23 November 2011

Grundregeln für faule EU-Berichterstattung

Das war aber auch Zeit: Kosmopolito hat endlich das aus zwanzig unschätzbar wertvollen Ratschlägen bestehende Regelwerk für faulen EU-Journalismus gefunden, Opalkatze hat es ins Deutsche übersetzt. Sehr schön! Hier ein paar Glanzstücke:
1. Sie sind nicht sicher, wie die EU funktioniert oder welche Institutionen es gibt? → Schreiben Sie einfach „Brüssel“.

8. Fakten sind überbewertet. Kümmern Sie sich nicht um die Überprüfung der ursprünglichen politischen EU-Dokumente. Es besteht keine Notwendigkeit, die Unterschiede zwischen Weiß- und Grünbuch, einem Bericht, einer Verordnung oder einer Richtlinie zu verstehen. […] Niemand wird überprüfen, ob eine EU-Geschichte wahr ist. Jeder weiß, dass die EU langweilig und böse ist. Darüber hinaus ist das einzige Ziel der EU, überflüssige Verordnungen zu erlassen (allgemein „red tape“ genannt).

11. Sie denken, dass die EU ein wenig zu komplex ist und alles ein wenig zu lange dauert? → Konzentrieren Sie sich auf die Nullsummenspiele, besonders anläßlich der Gipfeltreffen. Ein Land gewinnt, ein Land verliert. So ist das Leben. Das ist die EU. Ganz einfach.

15. EU-Haushalt und Budget-Verhandlungen bieten viele interessante Möglichkeiten für faule Journalisten. […] Nie darüber nachdenken, was die EU mit dem Geld machen könnte, einfach davon ausgehen, dass „Brüssel das ganze Geld verschwendet.“ Budget-Verhandlungen sind Nullsummenspiele (Regel 11). So etwas wie das „europäische Interesse“ gibt es nicht.
Nur ein paar kleine Einwände

Zu zwei Punkten sei aber respektvolle Kritik erlaubt. Zum einen Nummer 10:
10. Es ist nicht der Rede wert, dass Ihre Minister ein Vetorecht über die EU-Politik haben. → Schreiben Sie einfach, dass die EU die nationale Souveränität zerstört.
Wir sind dank des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens inzwischen glücklicherweise so weit, dass in den allermeisten Politikfeldern kein einzelner Minister mehr ein Vetorecht über die europäische Politik hat: Nur in wenigen Bereichen gibt es dieses Veto noch, etwa in der Außen-, der Finanz- und der Sozialpolitik, was übrigens bezeichnenderweise auch diejenigen Felder sind, wo die EU bislang am wenigsten Erfolg hat. (Im englischen Original heißt es deshalb auch etwas treffender „that ministers might have a veto“, dass Minister ein Veto haben könnten.) Was aber den meisten Journalisten tatsächlich nicht der Rede wert ist, ist, dass in allen Bereichen ohne nationale Vetorechte das Europäische Parlament ein Mitentscheidungsrecht über die EU-Politik besitzt – und das ist direkt von den europäischen Bürgern gewählt, genauso wie der Bundestag und das House of Commons, und sogar repräsentativer.

Und zum anderen Nummer 2:
2. Deutschland wird im Allgemeinen als für die EU-Politik wichtig angesehen, und Journalisten wissen, wie sie darüber berichten: Wenn Deutschland in einem bestimmten Politikbereich aktiv ist, schreiben Sie einfach etwas über „deutsche Dominanz“. Wenn Sie für eine britische Zeitung arbeiten, erwähnen Sie irgendwie den Krieg. Wenn Deutschland sich in einem bestimmten Politikbereich passiv verhält, schreiben Sie, dass Deutschland die EU aufgibt und dass es klar eine einseitige Strategie verfolgt. Wenn Sie für eine britische Zeitung arbeiten, erwähnen Sie irgendwie den Krieg.
Da ist es wieder, das Merkel-Dilemma. Doch so lächerlich die Aufregung gerade der britischen Boulevard-Medien über Deutschland in der Regel ist: Wie ich hier kürzlich schon geschrieben habe, könnte es manchmal auch einfach richtig sein, wenn man der Bundesregierung ein gewisses europapolitisches Hegemonialstreben attestiert.

Und schließlich sollte man auch noch fair sein und den EU-Korrespondenten zugestehen, dass sie in der Regel nicht faul, sondern schlicht überlastet sind. Die meisten großen europäischen Medien halten nach wie vor die nationale Politik für wichtiger als das, was auf EU-Ebene geschieht, und statten deshalb ihre Hauptstadtbüros großzügig mit Finanzmitteln und Personal aus, während die Korrespondentenbüros in Brüssel im besten Fall auf zwei, drei Mitarbeiter kommen. Und wenn deren Artikel zu gut sind, werden sie nicht gedruckt, weil die Heimatredaktion sie nicht versteht. Wenn wir also Blame Game spielen wollen, sollten wir nicht unbedingt auf das letzte, offensichtliche Glied der journalistischen Nahrungskette zielen, sondern lieber auf diejenigen, die – geleitet von dem, was sie für die Lesewünsche ihrer Kundschaft halten – die eigentliche Gatekeeper-Funktion ausüben.

Aber wie auch immer: Kosmopolito hat bereits einen zweiten Teil seines Leitfadens angekündigt, in dem der Schwerpunkt darauf liegen soll, wie ein fauler Journalist am besten über die Euro-Krise berichtet. Ich bin gespannt.

1 Kommentar:

  1. Ich wollte das eigentlich links liegen lassen, denn ich mir kamen schon, als ich die Überschrift bei der opalkatze las, die Vorurteile über die Vorurteile und die wurden dann beim Lesen bestätigt. Gut, dass es jemand anders (vielleicht ein Quentchen weniger Genervter) doch aufgeschrieben hat.

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