19 November 2011

Alles schon mal da gewesen

Plagiatejäger aufgepasst: In meinem letzten Blogeintrag über Joschka Fischers Eurokammer findet sich eine Formulierung, die gar nicht von mir ist – nämlich die Feststellung, dass Fischers Vorschlag „darauf hinauslaufen würde, das gewählte Europäische Parlament durch die Wiederauferstehung der Beratenden Versammlung zu ergänzen, die bis 1979 existierte“.

Im Original lautet die Stelle:
La première idée consisterait en somme à doubler le Parlement élu au suffrage universel par la résurrection de l'Assemblée qui existait avant 1979 : comme si la démocratie consistait à émietter entre deux Chambres un pouvoir extrêmement faible, au lieu de l'accroître afin que les élus du peuple disposent enfin du droit de voter la loi et le budget.

Die erste Idee bestünde kurz gefasst darin, das in einer allgemeinen Wahl gewählte Parlament durch die Wiederauferstehung der Versammlung zu verdoppeln, die vor 1979 existierte: als ob die Demokratie darin bestünde, eine außerordentlich schwache Macht zwischen zwei Kammern zu zerkrümeln, statt sie zu vermehren, sodass die Volksvertreter endlich das Recht bekommen, über Gesetz und Haushalt abzustimmen.
Sie stammt aus einem Gastkommentar des Politikwissenschaftlers und sozialdemokratischen Europaabgeordneten Maurice Duverger, der am 30. Juni 1990 unter dem Titel Un gouvernement pour l'Europe in Le Monde veröffentlicht wurde. Tatsächlich ist Fischers Vorschlag einer Eurokammer, die parallel zum Europäischen Parlament existieren und sich aus Vertretern der nationalen Parlamente zusammensetzen soll, nämlich noch nicht einmal besonders originell: Sie wurde bereits in den Verhandlungen vor dem Vertrag von Maastricht diskutiert, mit dem die Europäische Union 1992 gegründet wurde.

Die Befürworter der Idee damals

Wer hat's erfunden? Michael Heseltine.
Aufgebracht wurde der Vorschlag eines „Senats“ aus Delegierten nationaler Parlamente Ende 1989 in einem Buch von Michael Heseltine, Unterstützung fand die Idee unter anderem durch Leon Brittan sowie später durch Valéry Giscard d'Estaing und Jean François-Poncet. Interessant ist dabei, welchen politischen Richtungen die damaligen Befürworter des „Senats“ angehörten: Sowohl Heseltine als auch Brittan zählten zum europafreundlichen Flügel der britischen Conservative Party, die unter der Regierung Thatcher ansonsten einen strikt antieuropäischen Kurs verfolgte. Giscard d'Estaing und François-Poncet wiederum waren wichtige Vertreter der UDF, die damals nach der gaullistischen RPR unter Jacques Chirac die wichtigste französische Oppositionspartei war. UDF und RPR traten zu Wahlen in der Regel mit gemeinsamen Listen an und bemühten sich deshalb beständig, nach außen ein möglichst geschlossenes Bild zu erwecken – was allerdings ausgerechnet in der Europapolitik immer wieder scheiterte, da die kleinere UDF mit einer weiteren Integration sympathisierte, während die größere RPR die Abgabe weiterer nationaler Kompetenzen an die Europäische Gemeinschaft ablehnte.
 
Was die Befürworter der Senatsidee miteinander vereinte, war, dass sie jeweils einer europafreundlichen Minderheit innerhalb einer eigentlich europaskeptischen Gruppierung angehörten. Ihr Vorschlag, das Europäische Parlament zugunsten einer „besseren Einbindung der nationalen Parlamente“ zu schwächen, war also eigentlich ein Versuch, ihren zweifelnden, national-souveränistischen Partnern eine Fortsetzung der europäischen Integration schmackhaft zu machen. Im Falle Heseltines war dies zum Scheitern verurteilt, nicht umsonst hatte er es mit Mrs. No zu tun, der die europäische Integration dermaßen zuwider war, dass sie sich wohl von keinerlei Argumenten mehr hätte beeindrucken lassen. Giscard d'Estaing dagegen war erfolgreicher: Anfang Mai 1990 konnte er Chirac dazu bringen, sich öffentlich für einen Senat aus nationalen Delegierten auszusprechen – durch den es, so Chirac, möglich sein würde, trotz Kompetenzübertragungen in wichtigen Politikbereichen die „nationale Idee“ in der EG zu wahren.

Damit setzten die beiden endlich einmal europapolitisch geeinten Oppositionsführer auch die Regierung unter François Mitterrand unter Druck, der seinerseits ohnehin eher den Europäischen Rat und nicht das Europäische Parlament als wichtigsten Akteur der zu gründenden Europäischen Union bevorzugte. Vor dem Gipfel von Dublin im Juni 1990 geisterte der Senatsvorschlag deshalb auch durch die Verhandlungen zwischen den Staats- und Regierungschefs – und löste nicht nur den kritischen Gastbeitrag Maurice Duvergers in Le Monde aus, sondern auch eine fraktionenübergreifende ablehnende Resolution des Europäischen Parlaments. Da auch die Europäische Kommission unter Jacques Delors und die deutsche Bundesregierung unter Helmut Kohl sich nicht so recht dafür erwärmen konnten, wurde die Idee schließlich fallen gelassen. Stattdessen steigerte der Vertrag von Maastricht durch die Einführung des Mitentscheidungsverfahrens die gesetzgeberische Macht des Europäischen Parlaments (wenn auch nicht in dem Maß, in dem Duverger sich das gewünscht hätte). Mitterrand zog dabei mit, Thatcher dagegen dankte im November 1990 als Premierministerin ab, nachdem sie bei der Abstimmung um den Parteivorsitz von Michael Heseltine herausgefordert worden war und im ersten Wahlgang das notwendige Quorum nicht erreicht hatte. Ihr Nachfolger wurde der europapolitisch kompromissbereite John Major.

Und heute?

Wenigstens in der Frage des „Senats“ setzten sich in den Verhandlungen über den Vertrag von Maastricht also die Föderalisten durch. Wenn Joschka Fischer nun diese Idee in leicht abgewandelter Form als „Eurokammer“ wieder aufgreift, stellt sich die Frage, ob nicht auch er sich damit eigentlich an Europaskeptiker wendet – und wer dann die heutigen Thatchers und Chiracs sind, die er auf diese Weise von einer Vertiefung der europäischen Integration zu überzeugen versucht. Sein eigenes politisches Lager wird es wohl kaum sein, denn von Seiten der Grünen, traditionell die europafreundlichste Partei in Deutschland, schlägt seinem Vorschlag eher Ablehnung entgegen. Aber vermutlich denkt Fischer ohnehin schon längst nicht mehr parteipolitisch. Und wer weiß, vielleicht lässt sich die Bundestagsmehrheit und die von ihr getragene Regierung ja tatsächlich von dem Gedanken beeindrucken, dass eine Fiskalunion auch ohne supranationale Organe möglich sein könnte.

Nur mit den Vereinigten Staaten von Europa, zu denen Fischer sich mit so entschlossener Rhetorik bekennt, hat das alles nicht viel zu tun. Ein Heseltine ist zwar besser als eine Thatcher, aber eben noch kein Duverger.

Bild: Financial Times [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.

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