- Von den Parlamentsvorschlägen zur Wahlrechtsreform ist im Rat nicht viel übrig geblieben. Die Abgeordneten sollten diese Farce jetzt beenden.
In
diesen Tagen entscheidet sich das Schicksal der europäischen
Wahlrechtsreform. Die Änderung des Direktwahlakts, die 2015
vom Europäischen Parlament vorgeschlagen und seitdem von den
nationalen Regierungen im Ministerrat verschleppt wurde, muss nun
entweder sehr bald beschlossen werden – oder sie wird überhaupt
nicht mehr kommen.
Tatsächlich
arbeitet die bulgarische Ratspräsidentschaft bereits seit einigen
Wochen unter Hochdruck daran, die Wahlrechtsreform doch noch zu
verabschieden. Nachdem das Europäische Parlament dem Rat Ende 2017
noch einmal durch
eine mündliche Anfrage Druck gemacht hatte, legte der Ausschuss
der Ständigen Vertreter (das Gremium der nationalen EU-Botschafter)
am vergangenen 12. April einen finalen
Kompromissentwurf vor, der im Ministerrat angenommen werden
sollte.
Stattdessen
kündigten jedoch die belgische und die italienische Regierung ein
Veto an: erstere aus inhaltlichen Gründen, letztere weil sie noch
die Zustimmung ihres nationalen Parlaments benötigt, was sich
aufgrund der unklaren
Mehrheitsverhältnisse seit den Wahlen im März als schwierig
erweist. Und da der Rat den Beschluss über die Wahlrechtsreform nach
Art. 223 AEUV
nur einstimmig fassen kann, kam es auf seiner Sitzung am 17. April
letztlich doch nur
zu einer weiteren Vertagung mit Wiedervorlage „so bald wie
möglich“.
Die
Reform steht vor dem Scheitern
Allzu
viel Zeit bleibt den Ministern allerdings nicht mehr, um diese
Hindernisse noch zu umschiffen. Denn die nächste Europawahl wird am
23.-26. Mai 2019 stattfinden, und die EU wird wohl kaum gegen die
Wahlrecht-Leitlinien
der Venedig-Kommission
verstoßen wollen, denen zufolge die „Grundelemente des Wahlrechts
und insbesondere des Wahlsystems […] bis ein Jahr vor einer Wahl
nicht mehr verändert werden“ sollen. Falls der Ministerrat sich
also bei seinem nächsten Treffen am 14. Mai nicht auf einen
Kompromiss einigen kann, muss die Reform wohl als gescheitert gelten.
Auf
den ersten Blick wäre das natürlich eine große Enttäuschung:
Schließlich könnte ein besseres Wahlrecht ein
wichtiger institutioneller Hebel sein, um den europäischen
Parteien mehr Sichtbarkeit zu verschaffen, die Fragmentierung der
Europawahl in 27 nationale Einzelwahlen zu überwinden und einen
echten europaweiten Wahlkampf in Gang zu bringen. Doch sieht man sich den
Kompromiss, über den die Minister diskutieren, etwas genauer an, so
könnte sich ein Scheitern zuletzt sogar als das bessere Ergebnis
erweisen. Denn der Entwurf, den das Europäische Parlament 2015
vorlegte, wurde von den nationalen Regierungen inzwischen so sehr
verwässert, dass von seinen eigentlichen Inhalten kaum noch etwas
übrig ist.
Selbst
wenn die Reform doch noch zustande kommt, wird sie für einen
wirklich europäischen Europawahlkampf deshalb keinen relevanten
Fortschritt bringen. Gleichzeitig ginge mit einem solchen
Pseudo-Erfolg die Gefahr einher, dass die Wahlrechtsreform auf
absehbare Zeit von der politischen Agenda verschwindet und wirkliche
Verbesserungen in Zukunft eher noch schwieriger durchzusetzen sein
werden.
Deutschland
will die Reform – für die nationale Sperrklausel
Aber
der Reihe nach. Für die Befürworter eines europäischeren
Europawahlrechts brachte schon die vergangene Wahlperiode 2009-2014
eine herbe Enttäuschung: Nachdem der Verfassungsausschuss des
Parlaments einen Vorschlag für eine ambitionierte
Wahlrechtsreform mit
transnationalen Wahllisten (den
sogenannten Duff-Bericht) vorgelegt hatte, scheiterte dieser im März
2012 an der fehlenden
Unterstützung vor allem der christdemokratischen EVP-Fraktion im
Europäischen Parlament.
Alle Hoffnungen auf eine Wahlrechtsreform mussten damit auf die Zeit
nach der Europawahl 2014 verschoben werden.
Dennoch
herrschte nach der Wahl zunächst leichter Optimismus, wenn
auch aus einem etwas paradoxen Anlass: 2011 hatte das deutsche
Bundesverfassungsgericht (in einem überaus
zweifelhaft begründeten Urteil) die Fünf-Prozent-Sperrklausel
im deutschen nationalen Europawahlgesetz gekippt. Diese Entscheidung
trug nicht nur zur
Zementierung der permanenten Großen Koalition im Europäischen
Parlament bei, sondern widersprach auch unmittelbar den
Interessen der deutschen Regierungsparteien CDU (EVP) und SPD (SPE).
Der einzige Weg, den diese Parteien für eine Wiedereinführung der
Sperrklausel fanden, war ein Spiel über die europäische Bande: Wenn
der Ministerrat die deutsche nationale Sperrklausel im
EU-Direktwahlakt obligatorisch vorschreiben würde, könnte das
Bundesverfassungsgericht nicht mehr viel dagegen unternehmen.
2014
stand also fest, dass Deutschland als der mächtigste Akteur im
Ministerrat eine europäische Wahlrechtsreform unterstützen würde.
Angesichts der erforderlichen Einstimmigkeit war das allein zwar noch
nicht genug, aber doch immerhin eine recht gute Ausgangsposition.
Entsprechend machte sich das Europäische Parlament schon recht bald
nach der Europawahl an die Ausarbeitung eines neuen Reformvorschlags.
Der
vorsichtige Parlamentsentwurf von 2015
Allerdings
entschieden sich Danuta Hübner (PO/EVP) und Jo Leinen (SPD/SPE), die
zuständigen Berichterstatter im Verfassungsausschuss, für eine eher
vorsichtige Vorgehensweise. Gesamteuropäische Listen, die im
Duff-Bericht noch eine zentrale Forderung gewesen waren, kamen in
ihrem Entwurf (Wortlaut)
nur noch als vage
Zukunftsperspektive vor. Stattdessen setzten
sie auf
kleinere Reformschritte, um die nationalen Wahlgesetze der
Mitgliedstaaten aneinander anzugleichen. Im Einzelnen forderten sie
unter anderem:
● eine einheitliche Frist von zwölf
Wochen vor der Wahl, bis zu der die nationalen Parteien ihre
Wahllisten aufstellen müssen,
● eine Möglichkeit für alle
außerhalb der EU lebenden EU-Bürger, in ihrem jeweiligen
Herkunftsland an der Wahl teilzunehmen,
● das Anbringen von Namen und Logos
der europäischen Parteien auf den Stimmzetteln,
● einen einheitlichen Zeitpunkt für
die Schließung der Wahllokale in allen Mitgliedstaaten (nämlich am
Wahlsonntag um 21 Uhr),
● die Gleichstellung von Männern
und Frauen auf den nationalen Wahllisten.
Außerdem
sollte der Direktwahlakt künftig einen expliziten Verweis darauf
beinhalten, dass die europäischen Parteien Spitzenkandidaten für
das Amt des Kommissionspräsidenten nominieren. Und natürlich war
auch die von Deutschland gewünschte Pflicht zu einer nationalen
Sperrklausel zwischen drei und fünf Prozent enthalten.
Zu
viel europäische Demokratie für die nationalen Regierungen
Auf
diesem Blog kritisierte ich diesen Entwurf, den das Europäische
Parlament im November 2015 mit den Stimmen von Christdemokraten,
Sozialdemokraten und Liberalen annahm, damals als
eine verpasste Gelegenheit, da sich die Aussichten auf eine
ambitionierte Reform in der Zukunft kaum verbessern würden.
Für
die nationalen Regierungen hingegen brachten selbst die recht
bescheidenen Pläne der Abgeordneten offenbar schon viel zu viel an
europäischer Demokratie. Und so machten sie sich in den folgenden
Jahren daran, die Wahlrechtsreform nach und nach abzuschwächen, bis
von den ursprünglichen Vorhaben kaum noch etwas zu erkennen war.
Streit
um die Spitzenkandidaten
Der
erste Angriff des Ministerrats galt dabei der Idee, die europäischen
Spitzenkandidaten im Direktwahlakt zu verankern. Unter den nationalen
Regierungen hat dieses Verfahren, das bei der Europawahl 2014
erstmals angewandt wurde, nicht allzu viele Freunde, denn es macht
die EU zwar demokratischer, schwächt dabei aber die nationalen
Regierungschefs im Europäischen Rat. 2016 sprachen sich deshalb
alle Mitgliedstaaten bis auf Italien gegen
die vom Parlament gewünschte formale Institutionalisierung der
Spitzenkandidaten aus. Dieser Aspekt der Wahlrechtsreform war
damit vom Tisch.
In
der Praxis freilich dürften die Regierungen damit wenig erreichen.
Denn um Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten zu
nominieren, benötigen die europäischen Parteien keine ausdrückliche
Ermächtigung im Direktwahlakt. Auch wenn einige nationale
Regierungen sich nach wie vor dagegen sträuben, wird es deshalb auch
2019 wieder Spitzenkandidaten geben – nur eben mit etwas mehr
institutioneller Unsicherheit, als wenn ihre Nominierung auch durch
das europäische Wahlrecht geregelt wäre.
Von
den Vorschlägen des Parlaments blieb nicht viel übrig
Doch
auch von den anderen Reformmaßnahmen, die das Europäische Parlament
2015 vorgeschlagen hatte, blieb im Ministerrat nicht allzu viel
übrig. Im jüngsten Kompromisspapier vom 12. April (Wortlaut)
sind sie alle bis zur Unkenntlichkeit verwässert worden:
●
Ob es eine verbindliche Frist für
die Aufstellung der Wahllisten gibt, soll weiterhin allein den
Mitgliedstaaten überlassen sein. Und falls
sich ein Mitgliedstaat dazu entscheidet, eine solche Frist
einzuführen, muss diese nur „mindestens drei Wochen“ vor der
Wahl liegen. Letztlich
bleibt der Zeitpunkt der Listenaufstellung also weiterhin jedem Land
selbst überlassen.
●
Gleiches
gilt für die Wahlteilnahme von Bürgern, die außerhalb der EU
leben. Nach dem Reformvorschlag „können“ Mitgliedstaaten künftig
ihren in Drittstaaten lebenden Bürgern die Wahlteilnahme ermöglichen
– oder eben nicht, ganz wie
es die „innerstaatlichen Wahlverfahren“ vorsehen.
●
Ein
ähnliches Schicksal ereilte die Namen und Logos der europäischen
Parteien. Dem
Kompromisspapier zufolge sollen die Mitgliedstaaten künftig
„gestatten können“, dass
diese Namen und Logos auf dem
Wahlzettel auftauchen. Diese
Formulierung ist
insofern inhaltsleer, als
dies den Mitgliedstaaten ja
noch niemals verboten
war:
Hätten sie die europäischen
Parteien auf den Stimmzetteln sichtbar machen wollen, hätten sie das
auch in der Vergangenheit schon gekonnt.
●
Komplett
gestrichen wurde der einheitliche Zeitpunkt für die Schließung der
Wahllokale. Auch künftig wird es für die Europawahl nur ein
gemeinsames Zeitfenster von vier Tagen (Donnerstag bis Sonntag)
geben, innerhalb dessen jeder Mitgliedstaat den Zeitraum für die
Wahl vollkommen frei bestimmt.
●
Auch
von der Gleichstellung von Männern und Frauen ist im Ratspapier
keine Rede mehr.
Was
bleibt, ist die Sperrklausel
Die
einzige Maßnahme, die die
Debatten im Ministerrat einigermaßen wohlbehalten überstanden hat,
ist die Pflicht zu einer
nationalen
Sperrklausel. Zwar wurde auch
diese eingeschränkt: Statt mindestens
3 Prozent soll sie nur
mindestens 2 Prozent
betragen;
und statt für alle Mitgliedstaaten soll sie nur für Länder mit
mindestens 35 Abgeordneten gelten – das heißt nur für
Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Polen (von denen
Frankreich, Italien und Polen
schon jetzt eine Sperrklausel
besitzen).
Dennoch
hätte die deutsche Bundesregierung
damit ihr wichtigstes Ziel erreicht: Kleinstparteien wie die
Piraten, die Freien Wähler, die NPD oder die PARTEI würden bei
Europawahlen künftig wohl an einer Zwei-Prozent-Hürde scheitern.
Tatsächlich
üben
die betroffenen Parteien dagegen bereits seit einigen Wochen lauten
Protest. Und sollte
die Wahlrechtsreform am Ende erfolgreich sein, so wird
wohl auch die deutsche Medienöffentlichkeit nur darüber diskutieren, ob nationale
Sperrklauseln bei der Europawahl nun wünschenswert sind und ob das
Spiel über Bande, mit dem die Bundesregierung das Urteil des
Verfassungsgerichts von 2011 umging, demokratisch legitim war oder
nicht.
Das
Europäische Parlament sollte diese Farce beenden
Doch
diese Diskussion lenkt letztlich
nur von der
viel wichtigeren Frage
ab, wie
die Europawahlen zu einer wirklichen gesamteuropäischen
Richtungsentscheidung werden könnten. Eine
substanzielle
Wahlrechtsreform
könnte dazu einen wichtigen Beitrag leisten – aber
nicht jene Farce,
über die der Ministerrat in diesen Tagen berät.
Die beste Hoffnung liegt deshalb
darin, dass die
Wahlrechtsreform nach der Europawahl 2019 erneut auf die Tagesordnung
kommt. Und das wiederum
bedeutet, dass man den Appetit der deutschen
Bundesregierung auf eine
nationale Sperrklausel möglichst nicht schon jetzt befriedigen
sollte.
Nach
Art. 223 AEUV
müssen der europäischen Wahlrechtsreform alle nationalen
Regierungen im Ministerrat zustimmen, aber auch das Europäische
Parlament. Die Abgeordneten
sollten dieses Vetorecht nutzen und den
jetzt im Rat diskutierten Kompromiss vollständig verwerfen. Darin
läge ein Signal, dass auch das Parlament nicht alles mit sich machen
lässt – und die beste
Chance auf einen neuen Anlauf in der kommenden Wahlperiode.
Bild: European Parliament/Pietro Naj-Oleari [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.