Ganz im Gegensatz zu Schulz: Der ist seit bald zwanzig Jahren Mitglied des Europäischen Parlaments, davon die letzten siebeneinhalb Jahre als Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion S&D. Bekannt wurde er vor allem durch seinen Schlagabtausch mit Silvio Berlusconi im Juli 2003, was allerdings keineswegs das einzige heftige Verbalscharmützel war, das er im Plenarsaal mit politischen Kontrahenten führte. Wenn es um Fragen wie die Zukunft der Währungsunion und die Einführung von Eurobonds geht, verkörpert Schulz wie kaum ein zweiter das Programm der Sozialdemokratischen Partei Europas. Und mit Sicherheit will er sich auch künftig nicht aus der Politik zurückziehen: Bei der Europawahl 2014 plant die SPE erstmals einen gemeinsamen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten aufzustellen, und man darf davon ausgehen, dass Schulz sich um diese Nominierung bemühen wird. Warum lässt sich solch ein Vollblut-Parteipolitiker in ein Amt wählen, in dem er qua Funktionsbeschreibung nicht den Konflikt mit dem politischen Gegner suchen darf?
Unbekannt im Fraktionsvorsitz
Die Antwort darauf bietet, offenbar unfreiwillig, ein Beitrag im Blog ringsumher. Der Autor dort stellt nämlich fest,
dass der Streit mit Berlusconi die einzige, nunja, inhaltliche Auseinandersetzung ist, die ich mit Schulz in Verbindung bringe. Der SPD-Politiker sitzt seit rund 18 Jahren im Europäischen Parlament. In dieser Zeit wird er sicherlich mehr getan haben, als sich ein Wortgefecht mit Berlusconi zu liefern. Nur was?
Worüber die Medien dagegen berichten, sind die europäischen Regierungen. Wenn es wieder einmal eine Tagung des Europäischen Rates (vulgo „EU-Gipfel“) gibt, auf dem Griechenland um seine Zukunft bangt, Großbritannien sich isoliert, Frankreich sich aufspielt und Deutschland sich durchsetzt, sind die Zeitungen voll von Europapolitik. Und dann fallen auch ein paar Brocken Aufmerksamkeit für die übrigen Institutionen ab – für die Kommission, die konstruktive Vorschläge macht, damit der Europäische Rat sie verwässern kann, und manchmal sogar für das Europäische Parlament, das übergangen wird und dagegen protestiert.
Aufmerksamkeit nur für institutionelle Konflikte
Wenn Martin Schulz aber tatsächlich 2014 als Kandidat für die Kommissionspräsidentschaft antreten will, dann ist das, was er am dringendsten benötigt, mediale Aufmerksamkeit. Nach so vielen Jahren in der Europapolitik ist er in der SPE zweifellos besser vernetzt als mancher nationale Regierungschef. Um aber eine länderübergreifende Wählerschaft anzusprechen, braucht er eine breitere Öffentlichkeit, die ihm der Fraktionsvorsitz allein nicht bietet. Wenn Schulz seinen Namen in den Nachrichten sehen will, dann wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als sich mit den anderen EU-Organen anzulegen – mit der Kommission, vor allem aber mit den Regierungen im Europäischen Rat. Und dass er genau das vorhat, hat er in seiner Antrittsrede ziemlich unmissverständlich deutlich gemacht:
Seit Monaten hetzt die Union von einem Krisengipfel zum nächsten. Entscheidungen, die uns alle betreffen, werden von Regierungschefs hinter verschlossenen Türen getroffen. […] Das Ergebnis einer parlamentarisch unzureichend legitimierten Politik wird von den Bürgern als Diktat aus Brüssel empfunden. Den Preis dafür bezahlt die EU als Ganzes: das ist der Nährboden für antieuropäische Ressentiments. Und dem wird das Europäische Parlament nicht tatenlos zuschauen! Wer glaubt, man könne ein Mehr an Europa mit einem Weniger an Parlamentarismus schaffen, dem sage ich hier und jetzt den Kampf an!
Ein paradoxes System
Doch auch wenn Schulz sich damit durchaus politisch rational verhält: Letztlich ist seine Wahl zum Parlamentspräsidenten ein Symptom für die Schwäche des heutigen EU-Systems. Denn dass die Aufmerksamkeit der europäischen Öffentlichkeit sich in erster Linie auf die institutionellen, nicht die parteipolitischen Konflikte richtet, trägt für sich allein schon dazu bei, die Europapolitik zu delegitimieren. Auf die Parteien nämlich kann der Wähler alle vier, fünf Jahre mit seiner Stimme einwirken: Er kann die Seite belohnen, die ihn mit ihren Argumenten mehr überzeugt hat, und diejenige abstrafen, von deren Verhalten er enttäuscht ist. Verläuft die wichtigste Konfliktlinie dagegen zwischen zwei Organen, eben Europaparlament und Europäischem Rat, dann können wir Bürger nur zusehen und hoffen, dass der Streit zuletzt so beendet wird, wie wir das für richtig halten. Selbst beeinflussen aber können wir die institutionelle Machtverteilung kaum.
Wenn auf nationaler Ebene der Parlamentspräsident die Stellung der Volksvertretung gegen die Ansprüche anderer Staatsorgane verteidigen muss, und wenn diese Kontroverse gar so gewichtig wird, dass darüber die Auseinandersetzung zwischen den politischen Parteien in den Hintergrund gerät, dann haben wir es mit einer veritablen Verfassungskrise zu tun. Auf europäischer Ebene dagegen ist das der Normalzustand. Das Paradox des Martin Schulz ist ein Paradox im politischen System der Europäischen Union.
Interssanter Kommentar - er trifft auch auf die Berichterstattung im Freitag zu. Auch dort wird Schulz als streitbarer Idealist vorgestellt, der dem Parlament zu neuem Ansehen verhelfen könnte. Seine Wahl bereits als Ausdruck einer Tendenz zu sehen, dass das Parlament in Sachfragen kaum als relevant sondern eher in institutionelle Auseinandersetzungne verstrickt wahrgenommen wird, finde ich sehr treffend.
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