Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat ja schon des Öfteren gezeigt, dass es in Fragen mit europapolitischem Bezug nicht immer ein ganz glückliches Händchen besitzt. Insofern sollte man erst einmal anerkennen, dass die Richter im jüngsten Urteil zur Fünf-Prozent-Hürde im deutschen Europawahlgesetz (hier der Wortlaut) wenigstens versucht haben, sich mit den Begebenheiten im Europäischen Parlament auseinander zu setzen. Offenbar haben sie Jürgen Mittags Buch über politische Parteien in der EU gelesen, weshalb das Urteil immerhin die Erkenntnis enthält, dass die transnationalen Fraktionen, nicht die nationalen Delegationen die zentralen Arbeitseinheiten des Europäischen Parlaments bilden. Und ein paar Europaabgeordnete durften in der mündlichen Verhandlung auch ihre Einschätzung der Lage abgeben. So richtig ernst genommen wurden die von den Richtern dann aber doch nicht:
Die in der mündlichen Verhandlung gehörten Sachkundigen und Abgeordneten des Europäischen Parlaments haben im Kern übereinstimmend die Erwartung geäußert, mit dem Einzug weiterer Kleinparteien in das Europäische Parlament werde die Mehrheitsgewinnung erschwert. Dies allein genügt jedoch nicht, um eine mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwartende Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments darzutun […]
Im Wesentlichen argumentiert das Gericht, dass eine Fünf-Prozent-Sperrklausel bei Wahlen grundsätzlich die Wahlgleichheit einschränkt und deshalb nur dann berechtigt ist, wenn andernfalls das Parlament eine übermäßige Parteienzersplitterung erfahren könnte, durch die es in der Bildung von Mehrheiten und damit in der Wahrnehmung seiner Aufgaben gehindert wird. In einem Urteil anlässlich der ersten Europawahl 1979 hatte das Bundesverfassungsgericht das auch für das Europäische Parlament als gegeben angesehen, woran es sich nun allerdings nicht mehr gebunden fühlte; die Umstände haben sich ja seitdem geändert. Inwiefern sich die Umstände seitdem in eine Richtung geändert haben sollen, die eine Parteienzersplitterung weniger problematisch erscheinen lassen würde als damals, verrät das Urteil nicht. Immerhin hat das Europäische Parlament seitdem ja immer mehr an Bedeutung gewonnen, sodass die Mehrheitsbildung dort eigentlich nur wichtiger geworden ist.
Auch das von den Klägern vorgebrachte Argument, die EU-Erweiterungen, bei denen weitere nationale Parteien in das Parlament einzogen, hätten gezeigt, dass dieses mit einer enormen Vielzahl von Parteien umgehen kann, zieht offenkundig nicht: Die tschechischen Sozialdemokraten oder bulgarischen Konservativen fügten sich in die schon bestehenden Fraktionen von SPE und EVP ein und konnten von diesen wegen der weltanschaulichen Ähnlichkeit gut integriert werden. Wenn aus Deutschland dagegen bald die Tierschutz- und die Familienpartei ins Europaparlament einziehen, werden sie nur die Schar der fraktionslosen Abgeordneten erweitern, da sie keine gleichgesinnten Abgeordneten aus anderen Ländern finden werden. Aber sei's drum, sein Geschwätz von gestern interessiert das Verfassungsgericht ohnehin nicht:
Maßgeblich für die Frage der weiteren Beibehaltung der Sperrklausel sind allein die aktuellen Verhältnisse.
Eine informelle Große Koalition
- Die gegenwärtige Zusammensetzung des Europäischen Parlaments (v.l.n.r.: GUE/NGL, S&D, Grüne/EFA, ALDE, EVP, ECR, EFD, Fraktionslose).
Und wie sind diese aktuellen Verhältnisse? Es gibt heute im Europäischen Parlament sieben Fraktionen (die christdemokratische EVP, die sozialdemokratische S&D, die liberale ALDE, die Grünen/EFA, die nationalkonservative ECR, die linke GUE/NGL und die europaskeptische EFD) sowie zwei Dutzend fraktionslose, großteils rechtsextreme Abgeordnete (eine detaillierte Liste gibts bei Wikipedia). Da nur EVP und S&D zu zweit eine absolute Mehrheit der Mandate auf sich vereinen, bilden sie bei den meisten Entscheidungen den Kern der Mehrheit, der sich dann je nach Thema andere Fraktionen anschließen. Die einzigen Alternativen dazu bilden bei der derzeitigen Zusammensetzung des Parlaments das Mitte/Rechts-Dreierbündnis aus EVP, ALDE und ECR (oft ergänzt um die EFD) und das Mitte/Links-Viererbündnis aus S&D, ALDE, Grüne/EFA und GUE/NGL (mehr dazu hier). Die meisten Entscheidungen aber kommen seit Jahrzehnten durch übergroße Mehrheiten auf Grundlage von EVP und S&D zustande.
Diese dauerhafte informelle Große Koalition wurde oft genug kritisiert, da dadurch die Auseinandersetzung zwischen den wichtigsten politischen Lagern erschwert und das Europäische Parlament entpolitisiert wird: Die Möglichkeit demokratischer Alternanz – also des Wechselspiels von Mehr- und Minderheiten, die bei jeder Wahl neu bestimmt werden – wird aufgehoben, was auf die Dauer zu einem Akzeptanzverlust führen muss. Die einzige Hoffnung, dass sich das einmal ändert, besteht darin, dass die Fraktionen größer und solider werden und die Anzahl fraktionsloser Abgeordneter zurückgeht. Genau das wird durch den Wegfall der Sperrklausel konterkariert. Das macht aber dem Bundesverfassungsgericht nichts aus, das die nachvollziehbare Auseinandersetzung über politische Alternativen offenbar nicht als Zweck der parlamentarischen Tätigkeit ansieht:
Es ist nicht Aufgabe der Wahlgesetzgebung, die Bandbreite des politischen Meinungsspektrums – etwa im Sinne besserer Übersichtlichkeit der Entscheidungsprozesse in den Volksvertretungen – zu reduzieren.
Ach nein? Und warum haben wir dann überhaupt eine repräsentative Demokratie und besprechen unsere gemeinsamen Angelegenheiten nicht alle zusammen auf dem Dorfplatz? Aber gut, wenn es allein um die Bildung von Mehrheiten geht, erleichtert eine permanente Große Koalition die Arbeit natürlich enorm. Da kann man dann locker noch ein paar Splitterparteien obendrauf satteln:
Die parlamentarische Praxis [des Europäischen Parlaments] ist geprägt durch eine Zusammenarbeit der beiden großen Fraktionen, die zusammen regelmäßig deutlich über 60 % der Mandate auf sich vereinen […]. Der Aufwand für eine Konsensbildung zwischen diesen beiden Fraktionen ist unabhängig von der Zahl der fraktionslosen Abgeordneten und kleineren Fraktionen.
Ohnehin nicht so wichtig?
Und selbst wenn die Bildung stabiler Mehrheiten gefährdet würde, sieht das Bundesverfassungsgericht darin kein Problem. Schließlich ist das Europäische Parlament sowieso nicht so wichtig. Es gibt ja keine europäische Regierung, die sich auf eine Parlamentsmehrheit stützen müsste:
Der Kommissionspräsident wird zwar auf Vorschlag des Europäischen Rates durch das Europäische Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder gewählt […] Allerdings sind die Kommission und ihr Präsident, solange das Parlament ihnen nicht mit der erforderlichen hohen Stimmenzahl nach Art. 234 Abs. 2 AEUV das Vertrauen entzieht, bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nicht auf seine weitere Zustimmung angewiesen.
Nur gut, denkt sich der Leser, dass die Exekutive der EU keiner parlamentarischen Kontrolle unterworfen ist – jedenfalls wenn man mal davon absieht, dass sie vom Parlament gewählt wird und abgewählt werden kann. Aber wie ist es denn mit der Gesetzgebung, dafür ist doch eine Mehrheit im Parlament nötig? Nicht doch, beruhigt das Verfassungsgericht:
Die Zustimmung des Europäischen Parlaments ist für das Zustandekommen eines Rechtsaktes im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren mithin nicht zwingend, da der Rechtsakt, den der Rat nach Art. 294 Abs. 5 AEUV festlegt und dem Parlament übermittelt, auch dann als erlassen gilt, wenn sich das Parlament in der zweiten Lesung zum Standpunkt des Rates nicht äußert oder den Ratsvorschlag nicht mit der Mehrheit seiner Mitglieder ablehnt (Art. 294 Abs. 7 Buchstabe a Alt. 2, Buchstabe b AEUV). Folglich ist die unionale Gesetzgebung nach dem Primärrecht so konzipiert, dass sie nicht von bestimmten Mehrheitsverhältnissen im Europäischen Parlament abhängt. Damit entfällt ein zentraler Grund für die Rechtfertigung der Fünf-Prozent-Sperrklausel.
Soll heißen: Wenn das Europäische Parlament nicht in der Lage ist, eine Mehrheit zu bilden, dann machen die Regierungen im Ministerrat eben wieder alleine Gesetze, wie in der guten alten Zeit vor dem Vertrag von Maastricht. Hauptsache, der Rechtsakt kommt zustande – wen kümmert es schon, ob ihm ein Parlament zugestimmt hat oder nicht. Und das vom Bundesverfassungsgericht, das sich so gerne als Hüter der Demokratie feiern lässt!
Eine alternative Lösung
Das Urteil ist, um die Formulierung von Heribert Prantl in der Süddeutschen zu übernehmen, hanebüchen. Einigermaßen vernünftig ist nur das Sondervotum der Richter Di Fabio und Mellinghoff, die unter anderem feststellen:
Für das Parlament kommt es im institutionellen Zusammenspiel mit Kommission und Rat darauf an, eine mehrheitsfähige Willensbildung in den eigenen Reihen herbeizuführen. Wenn dies auch unter Bedingungen großer Heterogenität bislang gelungen ist, so kann dieser Umstand kein Argument dafür sein, dass die Verhinderung einer zusätzlichen Zergliederung die Sperrklausel nicht rechtfertigen könne. Es gilt hier nicht die Devise: Wer mit Kalamitäten bislang nolens volens zurechtgekommen sei, dem könne man auch ruhig noch mehr zumuten. […] Angesichts der gestiegenen Bedeutung des Parlaments nicht nur in der Gesetzgebung, sondern auch bei der Wahrnehmung politischer Kontrolle über die Kommission, trägt jeder mitgliedstaatliche Wahlgesetzgeber Verantwortung dafür, dass das Parlament auch künftig handlungsfähig bleibt.
Leider aber wird uns das Sondervotum nicht helfen: Die Fünf-Prozent-Hürde bei Europawahlen ist dahin. Und vielleicht kann man ohnehin argumentieren, dass sie nicht das beste Mittel war, um die Zersplitterung des Europäischen Parlaments zu verhindern. Da die entscheidenden Institutionen im Parlament die Fraktionen sind, wäre es eigentlich nicht weiter problematisch, wenn ein paar deutsche Kleinparteien Mandate gewinnen – solange diese Kleinparteien sich in eine der existierenden Fraktionen einfügen. Falls also die FDP bei der nächsten Europawahl nur noch auf 3 % der Stimmen kommt, so könnte sie ruhig mit drei Abgeordneten im Parlament vertreten sein, ohne für mehr Zersplitterung zu sorgen: denn diese drei Abgeordneten würden sich ja wie gehabt der ALDE-Fraktion anschließen und in deren Rahmen an der parlamentarischen Mehrheitsbildung mitwirken, so wie die drei Abgeordneten der finnischen Keskusta, der niederländischen VVD oder der irischen Fianna Fáil.
Ob eine Partei auf diese Weise in der Lage sein wird, sich auch mit nur wenig Abgeordneten in die politische Landschaft des Europäischen Parlaments zu integrieren, lässt sich aber am besten aus ihrer Zugehörigkeit zu einer der elf europäischen Parteien erkennen. Wie wäre es also, wenn der Bundestag in einer Neufassung des Europawahlgesetzes beschließen würde, dass bei Europawahlen künftig nur noch die Mitgliedsorganisationen anerkannter europäischer Parteien antreten dürfen – so wie bei Bundestagswahlen ebenfalls nur antreten darf, wer als deutsche Partei anerkannt ist? Längerfristig könnte man außerdem anstreben, dass die Zugehörigkeit zu einer europäischen Partei auch in den Direktwahlakt (also das EU-Gesetz, das den gesamteuropäischen Rahmen für die Europawahlen festlegt) als Bedingung zur Wahlteilnahme aufgenommen wird, und im Gegenzug vielleicht die Anforderungen zur Gründung einer solchen europäischen Partei etwas absenken. Mit einer solchen Regelung könnte man tatsächlich auf die Fünf-Prozent-Hürde verzichten – und gegen die Wahlgleichheit würde sie ebenfalls nicht verstoßen.
PS. Im Verfassungsblog findet sich übrigens noch weitere Kritik an dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Das geht nämlich nicht nur mit dem Europäischen Parlament, sondern auch mit dem Deutschen Bundestag etwas rüpelhaft um.
Bilder: Tobias Helfrich [GFDL or CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons; Ssolbergj [CC-BY-SA-3.0 or GFDL], via Wikimedia Commons
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