- Präsidentschaftskandidaten brauchen in den USA oft schon für den Vorwahlkampf ein Stadion. In Europa genügte dafür bislang ein Hinterzimmer. Aber das soll sich ändern.
Wenn es nach dem
Europäischen Parlament geht, dann soll die nächste Europawahl –
und besonders der nächste Europawahlkampf – etwas ganz Besonderes
werden. In der Entschließung
„über verbesserte praktische Vorkehrungen für die Wahlen zum
Europäischen Parlament im Jahre 2014“, die sie vor einigen Tagen
verabschiedeten, appellieren die Europaabgeordneten jedenfalls
eindringlich an alle beteiligten Akteure, diesmal doch bitte endlich
die europäische Dimension der Wahl in den Vordergrund zu stellen:
Unter anderem fordern sie die nationalen Parteien auf, „die
Bürgerinnen und Bürger vor und während der Wahlkampagne über ihre
Zugehörigkeit zu einer europäischen Partei sowie über […] deren
politisches Programm zu informieren“. Außerdem werden die Mitgliedstaaten gebeten, „politische Werbesendungen der europäischen Parteien
zuzulassen“ und „dafür Sorge zu tragen, dass die Namen
– und gegebenenfalls die Embleme – der europäischen Parteien auf
dem Stimmzettel abgedruckt sind“. Klingt banal?
Bemerkenswerterweise würde es sich bei all diesen Maßnahmen um
Neuheiten in der Geschichte der Europawahlen handeln.
Die eigentliche
Besonderheit aber werden die Spitzenkandidaten für das Amt des
Kommissionspräsidenten sein, die die europäischen Parteien 2014
erstmals schon vor der Wahl
nominieren werden. Grundlage dafür ist Art. 17
Abs. 7 EU-Vertrag, wo es zur Wahl des Kommissionspräsidenten
heißt:
Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder.
In
der Vergangenheit wurde dieses Verfahren meist so umgesetzt, dass die
Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat weitgehend
freihändig einen Kandidaten aussuchten, den das neu gewählte Parlament dann
abnickte, um keine institutionelle Krise auszulösen. Demgegenüber
setzte sich in den letzten Jahren jedoch die Überzeugung durch, dass
das Vorschlagsrecht des Europäischen Rates eher als ein formeller
Akt zu verstehen sein sollte, ähnlich wie das des deutschen
Bundespräsidenten bei der Wahl des Bundeskanzlers nach Art. 63
GG. Die eigentliche Entscheidung hingegen sollen die Bürger
selbst treffen, indem sie bei der Europawahl einer Partei und einem
Spitzenkandidaten zu einer Mehrheit im Parlament verhelfen. Die
Europaabgeordneten jedenfalls erwarten in ihrer Entschließung, dass
bei der Ernennung des Kommissionspräsidenten „der Kandidat
[...], der von der europäischen Partei unterstützt wurde, die die
meisten Sitze im Parlament errang, als Erster den Versuch unternehmen
darf, sich die Unterstützung der benötigten absoluten Mehrheit im
Parlament zu sichern“.
Die Kandidatenfrage
Es
braucht hier wohl nicht eigens betont zu werden, welche
demokratischen Vorteile dieses neue Verfahren mit sich bringt. Zum
einen gibt es den Bürgern bei der Besetzung eines der wichtigsten
Ämter der EU einen viel direkteren Einfluss; zum anderen wird es zu
einer Personalisierung und damit zu einer größeren Medienpräsenz
der Europapolitik führen. Außerdem wahrt es das institutionelle
Gleichgewicht zwischen Parlament und Kommission und vermeidet dadurch
eine Reihe von Problemen, die mit
einer Direktwahl des Kommissionspräsidenten verbunden wären.
Zugleich
jedoch bringt das neue Verfahren auch eine Herausforderung für die
europäischen Parteien mit sich, die die
Kommissionspräsidentschaftskandidaten nominieren müssen. Schon auf
nationaler Ebene sind Kandidatenfragen oft hart zwischen den
verschiedenen Flügeln einer Partei umstritten – um wie viel größer
ist erst das Konfliktpotenzial für die heterogeneren und weniger
vernetzten europäischen Parteien. Wie einigt man sich auf einen Kandidaten, der in den
nationalen Öffentlichkeiten von 28 Mitgliedstaaten gleichermaßen
Zugkraft entwickeln kann? Wie geht man dabei mit den Befindlichkeiten
der nationalen Mitgliedsparteien um, welche Rolle gibt man im
Nominierungsverfahren den einzelnen Parteimitgliedern? Und vor allem: Wie kann man sicherstellen, dass bei der
Nominierung tatsächlich ein transnationaler Meinungsbildungsprozess
stattfindet – und nicht nur jede nationale Mitgliedspartei einen
Kandidaten aus dem eigenen Land zu puschen versucht?
Zwei
Parteien haben bereits eine Antwort auf diese Fragen gegeben,
nämlich die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) und die
Europäische Grüne Partei (EGP). Beide haben auf Kongressen in den
vergangenen Jahren ein mehrstufiges Verfahren und einen Zeitplan für
die Nominierung ihrer Spitzenkandidaten beschlossen.
Die primaries der SPE
Bei
der SPE stehen während des gesamten Verfahrens die 38
Mitgliedsverbände (33 nationale
Mitgliedsparteien sowie fünf
Mitgliedsorganisationen, etwa der SPE-Jugendverband YES) im
Mittelpunkt. Ein Kandidat, der sich für das Amt des
Kommissionspräsidenten aufstellen lassen will, muss dafür zunächst
bis Ende Oktober 2013 die schriftliche Unterstützung von seiner
eigenen nationalen Partei sowie von mindestens fünf weiteren
Mitgliedsverbänden einwerben. Dabei kann jeder Verband nur einen
Kandidaten unterstützen, sodass es insgesamt maximal sechs
Kandidaten geben kann, die alle aus unterschiedlichen Ländern
kommen.
Die
endgültige Entscheidung zwischen diesen bis zu sechs Kandidaten
fällt schließlich im Februar 2014 auf einem SPE-Parteikongress, zu
dem jeder der 38 Mitgliedsverbände eine bestimmte Anzahl von
Delegierten entsendet. Die Zahl der Delegierten jeder nationalen
Mitgliedspartei orientiert sich dabei grob an der Einwohnerzahl ihres
Landes sowie an der Zahl der Sitze, die sie bei der letzten
Europawahl gewonnen hat. (Bei dem letzten
Parteikongress 2012 etwa waren es 345 Delegierte, darunter 28 der
deutschen SPD, 9 der österreichischen SPÖ und 4 der luxemburgischen
LSAP.)
Allerdings
sind die Delegierten in ihrer Wahl nicht frei. Vielmehr führt jeder
der 38 Mitgliedsverbände zuvor zwischen Dezember 2013 und Januar
2014 eine interne Abstimmung durch, für wen seine Delegierten auf
dem Kongress stimmen müssen. Deren genauer Ablauf ist den Verbänden
selbst überlassen; Voraussetzung ist nur eine „direkte oder
indirekte Konsultation der Mitglieder“. Die Ergebnisse werden dann
proportional auf die Delegierten übertragen: Wenn sich also zum
Beispiel drei Viertel der SPD-Mitglieder für Kandidat A und ein
Viertel für Kandidat B aussprechen, so müssten auf dem
Parteikongress 21 der 28 SPD-Delegierten für A und 7 für B stimmen.
Wer auf dem Kongress die Mehrheit der Delegiertenstimmen auf sich
vereinigt, wird schließlich zum Spitzenkandidaten der SPE erklärt.
Insgesamt
erinnert dieses Verfahren stark an die primaries,
mit denen die US-amerikanischen Parteien ihre
Präsidentschaftskandidaten nominieren. Wie partizipatorisch es
letztlich wird, ist allerdings noch nicht sicher vorauszusagen. So
könnte es sein, dass schon in der ersten Phase zu viele potenzielle
Kandidaten an den erforderlichen sechs Unterstützungserklärungen
scheitern, sodass die Auswahl zuletzt sehr begrenzt ist. Oder die
Konsultationen der nationalen Parteimitglieder könnten allzu
„indirekt“ ausfallen, sodass der Spitzenkandidat letztlich hinter
weitgehend geschlossenen Türen von den nationalen Parteienführungen
ausgeklüngelt wird.
Die Online-Vorwahl der EGP
Offener
ist demgegenüber das Verfahren
der EGP. Hier können die nationalen Parteien zunächst bis zum
19. Oktober 2013 einen oder mehrere Kandidaten nominieren. Diese
müssen dann bis zum 7. November Unterstützungserklärungen von
mindestens fünf nationalen Mitgliedsparteien vorlegen, wobei diesmal
jede Partei nur einen Kandidaten unterstützen kann. Insgesamt wird
so auch bei der EGP das Tableau auf maximal sechs Kandidaten
reduziert; anders als bei den Sozialdemokraten können dabei aber
mehrere Kandidaten aus demselben Land kommen.
Der
größte Unterschied allerdings betrifft die zweite Phase des
Nominierungsverfahrens. Hier nämlich planen die Grünen im Gegensatz zur SPE keine nationalen Vorwahlen, sondern eine gesamteuropäische
– und zwar in Form einer Online-Abstimmung, an der sich alle
Unionsbürger über 16 Jahren beteiligen können, die sich zu „den
Grundwerten, den politischen Zielen und der politischen Arbeit“ der
EGP bekennen. Bei dieser Abstimmung sollen dann zwei
Spitzenkandidaten gewählt werden, wobei entsprechend der
Parteitradition wohl mindestens einer dieser Kandidaten eine Frau
sein soll. Allerdings gibt es dafür bislang noch keine expliziten
Verfahrensmechanismen: Wie genau die Online-Abstimmung funktionieren
wird, soll erst ein EGP-Parteitag im Herbst 2013 beschließen.
Alles
in allem könnte das Auswahlverfahren bei den Grünen also deutlich
partizipatorischer werden als bei der SPE. Zwar ist die
Online-Abstimmung auch mit einigen technologischen Fallstricken
verbunden: Wie kann man im Internet eine sichere und anonyme Wahl
organisieren? Und grenzt man damit nicht die weniger internetaffinen
Wähler, etwa Ältere oder sozial Schwache aus? Vor allem aber wird
sie die erste genuin transnationale Abstimmung in der europäischen
Geschichte sein: Erstmals werden Bürger in allen Mitgliedstaaten zur
selben Zeit eine Auswahl zwischen denselben Kandidaten treffen –
und allein das verspricht schon ein demokratiepolitischer Höhepunkt
zu werden.
Und die EVP?
Weniger
vielversprechend sind hingegen die Pläne der übrigen europäischen
Parteien. Zwar haben auch die christdemokratische EVP und die
liberale ALDE angekündigt, dass sie zur Europawahl mit eigenen
Spitzenkandidaten antreten werden, doch bislang hat keine von ihnen
dafür ein Verfahren beschlossen. Die ALDE will sich mit dieser Frage
erst
auf ihrem Kongress Ende November befassen und dann gegebenenfalls
Anfang Februar 2014 einen speziellen Nominierungsparteitag
einberufen. Die EVP, die sich neben der SPE die besten
Hoffnungen auf den Wahlsieg machen kann, hat hingegen noch gar keinen Zeitplan. Zu der Nominierungsfrage war von ihr zuletzt nur zu hören,
dass der polnische Premierminister Donald Tusk (PO/EVP),
der immer wieder als möglicher Favorit der Partei genannt worden
war, Mitte Juni sein
Desinteresse an einer Kandidatur erklärte.
Das ist in mehrerer Hinsicht bedauerlich. Denn natürlich ist es noch immer möglich, dass auch die EVP zuletzt einen spannenden Vorwahlkampf hinlegen wird. Doch je knapper die Zeit wird, desto
unwahrscheinlicher wird es, dass dieser transparent und unter breiter
Beteiligung von Parteimitgliedern und Sympathisanten abläuft. Es steigt die Gefahr, dass die Christdemokraten zuletzt in
aller Eile einen Kandidaten aus dem Hut zaubern, der ebenso
uncharismatisch ist und für die europäische Öffentlichkeit ebenso
unbekannt bleibt wie all die anderen Kommissionspräsidenten in den
letzten zwanzig Jahren. Das aber könnte den demokratischen Impuls
dieses Europawahlkampfes insgesamt beschädigen: Denn an wem
soll der mühevoll ausgesuchte Spitzenkandidat der SPE sich denn messen, wenn nicht an einem leidenschaftlichen und
überzeugten Kandidaten der EVP?
Gemeinsames Interesse
an einem spannenden Wahlkampf
Und
wir sollten uns nicht täuschen: Noch ist es keineswegs ausgemacht, ob sich die politische Initiative bei der
Ernennung des Kommissionspräsidenten tatsächlich dauerhaft vom Europäischen Rat zum Europäischen Parlament verschoben hat. Die deutsche Bundeskanzlerin
Angela Merkel (CDU/EVP) jedenfalls äußerte
erst vor einigen Wochen ihre Ansicht, „dass es dem
Gleichgewicht aller Institutionen guttut, wenn die Staats- und
Regierungschefs bei dieser Entscheidung auch gefragt sind“. Und die
Süddeutsche Zeitung berichtete
kürzlich über die 2014 anstehende Neubesetzung der Spitzenämter
in EU und NATO, ohne die europäischen Parteien in dem Artikel auch
nur zu erwähnen.
Die
Entscheidung über die wichtigsten politischen Ämter der EU in die
Hände des Europäischen Parlaments – und damit in die Hände der
europäischen Wähler – zu legen, ist ein zentraler Schritt bei der
Demokratisierung der Europäischen Union. Mit einem transparenten und
partizipatorischen Vorwahlverfahren können die europäischen
Parteien jetzt ihren Beitrag dazu leisten. Am Ende haben sie schließlich ein gemeinsames Interesse daran, dass es 2014 einen
spannenden Wahlkampf gibt: Ihr Ziel muss es sein,
dabei so viel öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen, dass es zuletzt auch die europäischen Bürger für eine Selbstverständlichkeit halten, dass der Kommissionspräsident bei der Europawahl gewählt wird und nicht im Nachhinein unter den Staats- und Regierungschefs ausgeknobelt.
Weitere Artikel zur Europawahl in diesem Blog:
● Noch 365 Tage bis zur Europawahl 2014!
● Europawahl 2014: Wie die europäischen Parteien ihre Spitzenkandidaten wählen
● Nach der Wahl ist vor der Wahl: Zwischenstand auf dem Weg zur Europawahl 2014
● Parlamentarismus wagen: Die Spitzenkandidaten zur Europawahl schwächen den Europäischen Rat und stärken die Demokratie
● Martin Schulz, Alexis Tsipras und noch immer kein Christdemokrat: erste Vorentscheidungen im Europawahlkampf
● Umfragen zur Europawahl 2014: Eine Prognose für das nächste Europäische Parlament (1)
● Umfragen zur Europawahl 2014: Eine Prognose für das nächste Europäische Parlament (2)
● „Green Primary Debate“ in Berlin: Eindrücke aus einem transnationalen Wahlkampf
● Grüne Enttäuschungen, liberale Kompromisse – und immer noch kein Christdemokrat: Neues aus dem Europawahlkampf
● Krisenstaaten wählen links, kleine Länder liberal, und die Christdemokraten sind vor allem in der Eurozone stark: Zur Wahlgeografie der Europäischen Union
● Die AfD und ihre Partner: Wie sich die europäische Rechte nach der Europawahl verändern wird
● Juncker, Schulz – oder doch ein ganz anderer? Die Chancen im Wettstreit um die Kommissionspräsidentschaft
● Nach der Europawahl
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Bild: By Bill Morgan [CC BY-NC-ND-2.0], via Flickr.
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