Um anlässlich der aktuellen Leitzinssenkung der Europäischen Zentralbank noch einmal auf die Sache mit der Transfer- und der Stabilitätsunion zurückzukommen (siehe auch hier und hier):
Eines der Probleme in der Eurozone ist bekanntlich, dass es für die Europäische Zentralbank kaum möglich ist, angesichts der unterschiedlichen Konjunktursituationen in den verschiedenen Mitgliedstaaten einen passenden Leitzins festzulegen. In einer Zeit konjunktureller Rezession sinken typischerweise die Inflationsraten, sodass die Zentralbank eines Landes die Zinsen senkt, was Kredite verbilligt, die Wirtschaft belebt und die Inflation steigen lässt. In einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs nimmt die Inflation dagegen üblicherweise zu, worauf eine Zentralbank mit einer Zinserhöhung reagiert, was Kredite verteuert, den Boom abkühlt und die Inflation bremst. Wenn jedoch eine Zentralbank einen gemeinsamen Leitzins für mehrere Länder festlegen soll, von denen sich manche in der Rezession und andere im Aufschwung befinden, dann steht sie vor einer praktisch unlösbaren Aufgabe.
Besonders gut konnte man das an den beiden Zinserhöhungen im April und Juli dieses Jahres beobachten: In dieser Zeit erlebte Deutschland einen Wirtschaftsaufschwung, der hier zu einem raschen Preisanstieg führte, während die südeuropäischen Länder noch immer mit Rezession und Arbeitslosigkeit zu kämpfen hatten. Letztere hätten zu diesem Zeitpunkt also am besten eine Zinssenkung benötigt, um die Konjunktur zu beleben, in Deutschland dagegen ging die Inflationsfurcht um und der Ruf nach höheren Zinsen wurde laut. Die EZB orientierte sich schließlich am Durchschnittswert der Eurozone insgesamt, bei dem die deutsche Volkswirtschaft aufgrund ihre Größe das schwerste Gewicht hat, und hob die Zinssätze an – auch wenn dies in Südeuropa die Wirtschaftskrise noch weiter verschärfte und letztlich zu Steuerausfällen führte, übrigens einer der Gründe, weshalb Griechenland später seine Sparziele verfehlte. Dass die EZB nun den Leitzins senkt, obwohl die europaweite Inflation noch immer deutlich über den formal angestrebten „unter, aber nahe zwei Prozent“ liegt, scheint zu bedeuten, dass sie dieses Problem verstanden hat. (Ohnehin fordern Ökonomen wie Paul Krugman schon länger eine vorübergehende Erhöhung dieses Inflationsziels, um die relative Absenkung des Lohnniveaus der südeuropäischen Staaten gegenüber Deutschland zu erleichtern. Tatsächlich ist es aufgrund der speziellen Vorgeschichte der Euro-Krise zum gegenwärtigen Zeitpunkt durchaus wünschenswert, wenn die Inflation in Deutschland höher ist als in der Peripherie der Eurozone; aber das ist eine andere Geschichte, die nicht das strukturelle Problem betrifft, um das es hier geht.)
Antizyklische Wirtschaftspolitik
Wenn nun also die Zentralbank als stabilisierender Faktor in der Eurozone ausscheidet, wären eigentlich die Regierungen gefragt. So könnte man auf die unterschiedlichen Konjunkturlagen auch mit antizyklischer Wirtschaftspolitik reagieren: Wenn während eines Wirtschaftsaufschwungs die Steuern erhöht und die Staatsausgaben reduziert werden, so bremst das ebenfalls den Boom und senkt die Inflation. Werden in einer Rezession dagegen die Steuern gesenkt und die Staatsausgaben gesteigert, dann treibt das die Inflation und die Konjunktur an. Würden alle Mitglieder der Eurozone diesem Modell folgen, so würde der EZB die Arbeit sehr erleichtert: Die Staaten würden dann nämlich selbst dafür sorgen, dass ihre Inflationsraten stärker konvergieren, und die Konzentration der Zentralbank auf den Durchschnittswert ergäbe wieder einen Sinn.
Leider hakt es hierfür aber an zwei Stellen: Zum einen würde eine antizyklische Wirtschaftspolitik zum jetzigen Zeitpunkt bedeuten, dass gerade Deutschland die Steuern erhöht, während gerade die südeuropäischen Länder ihre Ausgaben steigern müssten. Damit aber würde die Schuldenkrise in der Eurozone noch weiter verschärft: eine letztlich untragbare Situation, die nur durch eine Art Finanzausgleich zwischen den Mitgliedstaaten, eben die gefürchtete „Transferunion“, gelöst werden könnte. Zum anderen sind antizyklische Maßnahmen oft politisch nur schwer durchsetzbar: In der Rezession sehen sich Regierungen unter Druck, die Steuerausfälle durch Sparen zu kompensieren, um der Öffentlichkeit keine allzu großen Haushaltsdefizite präsentieren zu müssen. Wenn es dagegen wirtschaftlich aufwärts geht, breiten sich Forderungen nach Steuersenkungen aus; die Bürger, heißt es in Deutschland dann oft, „sollen am Aufschwung teilhaben“. (Oder, in der Version von Angela Merkel in der heutigen Tagesschau: man wolle „den Bürgern für die Einbußen in der Wirtschafts- und Finanzkrise danken“.)
Automatische Stabilisatoren
Da dies so ist, haben sich in den nationalen Volkswirtschaften seit Jahrzehnten die sogenannten „automatischen Stabilisatoren“ bewährt. Dazu gehören insbesondere die progressive Einkommensteuer und das Sozialsystem, vor allem die Arbeitslosenhilfe. In einer wirtschaftlichen Krise, in der die Arbeitslosigkeit zunimmt, steigen auch die Staatsausgaben für die Arbeitslosenhilfe, was sich positiv auf die Nachfrage und die Konjunktur auswirkt und die Inflation steigert. Im Aufschwung dagegen, in dem die Einkommen der Menschen steigen und die Arbeitslosigkeit sinkt, führen die automatischen Stabilisatoren zu steigenden Einnahmen und sinkenden Ausgaben des Staates, was Inflation und Wachstum bremst. Auch wenn die Regierung selbst keine antizyklische Politik betreibt, entwickeln Steuer- und Sozialsystem eine antizyklische Wirkung.
Ein derartiges System automatischer Stabilisatoren fehlt jedoch auf gesamteuropäischer Ebene bislang. Dabei hätte eine EU-Arbeitslosenhilfe, finanziert aus einer EU-Einkommensteuer, gleich einen doppelten Nutzen: Sie könnte nicht nur dazu beitragen, europaweite konjunkturelle Schwankungen auszubalancieren – sie würde auch gegen die regionalen Ungleichgewichte helfen. Denn wenn in einem Teil der EU die Wirtschaft brummt, während sie in einem anderen gerade abflaut, dann würden die Bürger des boomenden Teils vermehrt in das europäische Sozialsystem einzahlen, während die Einwohner der Region in der Rezession daraus Arbeitslosenhilfe empfangen würden, was deren Wirtschaft ankurbelt. Die Konjunkturlage (und die Inflationsentwicklung) würde also europaweit angeglichen, die Eurozone gewönne Stabilität.
Der Unterschied zwischen einem solchen europaweiten System automatischer Stabilisatoren und einer Transferunion qua Länderfinanzausgleich bestünde in der Umgehung der nationalstaatlichen Ebene. Nicht Staaten würden miteinander Solidarität üben, sondern Bürger: Einzahlen würden nicht „die Deutschen“, sondern die Europäer mit hohen Einkommen, und profitieren würden nicht „Griechen“ und „Portugiesen“, sondern europäische Arbeitslose, was der öffentlichen Akzeptanz der Maßnahme ohne Zweifel nützen würde. Zudem wäre die makroökonomische Steuerung weitaus einfacher: Statt die wirtschaftspolitischen Strategien von 17 oder 27 souveränen Mitgliedstaaten zu koordinieren, könnten die Höhe der europäischen Einkommensteuer und der europäischen Arbeitslosenhilfe vom Europäischen Parlament und dem Rat durch Mehrheitsentscheidungen festgelegt werden. Und im Gegensatz zu einem intergouvernemental vereinbarten Länderfinanzausgleich (ob der nun EFSF, Eurobonds oder sonst wie heißt) unterläge ein solches europäisches Sozialsystem durch das Europäische Parlament auch der direkten Kontrolle eines demokratisch gewählten Organs.
Sicher, dafür bräuchte es erst einmal eine Reform von Art. 153 AEU-Vertrag (für die EU-Arbeitslosenhilfe), einen neuen Eigenmittelbeschluss (für die EU-Einkommensteuer) und ein neues deutsches Grundgesetz (für das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts). Aber das sollte uns nicht davon abhalten, der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion die Transfermechanismen zu verschaffen, die sie benötigt, um eine echte „Stabilitätsunion“ zu sein.
Bild: Wongx at de.wikipedia [Public Domain], via Wikimedia Commons
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