhaupt nicht darauf ein, da mehrere damals amtierende sozialdemokratische Regierungschefs ebenfalls eine zweite
Amtszeit Barrosos anstrebten und erfolgreich verhinderten, dass ihre Partei ihnen mit der
Aufstellung eines Gegenkandidaten dazwischen funkte.
Der
Durchbruch von 2014
Zum
Durchbruch kam das neue Verfahren erst bei der Europawahl 2014. Nun
waren es besonders Sozialdemokraten und Grüne, die sich schon
frühzeitig auf die Nominierung von Spitzenkandidaten festlegten.
In
der EVP – die inzwischen einen Großteil der Regierungen im
Europäischen Rat stellte, sich aber des Wahlsiegs bei der Europawahl
nicht
mehr sicher sein konnte – wurden hingegen Zweifel laut:
Prominente
Politiker wie Bundeskanzlerin
Angela Merkel (CDU/EVP)
oder Ratspräsident
Herman van Rompuy (CD&V/EVP)
betonten,
dass bei der Wahl des Kommissionspräsidenten auch der Europäische
Rat ein Mitspracherecht behalten müsse.
Dennoch nominierten letztlich mit Ausnahme der europaskeptischen
Rechten alle großen europäischen Parteien Spitzenkandidaten.
Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) und Martin Schulz (SPD/SPE) lieferten
sich das
erste, wenn auch wenig aufregende gesamteuropäische TV-Duell in
einem Europawahlkampf.
Die
eigentliche Auseinandersetzung folgte auch 2014 allerdings erst nach
der Europawahl: Nachdem
die EVP knapp stärkste Fraktion geworden war, stellte sich
eine Mehrheit des Parlaments schnell hinter
den Wahlsieger Juncker. Im
Europäischen Rat hingegen
leisteten mehrere
Staats- und Regierungschefs noch
wochenlang Widerstand,
der in einer
öffentlichkeitswirksamen
Bootsfahrt
der Spitzenkandidaten-Gegner
gipfelte.
Als auf Druck der deutschen Öffentlichkeit letztlich auch Merkel
Juncker akzeptierte, blieben von den Gegnern jedoch
nur
noch David Cameron (Cons./AEKR)
und Viktor Orbán (Fidesz/EVP) übrig, die schließlich im
Europäischen Rat überstimmt wurden.
Neuer
Streit vor der Europawahl 2019
Das
Ringen zwischen Befürworten und Gegnern der Spitzenkandidaten setzte
sich auch in den folgenden Jahren weiter fort.
Einen vor
allem symbolpolitischen
Versuch des Europäischen Parlaments, die Spitzenkandidaten auch
im
Europawahlrecht zu verankern, schmetterten
die
nationalen Regierungen 2016 ab.
Dennoch
schien das
Parlament in dieser institutionellen Auseinandersetzung nach
seinem Erfolg von 2014 strukturell
die
besseren Karten zu haben
– jedenfalls
solange
die europäischen Parteien dem Verfahren treu bleiben und nach
der Wahl rasch hinter
dem Wahlsieger vereinigen würden.
Die
Europawahl 2019 zeigte indessen, dass dieses „Solange“ nicht von
langer Dauer war. Zum einen zerstritten sich die Parteien über
die genaue Deutung des Verfahrens: Sollte grundsätzlich der Kandidat
der stärksten Fraktion ein Vorgriffsrecht auf die
Kommissionspräsidentschaft haben (wie das die EVP forderte, die in
den Umfragen seit Mitte 2017 mit deutlichem Vorsprung führte)? Aber
was, wenn dieser Kandidat von den übrigen Parteien abgelehnt würde
– so wie Manfred Weber (CSU/EVP), dem Sozialdemokraten,
Liberale und Grüne eine übermäßige Nähe zu Viktor Orbán
vorwarfen – und
keine Mehrheit im Parlament fand?
Vom
institutionellen zum parteipolitischen Konflikt
Noch komplizierter wurde die Lage zum anderen durch den Streit um gesamteuropäische
Europawahllisten – eine langjährige
Forderung von Freunden der europäischen Demokratie, die sich ab
2017 auch der neugewählte französische Präsident Emmanuel Macron
(LREM/ALDE-nah) zu eigen machte. Als die EVP diesen Vorstoß Anfang
2018 scheitern ließ, verhärteten
sich die Positionen zwischen Konservativen und Liberalen. Während
Erstere sich für Spitzenkandidaten einsetzten, aber transnationale
Listen ablehnten, sahen Letztere ohne transnationale Listen keinen
Grund mehr, das Spitzenkandidaten-Verfahren überhaupt noch zu
unterstützen.
Der Konflikt um die Kommissionspräsidentenwahl erreichte damit eine neue
Dimension. Handelte es sich zuvor vor allem um eine institutionelle
Auseinandersetzung (zwischen Parlament und Rat, zwischen europäischen
Parteien und nationalen Regierungen, zwischen Supranationalisten und
Intergouvernementalisten), so wurde es nun zu einer parteipolitischen
Frage, über die es auch
innerhalb des proeuropäischen Lagers keine Einigkeit gab. Als
dann auch noch die Große Koalition aus EVP und Sozialdemokraten bei der Europawahl ihre Mehrheit verlor, kam es zur Blockade im
Parlament. Einen Monat lang gelang es den Parteien nicht, sich auf einen
Kandidaten zu einigen; dann übernahm Anfang Juli der Europäische Rat wieder das Ruder.
Es
geht um die demokratische Verfasstheit der EU
Und
nun? Wenn nach dem Vorschlag der neuen Kommissionspräsidentin im
nächsten Jahr „die Art und Weise, wie wir die politische Führung
unserer Organe bestimmen und wählen, auf den Prüfstand“ gestellt
werden soll, ist es Zeit, die Debatte über die Stärken
und Schwächen
des Spitzenkandidaten-Verfahrens verstärkt auch in der
Öffentlichkeit zu führen. Die Konflikte des vergangenen Jahres
haben im Europäischen Parlament einige Verletzungen hinterlassen,
wie zuletzt bei
den Anhörungen der übrigen Kommissionsmitglieder noch einmal
deutlich wurde. Aber hier geht es um mehr als um
personalpolitische Streitigkeiten zwischen Parteien: Es geht um die
demokratische Verfasstheit der Europäischen Union.
In
den kommenden Wochen wird dieses Blog in einer Serie von
Gastbeiträgen Ideen
zur Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens präsentieren.
Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und
Zivilgesellschaft werden sowohl pragmatische, leicht umzusetzende
Schritte als auch ambitioniertere grundsätzliche Änderungsvorschläge
bei der Wahl des Kommissionspräsidenten in den Blick nehmen. Den
Anfang macht in Kürze Frank Decker, Politikwissenschaftler an der
Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens – Artikelübersicht
- Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Serienauftakt
- Für eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten und ein neues Europawahlrecht: Wege und Irrwege der Demokratie in der EU ● Frank Decker
- Noch nicht ausgemustert: Gezielte Reformen können das Spitzenkandidaten-Verfahren wieder erfolgreich machen ● Julian Rappold
- Die Europawahl darf keine Wundertüte sein: Für eine rechtliche Verankerung des Spitzenkandidaten-Prinzips ● Gaby Bischoff
- Wiederbelebung des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Was können die europäischen Parteien selbst tun? [EN / DE] ● Gert-Jan Put
- Das Spitzenkandidaten-System: ein Blick aus Tallinn [EN / DE] ● Piret Kuusik
- Wissen, wer was tun wird: Transnationale Listen können das Spitzenkandidaten-System retten [FR / DE] ● Charles Goerens
- Das Polarisierungsdilemma: Streit zwischen den Parteien belebte 2019 den Europawahlkampf – und ließ dann die Spitzenkandidaten scheitern ● Manuel Müller
Bild: European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Flickr.
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