Man hat in der deutschen Politik lange
nichts von Joschka Fischer gehört. Seit er nicht mehr Vizekanzler
ist, hat er in den USA den Professor gegeben, eine Autobiografie
geschrieben und einen Job als Lobbyist beim Nabucco-Projekt (dem
europäischen Konkurrenzvorhaben zur russisch-deutschen
Ostseepipeline mit Gerhard Schröder) angenommen. Hauptsächlich aber
ist Fischer inzwischen als Politaktivist tätig – zum Beispiel als
Gründungsmitglied der Spinelli-Gruppe.
Diese Gruppierung, der auch mehrere prominente Europaabgeordnete angehören, setzt sich für föderale Antworten auf europäische Fragen ein und kritisiert die intergouvernementalen Ansätze, mit denen viele nationale Politiker Europa in die „politische Impotenz“ führen (das durchaus scharfzüngig formulierte Manifest kann man hier nachlesen und unterstützen). Dabei ist ziemlich deutlich, auf wen die Spinellianer zielen: nämlich auf die nationalen Regierungen im Europäischen Rat, dessen Gipfeltreffen sie regelmäßig mit einem „Shadow Council“ begleiten, auf dem sie alternative Lösungsvorschläge präsentieren.
Joschka Fischer aber scheint sich in den letzten Wochen eines anderen besonnen zu haben. In einem über Project Syndicate europaweit verbreiteten Kommentar und einem anschließenden Interview in der Zeit bekennt er sich zwar immer noch zu den Vereinigten Staaten von Europa, aber was er sich darunter vorstellt, hat selbst bei Nichtmitgliedern der Spinelli-Gruppe reichlich Kopfschütteln ausgelöst. Reinhard Bütikofer, der Sprecher der deutschen Landesgruppe in der Fraktion Grüne/EFA des Europaparlaments, reagierte darauf jedenfalls mit einem etwas unwirschen Tweet; Martin Schulz, Vorsitzender der sozialdemokratischen S&D-Fraktion im Europaparlament kommentierte in einem Zeit-Interview, mit Fischers Vorschlag würde man nicht die Vereinigten Staaten, sondern höchstens die Vereinten Nationen von Europa schaffen.
Fischers
Vorschlag
Was
aber will Fischer eigentlich? Seine Analyse beginnt vollkommen
zu Recht mit der Feststellung, dass die europäische Schuldenkrise
vor allem auf das Problem zurückzuführen ist, dass die europäische
Währungsunion keine gemeinsame Wirtschaftsregierung hat. Nötig
ist deshalb eine Fiskalunion, also eine „gemeinsame Wirtschafts-, Steuer- und Haushaltspolitik und d.h. auch gemeinsame Haftung“. Auch der zweite Schritt des Arguments ist
immer noch nachvollziehbar, obwohl sich darüber wohl eher
streiten ließe: Fischer hält nämlich die EU für zu groß, um die
notwendigen Vertragsreformen zu erzielen, und fordert deshalb, dass
die Eurozone als Avantgarde vorangeht. Und auch seine Kernforderung
ist vollkommen verständlich: Angesichts der großen Macht, die eine
Eurozonen-Wirtschaftsregierung besitzen würde, muss sie auch demokratisch sein.
Dann aber wird es abenteuerlich. Fischer will nämlich unbedingt
auf die Wiederholung eines Fehlers verzichten, nämlich über den Nationalstaaten eine eigene Superstruktur zu schaffen. Denn die Erfahrung zeigt, dass weder EU-Kommission noch Europaparlament über die notwendige demokratische Legitimation in den nationalen Öffentlichkeiten verfügen, die für jede Demokratie unerlässlich ist.
Entsprechend soll die
Regierung der Eurozone für ihn aus den nationalen
Staats- und Regierungschefs bestehen, die sich möglichst permanent
zu Gipfeltreffen versammeln und dort die zentralen Entscheidungen
treffen sollen. Da es
allerdings um Budgetfragen geht, können die Regierungschefs
letztlich nichts ohne ihre nationalen Parlamente beschließen. Und
darum wiederum, und hier kommt das eigentlich Neue an dem
Vorschlag,
wird eine „Eurokammer“ unverzichtbar, entsprechend ihrer Stärke proportional aus den Führungen der nationalen Parlamente zusammengesetzt, beginnend als beratendes Gremium bei Beibehaltung der Entscheidungskompetenz bei den nationalen Parlamenten, später aber, auf der Grundlage eines zwischenstaatlichen Vertrages, als echtes parlamentarisches Kontroll- und Entscheidungsorgan, zusammengesetzt aus den entsandten Mitgliedern der nationalen Parlamente.
Um es also kurz zu machen: In der
Wirtschaftsregierung, die Fischer für die Eurozone möchte, soll
kein einziger Politiker vertreten sein, der der europäischen
Bürgerschaft als Ganzer verantwortlich ist. Stattdessen sollen die
nationalen Staats- und Regierungschefs das Ruder vollends in die Hand
nehmen – ungeachtet der Tatsache, dass diese schon seit Anfang der
Krise auf ungezählten Gipfeltreffen außerstande waren, sich auf
eine dauerhafte Lösung zu verständigen (was wenig erstaunlich ist,
da ja jeder von ihnen schon institutionell darauf verpflichtet ist,
zuerst auf das Wohlergehen seiner nationalen Wählerschaft zu
achten). Demokratisch soll das Ganze dadurch werden, dass man noch
eine Körperschaft aus Delegierten der nationalen Parlamente gründet
– was darauf hinauslaufen würde, das gewählte Europäische Parlament durch die Wiederauferstehung der Beratenden Versammlung zu ergänzen, die bis 1979 existierte. Den Machtverlust, den das Parlament und die Kommission dadurch erleiden würden, tut Fischer in aller Beiläufigkeit ab: eine Art Kollateralschaden, der ja nur Institutionen trifft, die sowieso niemand kennt.
Europäische Debatten mit nationalen
Parlamentariern?
Weshalb aber auf nationaler Ebene
gewählte und dann von ihren nationalen Fraktionen in eine Eurokammer entsandte Delegierte eine größere demokratische
Legitimität zur Lösung europäischer Fragen besitzen sollen als die
direkt gewählten Mitglieder des Europäischen Parlaments, weiß so genau wohl nur Fischer allein. Vermutlich geht er davon aus, dass
nationale Parlamentarier einen höheren Bekanntheitsgrad haben und
darum eher in der Öffentlichkeit über europäische Entscheidungen
diskutieren können. Aber warum sollten sie das tun? Es gibt in
Deutschland vom Mindestlohn bis zum Verfassungsschutz so viele
wichtige nationale Themen, dass die prominentesten
Bundestagsabgeordneten, die Kauders, Steinmeiers, Brüderles, Gysis und Trittins, sich auch künftig wohl kaum ständig in
Brüssel aufhalten und mit Europathemen beschäftigen werden, auf die
sie sowieso nur sehr begrenzt Einfluss nehmen können. Vielmehr
werden in die Beratende Kammer der Eurozone Abgeordnete delegiert
werden, die auf die Europapolitik spezialisiert sind und sich
inhaltlich damit auskennen: Menschen wie Michael Stübgen, Michael
Roth, Michael Link, Alexander Ulrich und Manuel Sarrazin. Das sind
die europapolitischen Sprecher der derzeitigen Bundestagsfraktionen –
wer alle fünf richtig zuordnen kann, darf sich ein Fleißkärtchen
holen (Auflösung hier). Und wer meint, dass im nächsten Bundestagswahlkampf 2013 die
Positionen der Parteien zur Zukunft der EU im Mittelpunkt stehen
werden, der hat die Mechanismen politischer Kommunikation nicht
verstanden.
Nationale Regierungen und nationale Parlamentarier haben eine wichtige politische Funktion, nämlich über nationale Angelegenheiten zu entscheiden. Dafür sind sie durch nationale Wahlen an eine nationale Bürgerschaft gebunden, die in einer nationalen Öffentlichkeit nationale Debatten führt. Gut. Europäische Angelegenheiten wie die Überwindung der europäischen Wirtschafts- und Finanzkrise, die Einrichtung einer europäischen Fiskalunion und die Führung einer europäischen Wirtschaftsregierung aber müssen die Aufgabe europäischer Politiker sein: eines Europäischen Parlaments, das möglichst mit europäischen Listen der europäischen Parteien gewählt werden sollte, und einer Europäischen Kommission, die dem Europäischen Parlament verantwortlich ist. Wenn auf diese Weise die Zuständigkeit der europäischen Institutionen klar erkennbar wird und eine relevante parteipolitische Auseinandersetzung auf europäischer Ebene entsteht, dann werden wir auch europäische Debatten in einer europäischen Öffentlichkeit haben, in der die Arbeit europäischer Politiker (Konservativer wie José Manuel Durão Barroso und Joseph Daul, Sozialdemokraten wie Martin Schulz und Poul Nyrup Rasmussen, Liberaler wie Guy Verhofstadt, Grüner wie Daniel Cohn-Bendit, Linker wie Lothar Bisky und Rechter wie Nigel Farage) von einer europäischen Bürgerschaft bewertet wird.
Das Hindernis auf dem Weg dorthin ist gerade die Tatsache, dass die wichtigsten europäischen Entscheidungen weiter von den nationalen Staats- und Regierungschefs getroffen und dann nur der Bestätigung durch nationale Parlamentarier unterworfen werden. Genau dies bewirkt, dass die Europapolitik immer wieder der Dynamik nationaler Debatten unterliegt und sich die Medien nicht von der Fixierung auf die eigene nationale Regierung und die Logik der nationalen Interessen befreien können. Wenn Fischer nun eine Eurokammer mit nationalen Delegierten vorschlägt, dann ist das nur ein weiterer Schritt in die falsche Richtung: eine Maßnahme zur Schwächung der supranationalen Demokratie auf dem Altar der Zwischenstaatlichkeit.
Bild: US State Department [Public Domain], via Wikimedia Commons
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