Vergangene
Woche habe
ich hier über die Frage geschrieben, worauf Freunde der
europäischen Integration bei der Reform der EU ihren Schwerpunkt
setzen sollten: Welche Maßnahmen bieten den besten Hebel, um
langfristig die demokratische Legitimität und gesellschaftliche
Akzeptanz der EU zu stärken? Als Antwort darauf sehe ich vor allem
zwei Prioritäten, von denen ich die eine, nämlich die Wahl der
Europäischen Kommission allein durch das Europäische Parlament,
bereits im letzten Artikel
beschrieben habe.
Heute
soll es nun um den zweiten Vorschlag gehen – die Einführung
transnationaler Listen bei der Europawahl. Diese Reform hätte
zum einen bedeutende Auswirkungen auf die europäische Demokratie und
Öffentlichkeit. Zum anderen öffnet sich durch den britischen
EU-Austritt ein Gelegenheitsfenster, durch die transnationale Listen
einfacher zu erreichen sein werden als bisher. Es lohnt sich also,
sich gerade jetzt für diese Reform einzusetzen. Aber dazu weiter
unten mehr.
28
nationale Teilwahlen
Zum
Vorschlag selbst: Die Wahlen zum Europäischen Parlament bestehen
derzeit bekanntlich aus 28 nationalen Teilwahlen. Diese finden zwar
alle mehr oder weniger gleichzeitig statt (nämlich alle fünf Jahre
innerhalb eines viertägigen Zeitraums) und haben auch einen
gemeinsamen
rechtlichen Rahmen. Jeder Mitgliedstaat hat aber ein eigenes
festes Sitzkontingent, um das sich nur die jeweils nationalen
Parteien bewerben.
Auch
die Kandidatenlisten werden deshalb jeweils von den nationalen
Parteien aufgestellt, auf dem Stimmzettel stehen die Namen der
nationalen Parteien, und auch der Wahlkampf wird von den Themen
dominiert, die die nationalen Parteien für interessant halten –
ganz gleichgültig, ob die EU dafür tatsächlich zuständig ist oder
nicht. Wenig überraschend interessieren sich deshalb auch die Medien
am Wahlabend meist vor allem für das nationale Ergebnis. Aus welchen
Parteien und Fraktionen sich das Europäische Parlament eigentlich
zusammensetzt, ist vielen europäischen Bürgern hingegen unbekannt.
Der Reformvorschlag
Der
Reformvorschlag besteht nun darin, diese nationalen Teilwahlen um
einen gesamteuropäischen Wahlkreis zu ergänzen. Jeder Bürger hätte
bei der Europawahl dann zwei Stimmen: Die erste ginge wie bisher an
die Liste einer nationalen Partei für die Besetzung des nationalen
Sitzkontingents. Mit der zweite Stimme aber würden die Bürger eine
der transnationalen Listen wählen, die von den europäischen
Parteien aufgestellt würden.
Auf dem zweiten Wahlzettel
stünden also nicht die Namen der nationalen, sondern der
europäischen Parteien: die christdemokratische EVP, die
sozialdemokratische SPE, die liberale ALDE usw. Die transnationalen
Listen wären in jedem europäischen Mitgliedstaat identisch, und
auch bei ihrer Auszählung hätte natürlich die Stimme jedes
Unionsbürgers dasselbe Gewicht.
Wie
viele der Sitze im Europäischen Parlament über diese
gesamteuropäischen Listen besetzt werden sollten, dazu gibt es
unterschiedliche Modelle. In der Europäischen Bewegung etwa
kursierte Anfang der 1990er Jahre die Forderung, ein Fünftel aller
Mandate über transnationale Listen zu wählen – nach heutiger
Größe des Parlaments also 150 Sitze. Sehr viel bescheidener war ein
Bericht des Europaabgeordneten Andrew Duff (LibDem/ALDE), der Anfang
2012 die Einführung von nur 25
transnationalen Parlamentssitzen vorschlug, die zu den nationalen
Sitzkontingenten hinzukommen sollten.
Mehr
Sichtbarkeit für die europäischen Parteien
Worin bestünden nun die Vorteile der transnationalen Listen? Ein erster wichtiger Aspekt ist symbolischer Natur: Durch den gesamteuropäischen Wahlkreis würde deutlich, dass das Europäische Parlament tatsächlich ein Organ zur Vertretung der europäischen Bürgerinnen und Bürger ist (wie in Art. 14 EU-Vertrag vorgesehen) und nicht etwa zur Repräsentation der nationalen Staatsvölker, wie es zum Beispiel das deutsche Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil (Rn. 280) deutete.
Konkret
würde sich diese symbolische Veränderung in der besseren
öffentlichen Sichtbarkeit der europäischen Parteien bemerkbar
machen, die vor allem über ihre Fraktionen im Europäischen
Parlament schon heute großen Einfluss auf die europäische Politik
nehmen. Transnationale Listen würden dazu führen, dass auf
Stimmzetteln und Wahlplakaten endlich auch die Namen dieser Parteien
erscheinen – und dass Medien und Wähler erkennen, dass man vor der
Europawahl eher
die europäischen als die nationalen Wahlprogramme lesen sollte.
Das wiederum könnte auch die Inhalte der Wahlkämpfe beeinflussen
und dazu beitragen, dass die Wahl tatsächlich zu einer europaweiten
Entscheidung über die großen gemeinsamen Richtungsfragen wird.
Strukturelle
Loyalität der Abgeordneten
Darüber
hinaus brächten transnationale Listen aber auch einen ganz konkreten
Machtgewinn für die europäischen Parteien mit sich – nämlich bei
der Auswahl der Kandidaten. Zwar gilt auch im Europäischen Parlament
das freie Mandat, sodass Abgeordnete bei ihrer Arbeit rechtlich nicht
an Weisungen von anderen gebunden sind. Parlamentarier, die
wiedergewählt werden wollen, sind aber darauf angewiesen, dass ihre
Partei sie erneut auf die Wahlliste setzt. Das setzt einen starken
strukturellen Anreiz zu einer Loyalität der Abgeordneten gegenüber
ihrer Partei (was demokratisch durchaus wünschenswert ist, da ja
auch die Wähler nur Parteilisten, nicht einzelne Abgeordnete wählen
können).
Da
die Wahllisten für die Europawahl bis jetzt jedoch auf nationaler
Ebene aufgestellt werden, gilt auch die strukturelle Loyalität der
Abgeordneten in erster Linie ihren jeweiligen nationalen Parteien.
Dies schwächt nicht nur den Zusammenhalt der Fraktionen im
Europäischen Parlament, sondern führt auch dazu, dass
Meinungskämpfe innerhalb der europäischen Parteien oft entlang
nationaler Grenzen ausgetragen werden – und nicht, wie innerhalb
nationaler Parteien üblich, entlang weltanschaulicher Flügel.
Die
transnationalen Listen hingegen würden von den europäischen
Parteien aufgestellt. Kandidaten, die darauf antreten wollen, müssten
sich deshalb nicht nur national, sondern europaweit um die
Unterstützung ihrer Parteifreunde bemühen. Damit aber wären sie
auch strukturell einer gesamteuropäischen Programmatik verpflichtet.
Transnationale Wahllisten sind insofern die logische Fortsetzung der
Spitzenkandidaten
für das Amt des Kommissionspräsidenten, die bislang als einzige
politische Akteure von den europäischen Parteien nominiert werden.
Wahlgleichheit
Und
schließlich könnten transnationale Wahllisten auch noch ein Hebel
sein, um mit einem weiteren Ärgernis aufzuräumen, das die
Legitimität der Europawahlen bis heute einschränkt: nämlich das je
nach Land ungleiche Gewicht der abgegebenen Stimmen.
Diese
Ungleichheit hat zwei Ursachen, die sich beide aus den festen
nationalen Sitzkontingenten ergeben. Die erste Ursache ist der
Grundsatz der degressiven
Proportionalität, nach dem größere Staaten zwar mehr Sitze
erhalten als kleinere, kleinere aber mehr Sitze pro Einwohner.
Eine Stimme,
die in einem kleinen Land abgegeben wird,
beeinflusst das
Gesamtergebnis deshalb
stärker als eine Stimme in
einem großen Land. Die
zweite Ursache ist, dass die
Größe der nationalen Sitzkontingente nicht an
die Wahlbeteiligung angeglichen wird. In
einem Land mit niedriger Wahlbeteiligung zählt die einzelne Stimme
deshalb mehr als in einem Land mit höherer Beteiligung. Im
Ergebnis führten diese
Ungleichheiten zum Beispiel
dazu,
dass die europäische Partei,
die
bei der Europawahl 2014 die
meisten Stimmen holte,
im Europäischen Parlament nur die zweitstärkste
Fraktion stellt.
Volle formale Legitimität
Für
die transnationalen
Listen hingegen würde ein
strikter Gleichheitsgrundsatz gelten: Jede Stimme, egal wo in der EU
sie abgegeben würde, wäre tatsächlich gleich viel wert.
Idealerweise würde man bei
der Sitzverteilung zunächst die Mandate
berücksichtigen, die die
europäischen Fraktionen
bereits über
die nationalen Listen gewonnen haben, und die
transnationalen Listen dann
für einen
Verhältnisausgleich nutzen.
Dadurch könnte man für
die nationalen Sitzkontingente das Prinzip der degressiven
Proportionalität beibehalten –
für die
Stärke der einzelnen Fraktionen aber wäre
allein das
Verhältnis der
„transnationalen“
Zweitstimmen ausschlaggebend.
Wie das im Einzelnen aussehen
könnte, habe ich an
anderer Stelle ausführlicher beschrieben.
Diese
Herstellung einer strikten Stimmgleichheit ist für die europäische
Demokratie zwar eher von formaler als von praktischer Bedeutung. Sie
würde aber all jenen EU-Kritikern (vom oben
zitierten Bundesverfassungsgericht bis zu der
Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot) den Wind aus den Segeln
nehmen, die das ungleiche Stimmgewicht als liebstes Argument
verwenden, um dem Europäischen Parlament die volle Legitimität
abzusprechen. Und das wiederum würde die Chance erhöhen, künftig
Mehrheiten für eine weitere Stärkung des Parlaments zu erreichen.
Die letzten Anläufe zur Wahlrechtsreform
Mehr
formale Legitimität für das Parlament, mehr Einfluss für die
europäischen Parteien, eine bessere öffentliche Debatte im
Wahlkampf und klarere europäische Richtungsentscheidungen durch die
europäischen Bürger – es wird tatsächlich nur wenig andere
Reformen geben, durch die sich mit einem Schlag so viel für die
europäische Demokratie erreichen lässt. Trotzdem mussten die
Befürworter transnationaler Listen in den letzten Jahren einigen
Frust ertragen. Denn obwohl der Vorschlag bereits seit vielen Jahren
in der politischen Debatte präsent ist, sind alle Versuche zu einer
entsprechenden Änderung des Europawahlrechts bislang gescheitert.
Den
vorletzten Anlauf dazu machte der Verfassungsausschuss des
Europäischen Parlaments 2012 mit seinem oben schon erwähnten
Duff-Bericht.
Dieser kam letztlich jedoch nicht zur Abstimmung, da die
Ablehnung unter Christdemokraten, Nationalkonservativen,
Rechtspopulisten und Linken zu groß war. Stattdessen
verabschiedete das Europäische Parlament 2015 mit den Stimmen der
Großen Koalition einen
anderen, abgeschwächten Entwurf zur Wahlrechtsreform, in dem
transnationale Listen nur noch als vage Möglichkeit für die
Zukunft enthalten waren. Jo Leinen
(SPD/SPE), einer der Autoren dieses abgeschwächten Entwurfs,
erklärte in einem Interview, transnationale Listen blieben
zwar ein Ziel, aber nicht für die nächste Europawahl 2019.
Und
selbst so zeigte der Ministerrat – der die Reform des
Europawahlrechts einstimmig beschließen muss – bislang große
Skepsis gegenüber dem Parlamentsvorschlag. Die Wahlrechtsreform
liegt
derzeit deshalb auf Eis. Eine Entscheidung darüber soll zwar
eigentlich noch in dieser Legislaturperiode fallen, aber ob es dazu
kommt, ist ungewiss.
Brexit als Chance
Zuletzt
allerdings ist wieder Bewegung in die Angelegenheit gekommen, denn
eines der Hindernisse, die der Einführung transnationaler Listen
bislang im Weg standen, könnte plötzlich entfallen. Ungeklärt war
nämlich stets die Frage, wo eigentlich die zusätzlichen
Parlamentssitze für die transnationalen Listen herkommen sollten:
Art. 14 EU-Vertrag
begrenzt die Zahl der Abgeordneten auf 751 und schreibt gleichzeitig
vor, dass jedes Land mit mindestens sechs Sitzen vertreten sein muss.
Man hätte das heutige Parlament also weder einfach um die
transnationalen Sitze erweitern noch die nationalen Sitzkontingente
der Mitgliedstaaten entsprechend reduzieren können.
Gesamteuropäische Listen wären nur mit einer Vertragsreform möglich
gewesen.
Vor
einem Monat aber hat Großbritannien offiziell
seinen Entschluss erklärt, aus der Europäischen Union
auszutreten – und damit werden voraussichtlich schon 2019 die 73
Sitze im Europäischen Parlament frei, die bislang von britischen
Abgeordneten eingenommen werden. Was könnte man Besseres damit
tun, als sie künftig über transnationale Listen besetzen zu lassen?
Italien
und Frankreich sind dafür – und Deutschland?
Die
italienische Regierung hat am gestrigen Donnerstag jedenfalls einen
entsprechenden Vorschlag im Ministerrat eingebracht, und auch der
aussichtsreiche französische Präsidentschaftskandidat Emmanuel
Macron (EM/–) hat diese Idee in
seinem Wahlprogramm stehen. Gewiss: Bis zur Einstimmigkeit unter
den 27 Regierungen ist es noch ein weiter Weg. Aber wenn die großen
Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament in dieser Frage an
einem Strang ziehen, gibt es erstmals eine echte Chance für die
Reform.
Entscheidend
könnte dabei sein, wie sich die deutsche Bundesregierung positioniert –
und das Zeitfenster dafür ist jetzt geöffnet. Werden wir die große
proeuropäische Mobilisierung, die der Pulse
of Europe in den letzten Wochen
erreicht hat, nutzen können,
damit
dieser
konkrete Schritt
in Richtung einer
demokratischeren
Europäischen
Union endlich Wirklichkeit
wird?
Bild: © European Union 2017 - European Parliament [CC BY-NC-ND 4.0], via Flickr.