31 März 2022

Das europapolitische Quartett: Was bedeutet der Ukraine-Krieg für die EU?

Mit:
  • Julian Plottka, Universität Passau / Universität Bonn
  • Sophie Pornschlegel, European Policy Centre, Brüssel
  • Manuel Müller, Universität Duisburg-Essen / Der (europäische) Föderalist, Berlin
Dieses Gespräch entstand als Online-Chat und wurde redaktionell bearbeitet.

Demonstrantinnen und Demonstranten in Kiew mit Flaggen der Ukraine und der EU
Schon 2013 wehten Europaflaggen auf dem Maidan in Kyjiw.

Manuel
Der russische Angriffskrieg in der Ukraine dauert nun schon seit über einem Monat an. Das Wichtigste daran sind natürlich die Folgen vor Ort: die Toten und Verletzten, das Leid der Menschen und die Zerstörungen der Städte. Aber der Krieg hat auch Auswirkungen auf die EU, und um die soll es in unserem heutigen europapolitischen Quartett gehen.

Erstens gewinnt auf Policy-Ebene die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik neue Bedeutung. Zweitens beschleunigt der Krieg auch eine Verschiebung der öffentlichen Debatte über den Sinn der europäischen Integration: Statt innerem Frieden, Wohlstand und Demokratie rückt zunehmend die Selbstbehauptung gegenüber äußeren Gegnern in den Mittelpunkt. Und drittens ist da ja dann auch noch der ukrainische Beitrittsantrag …

Bleiben wir erst einmal bei den konkreten politischen Maßnahmen. Das Jacques Delors Centre in Berlin hat dazu kürzlich eine Übersicht über die Veränderungen veröffentlicht, die der Krieg ausgelöst hat – von verteidigungspolitischen Tabubrüchen über die ungeahnte Geschlossenheit in der Flüchtlingspolitik bis zu der recht schnellen Einigung über ein weitreichendes Sanktionspaket (auch wenn es jetzt schon wieder Streit über Ausnahmen für Energieträger gibt).

Was haltet ihr von diesen Entwicklungen? Stehen wir vor einer „Zeitenwende“, wie es jetzt immer wieder heißt? Oder handelt es sich nur um die neueste Wendung in der europäischen „Permakrise“, so wie zuvor die Währungsunion, die Migration, das Klima und die Pandemie europapolitische Debatten dominiert haben?

Eine verteidigungspolitische Zeitenwende?

Sophie
Ich weiß nicht, ob ich schon von einer verteidigungspolitischen „Zeitenwende“ auf europäischer Ebene sprechen würde. Es stimmt zwar, dass die EU jetzt durch die European Peace Facility zum ersten Mal selbst Waffenlieferungen finanziert. Aber sogar Deutschland hatte in der Vergangenheit bereits Waffen nach Syrien geliefert, um die Kurden zu unterstützen. Der Begriff ist bisher eher für Deutschland passend, sofern die neue Ausrichtung der Verteidigungspolitik anhält. Aber ich würde ihn noch nicht für die EU-Ebene nutzen.

Zustimmen würde ich, dass es eine sehr schnelle und geeinigte Antwort der EU war, die man nicht unbedingt erwartet hätte. Die Frage ist nun, ob diese Entwicklungen nur eine einmalige, kurzfristige Antwort auf den Krieg in der Ukraine waren oder auch eine längerfristige Umorientierung der EU bedeuten – womöglich mit einem stärkeren Fokus auf die „europäische Souveränität“ à la Macron.

Julian
Mit dem Begriff der Zeitenwende habe ich, wenn man ihn nur auf den Krieg in der Ukraine bezieht, auch meine Probleme. Ich habe vielmehr den Eindruck, dass die Permakrise Entwicklungen, die sich in unterschiedlichen Bereichen schon länger anbahnten, zuspitzt und Entscheidungen erzwingt. In der jeweiligen Situation erscheint das dann subjektiv sicherlich als fundamentale Wende. Aber selbst mit Blick auf den russischen Überfall auf die Ukraine gab es genügend Menschen, die spätestens seit 2014 davor gewarnt haben, dass eine solche Entwicklung möglich ist. Das Neue ist, dass nun deren politische Forderungen schlagartig mehrheitsfähig geworden sind.

Sophie
Wenn man jahrelang Europapolitik verfolgt, wird man vorsichtig, große Fortschritte vorherzusehen. Vielleicht hat meine Skepsis gegenüber dem Begriff der „Zeitenwende“ damit zu tun. Ich persönlich bin aber auch fest davon überzeugt, dass eine Krise – oder ein Krieg in diesem Fall – allein keine positiven Veränderungen bringt: Es kommt einzig und allein auf die politische Antwort an, die darauf gegeben wird. Und diese politischen Antworten auf EU-Ebene zu finden bleibt eine Herausforderung, wenn man unter 27 Mitgliedstaaten einen Kompromiss finden muss.

Julian
Ich tippe darauf, dass es eher eine kurzfristige Einigkeit war, die unter dem Eindruck des akuten Schocks entstanden ist. Inzwischen zeigen sich ja schon wieder die ersten Bruchlinien zwischen den Mitgliedstaaten, nicht nur bei der Frage der Energie-Sanktionen. Auch bei Waffenlieferungen („Durch Ungarn nur, wenn sie anschließend noch ein anderes NATO-Land passieren, bevor sie in die Ukraine gehen“) und Beschaffung („Der Verteidigungsausschuss des Bundestages ist schon in Israel und schaut sich Arrow-3-Raketen an“) sieht es nicht nach Koordinierung aus. Auch in der Flüchtlingsfrage wäre ich sehr überrascht, wenn es diesmal einen Verteilungsschlüssel gäbe. Das ist alles noch weit von „europäischer Souveränität“ entfernt.

Ein Positives hatten die Reaktionen im Schock aber: Sie haben gezeigt, dass es doch möglich ist, in der EU gemeinsame Entscheidungen zu treffen, auch wenn es in anderen Fragen schwer zu überbrückende Gräben gibt. Vielleicht sind wir an einem Punkt angekommen, an dem die klassische Paketlösungsmethode Lösungen nicht mehr vereinfacht, sondern erschwert, weil einige schwerwiegende innereuropäische Konflikte das Potenzial haben, zur Dauerblockade zu werden. Unter dem Eindruck des Krieges sind diese Probleme vorübergehend in den Hintergrund getreten.

Auf dem Weg zur „hard power“?

Manuel
Immerhin: Wenn bestimmte Forderungen plötzlich mehrheitsfähig werden, hat das ja doch politische Auswirkungen. Mir scheint schon, dass wir eine Prioritätenverschiebung der EU erleben, die der Ukraine-Krieg nicht ausgelöst, aber sicher beschleunigt hat: eine „geopolitische“ Wende, in der europäische Innenpolitik (die traditionelle Agenda von innereuropäischem Frieden und Wohlstand und das neuere Ziel von überstaatlicher Demokratie) für viele Politiker:innen an Bedeutung verliert, während globale Fragen wichtiger genommen werden – und man zunehmend versucht, sie durch außen- und verteidigungspolitische hard power zu lösen.

Sophie
Ich war auch erstaunt, wie schnell sich vor allem in Deutschland das verteidigungspolitische Narrativ geändert hat – von Pazifismus kann hier nicht mehr die Rede sein (und aus guten Gründen). Allerdings sollte man aufpassen, dass wir die Ausrüstung der Bundeswehr multilateral und europäisch denken. Im Moment ist das nicht unbedingt der Fall, wir denken da weiter national.

Und was die europäische Ebene betrifft, stimme ich dir zu, Manuel. Nur ist es etwas zu früh, um zu wissen, ob wir uns tatsächlich hin zu einer hard power bewegen. Das würde nämlich Entscheidungen erfordern, die ich mir bisher angesichts der politischen Verhältnisse schwer vorstellen kann. Julian hat es bereits erwähnt: Es gibt Bruchlinien, die nicht so einfach zu überwinden sind. Aber vielleicht ist es ja das Comeback der differenzierten Integration!

Julian
Ich bin skeptisch, ob wir wirklich eine Verschiebung des Narrativs hin zu globalen Fragen haben. Bei der Bundeswehr sehe ich eher eine verteidigungspolitische Rolle rückwärts: Seit dem Kosovo-Krieg wurde sie mehr oder weniger erfolgreich (das können andere besser beurteilen) in Richtung einer global einsatzfähigen Armee entwickelt. Jetzt liegt der Fokus hingegen wieder klar auf der Territorialverteidigung. Das erinnert mich viel mehr an die Westintegration unter Adenauer. Der einzige (zugegeben entscheidende) Unterschied ist, dass wir Europäer:innen noch die Frage beantworten müssen, ob wir prinzipiell auch ohne die USA verteidigungsbereit sein wollen oder nur mit den USA. Diese Frage hatte sich damals für Adenauer nicht gestellt.

Entsprechend finde ich, dass das Friedensnarrativ auch sehr dem bei der Gründung der EU gleicht. Dass das zwischenzeitlich weiter, sogar global gedacht wurde ist, glaube ich, eher eine Besonderheit unserer Generation, weil Krieg in Europa für uns sowieso undenkbar war. Aber auch die soft power der EU war ja nur durch die US-amerikanische hard power möglich. Erst seit den 1990er Jahren wurde überhaupt diskutiert, ob es auch soft power ohne hard power geben kann, und die Bilanz dieses Versuchs lässt sich sehr unterschiedlich beurteilen. Auf Deutschland gemünzt würde ich sagen: Ohne Adenauer kein Brandt – die Mischung macht’s.

Kosmopolitische Werte vs. geopolitische Interessen?

Manuel
Vielleicht hat sich auch eher die Art verändert, wie die EU mit globalen Fragen umgeht: Lange Zeit hat sie vor allem auf friedliche multilaterale Zusammenarbeit, eine Stärkung der Vereinten Nationen und auf das Völkerrecht gesetzt und die „harten“ macht- und verteidigungspolitischen Fragen der NATO überlassen. Das war für die EU einerseits, wie jetzt häufig kritisiert wird, eine einfache Art, unangenehmen Themen aus dem Weg zu gehen.

Andererseits führte es aber auch zu einer höheren Glaubwürdigkeit ihrer „kosmopolitischen“ Agenda: Man konnte der EU abnehmen, dass sie (abgesehen von der Handelspolitik, in der sie schon immer auch eigennützig agierte) tatsächlich eine faire, freiheitliche, nicht auf Dominanz ausgerichtete Weltordnung im Sinn hatte. Jetzt hingegen betont sie stärker ihre eigenen geopolitischen Interessen und deren Durchsetzung – die manchmal (wie in der Ukraine) mit freiheitlich-demokratischen Werten übereinstimmen, aber eben nicht notwendig dasselbe sind.

Sophie
Manuel, ist das nicht vor allem die deutsche Position und Sichtweise? In Frankreich wünscht man sich schon länger eine stärkere EU, insbesondere in verteidigungspolitischen Fragen.

Manuel
Mag sein, aber vielleicht hat das auch mit dem recht speziellen französischen Blick auf die NATO zu tun …

Sophie
Grundsätzlich finde ich es auch nicht schlecht, dass wir uns wieder mit Interessen beschäftigen. Ich fand es schon immer sehr scheinheilig, so zu tun, als würden wir uns für den Weltfrieden einsetzen und nichts anderes. Was aber übrigens nicht bedeutet, dass man die EU-Grundwerte aus dem Fenster werfen sollte.

Julian
„Good cop EU, bad cop NATO“ ist natürlich auch eine bequeme Arbeitsteilung. Beide Rollen in der EU zu vereinen, wird sehr viel schwieriger.

Der Rechtsstaatsmechanismus als Preis für die Geschlossenheit?

Manuel
Sprechen wir noch mal über den innenpolitischen Preis, den die EU für die kurzfristige Einigkeit im Ukraine-Krieg bezahlt: Wie es aussieht, hat die Kommission die Anwendung des Rechtsstaatsmechanismus gegenüber Ungarn und Polen noch mal zurückgestellt. Auch das ist aus meiner Sicht eine Gefahr der „geopolitischen Wende“: dass Stärke und Geschlossenheit gegenüber demokratischen und rechtsstaatlichen Werten an Gewicht gewinnen.

Sophie
O ja! Putin zwar bestrafen wollen, dafür aber innerhalb der EU Putin-Methoden zulassen. Das wird langfristig nach hinten losgehen und der Legitimität der EU als Rechtsgemeinschaft sehr schaden.

Julian
Was mit Blick auf die Ukraine ein Treppenwitz wäre: Damit die Ukrainer:innen für europäische Werte kämpfen können, stellen wir die Durchsetzung der Werte in der EU zurück.

Sophie
In Polen und Ungarn sind es übrigens die NGOs, die zuvor in ihrer Arbeit behindert und in Ungarn sogar kriminalisiert wurden, die nun die ganze Flüchtlingshilfe vor Ort leisten – damit anschließend sich die polnische und ungarische Regierung bei der EU beklagen können, dass sie dafür doch Gelder brauchen.

Julian
Sophie, wie siehst Du das denn in Brüssel? Hat der Krieg hier einen Unterschied gemacht, oder hat die Kommission damit nur die ultimative Ausrede bekommen, um zu machen, was sie sowieso machen wollte?

Sophie
Gute Frage: Die EU-Kommission war schon immer sehr vorsichtig. Jede Institution schiebt die Verantwortung von sich und weist auf die anderen hin, die doch das effizientere Instrument hätten, um Grundwerte zu sichern. Das Grundproblem ist und bleibt, dass es keinen politischen Willen gibt, autoritäre Regierungen für ihr Handeln zu bestrafen, weil wir sie bei allen anderen Politikbereichen brauchen: Digitalisierung, Klimawandel, Sanktionen …

Julian
Ein bisschen dürfte hier ja auch die Personalie eine Rolle spielen – wenn man halt dem Europäischen Rat seine Wahl verdankt …

Der ukrainische Beitrittsantrag

Manuel
Kommen wir zum ukrainischen Beitrittsantrag: Die ukrainische Regierung scheint dazu bereit zu sein, mit Russland über ihre „Neutralität“ zu verhandeln, was wohl den Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft bedeutet. Gleichzeitig hat sie nicht nur einen EU-Beitrittsantrag gestellt, sondern auch um ein besonderes, beschleunigtes Verfahren dafür gebeten. Georgien und Moldau, die ebenfalls mit russisch unterstützten Separatist:innen zu kämpfen haben, haben es ihr gleichgetan. Wie soll die EU damit umgehen?

Julian
Was ich interessant fand, war, dass viele Integrationsforscher:innen die Debatte über den ukrainischen Beitrittsantrag gleich mit einem Verweis auf die hohen Hürden in Art. 49 EUV abbügeln wollten. Mich überzeugt das nicht. Wenn uns die Permakrise eines gelernt hat, dann dass es immer einen Weg gibt, wenn der politische Wille da ist. Mit einer vertragsändernden Mehrheit (gegebenenfalls auch mit dem ein oder anderen nationalen Referendum) könnte man das Verfahren abkürzen, wenn man will. Ob man will, ist eine andere Frage.

Sophie
Wenn man davon ausgeht, dass die EU stärker zu einer Interessengemeinschaft wird, dann wäre ein EU-Beitritt der Ukraine (sowie der Republik Moldau und Georgiens) ein Fehler: Die Ukraine ist ein besetztes Land, das leider nicht mehr souverän ist. Die Kopenhagener Kriterien sind auch nicht erfüllt: Die Ukraine hatte vor dem Krieg enorme Korruptionsprobleme, die Institutionen und die Wirtschaft waren nicht bereit für einen EU-Beitritt – ganz abgesehen davon, dass 40 Millionen Ukrainer:innen die Machtverhältnisse innerhalb der EU drastisch ändern würden, was die Entscheidungsfindung nicht vereinfacht.

Ich bin außerdem dagegen, den Beitrittsprozess zu politisieren: Es gibt kein „beschleunigtes Verfahren“. Wir sollten uns an die Verfahren halten, die wir aufgesetzt haben – auch für die Westbalkan-Länder wäre es unfair, die Regeln jetzt zu ändern. Und schließlich: Ein EU-Beitritt würde der Ukraine im aktuellen Krieg nicht helfen. Schlimmstenfalls eskaliert der Konflikt wegen der Verteidigungsklausel in Art. 42 (7) EUV. Zwar sehe ich den symbolischen Mehrwert eines Beitritts, aber die Gefahr ist groß, dass wir damit der Ukraine falsche Hoffnungen machen.

Kopenhagen-Kriterien

Manuel
Aus meiner Sicht gibt es zwei wesentliche Argumente, die für einen ukrainischen EU-Beitritt sprechen. Zum einen ist es grundsätzlich besser, grenzüberschreitende Fragen mit supranationalen demokratischen Institutionen zu bearbeiten als mit diplomatischen Mitteln, sodass es a priori wünschenswert ist, dass beitrittswillige und -fähige Staaten sich der EU anschließen. Und zum anderen natürlich die Symbolik: In der Ukraine geht es auch um einen Kampf um die Demokratie, als deren Garantin die EU gesehen wird. Die Tür zuzuschlagen, wäre hier ebenso ein Fehler wie auf dem Westbalkan.

Gerade die Erfahrung dort erklärt aus meiner Sicht übrigens auch den Wunsch nach einem beschleunigten Verfahren: Nordmazedonien hat wiederholt erleben müssen, dass die EU das Beitrittsverfahren aus bloßen internen Gründen gestoppt hat, obwohl das Land eigentlich seine Aufgaben erfüllt hatte. Insofern ist das Beitrittsverfahren schon jetzt „politisiert“.

Was den Punkt mit den Kopenhagen-Kriterien betrifft, stimme ich dir allerdings völlig zu, Sophie. Der Korruptionsindex von Transparency International sieht für die Ukraine in den letzten zehn Jahren zwar eine leichte Verbesserung, aber noch 2021 hatte sie den zweitniedrigsten Wert in Europa – nur Russland steht noch schlechter da. Ein ähnliches Bild bieten der Rechtsstaatsindex des World Justice Project oder der Freiheitsindex von Freedom House. Aber vielleicht wäre ein schrittweises, zielgerichtetes, gut begleitetes Beitrittsverfahren nach dem Krieg genau die richtige Hilfe, hier die nötigen Reformen anzustoßen?

Julian
Mein Eindruck ist, dass die notwendigen Reformen schon angestoßen waren, die Ukraine aber vor dem Krieg am Anfang der mühevollen Ebene angekommen war, in der sich die Staaten des Westbalkans derzeit befinden. Die Frage ist dann: Wie treibt man die Reformen konsequent voran, wenn die Karotte immer weiter in die Ferne zu rücken scheint?

Ukrainische Souveränität und europäische Supranationalität

Sophie
Das Argument stimmt natürlich, aber es kommt auf die Perspektive an: Betrachtet man den EU-Beitritt eher aus außenpolitischer oder aus EU-innenpolitischer Sicht?

Und noch ein Punkt, der bisher nicht genannt wurde: Die Ukraine ist aus guten Gründen gerade sehr nationalistisch. Die wehenden Flaggen repräsentieren eine Demokratie, die sich gegen eine russische Invasion verteidigt. Doch bisher stellt man sich nicht die Frage, ob ein solcher Nationalismus langfristig auch mit der supranationalen Ausrichtung der EU kompatibel und wünschenswert ist.

Manuel
Ja, da stimme ich völlig zu: Der Krieg bringt in der Ukraine gerade eine starke Aufwallung an Souveränitätsbewusstsein und Nationalismus – was unter den gegebenen Umständen völlig nachvollziehbar und vielleicht auch notwendig ist, um Widerstandsbereitschaft der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, aber keine gute Voraussetzung, um Mitglied der supranationalen EU zu sein.

Am Ende sind nationale Souveränität und supranationale Demokratie zwei verschiedene Formen von Antiimperialismus: Beide richten sich gegen imperiale Machtansprüche, wie ihn die russische Regierung vertritt, wenn sie die Ukraine als ihre „Einflusszone“ sieht, die sie von Moskau aus fernsteuern will. Aber in vieler Hinsicht stehen nationale Souveränität und supranationale Demokratie eben auch im Widerspruch zueinander, denn Letztere setzt voraus, dass man bereit ist, sich einer gemeinsamen, überstaatlichen Rechtsordnung zu unterwerfen.

Julian
In der Tat ist der Nationalismus – zumindest in den einen oder anderen Auswüchsen – eine Herausforderung. Aber ich würde es zumindest als offene Frage formulieren, ob in der Ukraine Nationalismus und Supranationalismus im Widerspruch zueinander stehen müssen. Wenn die europäische Integration zum Instrument wird, das hilft, die ukrainische Souveränität wiederherzustellen, könnte das aus ukrainischer Sicht durchaus zusammenpassen. Im Gegensatz zu den zentral- und osteuropäischen Ländern gibt es in der Ukraine ja keinen direkten Übergang von der Unabhängigkeit zur europäischen Integration, sondern einen Krieg, in dem die EU als Unterstützerin gesehen wird.

Sophie
Ich glaube, die ukrainische Regierung sieht ihren Beitrittsantrag rein geopolitisch, nicht aus supranationaler Perspektive. Es geht ihr um eine Integration in „den Westen“, nicht unbedingt in ein supranationales Projekt.

Manuel
… was dann wieder die Frage aufwirft: Versteht die EU selbst sich nur als ein „geopolitischer Block“ oder als supranationale demokratische Gemeinschaft? Ich denke, das ist eine Debatte, die wir dringend führen müssen – um unsere Haltung gegenüber der Ukraine zu klären, aber auch gegenüber der Weltpolitik im Allgemeinen.



Julian Plottka ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Politik an der Universität Passau und am Lehrstuhl für Europapolitik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.


Sophie Pornschlegel ist Senior Policy Analyst am European Policy Centre in Brüssel.

Manuel Müller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen und betreibt das Blog „Der (europäische) Föderalist“.

Bilder: Flaggen: Evgeny Feldman, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons; Porträts Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Manuel Müller: privat [alle Rechte vorbehalten].

The European Policy Quartet: What does the Ukraine war mean for the EU?

With:
  • Julian Plottka, University of Passau / University of Bonn
  • Sophie Pornschlegel, European Policy Centre, Brussels
  • Manuel Müller, University of Duisburg-Essen / Der (europäische) Föderalist, Berlin
This conversation was conducted as an online chat in German. The transcript below has been edited and translated.

Demonstrators in Kyiv with Ukrainian and EU flags
On the Maidan in Kyiv, there were European flags in 2013 already.

Manuel
The Russian war of aggression in Ukraine has been going on for over a month now. Its most important consequence is, of course, what happens on the ground: the dead and injured, the suffering of the people and the destruction of the cities. But the war also has repercussions for the EU, and that is what we will talk about in today’s European Policy Quartet.

First, at a policy level, the common security and defence policy is gaining new importance. Secondly, the war is also accelerating a shift in the public debate on the meaning of European integration: instead of internal peace, prosperity and democracy, the focus is increasingly on self-assertion against external adversaries. And thirdly, of course, there is also the Ukrainian application for EU membership …

Let’s start with the concrete political measures. The Jacques Delors Centre in Berlin recently published an overview of the changes that the war has triggered – from the breaking of taboos in defence policy to the unprecedented unity in refugee policy and the rather quick agreement on a far-reaching sanctions package (even if there is already another dispute about exceptions for energy sources).

What do you think of these developments? Are we on the verge of a “turn of the times” (Zeitenwende), as it is now repeatedly said? Or are we only witnessing the latest twist in the European “permacrisis”, just as monetary union, migration, climate and the pandemic have dominated European policy debates before?

A turn of the times in defence policy?

Sophie
I don’t know if I would call it a Zeitenwende in defence policy at the European level yet. Sure, the EU is now financing arms deliveries itself for the first time through the
European Peace Facility. But even Germany had already supplied weapons to Syria in the past to support the Kurds. So far, the term is more appropriate for Germany, if the changes in its defence policy continue. But I would not use it for the EU level yet.

I would agree that the EU response was very quick and united, something one would not necessarily have expected. The question now is whether these developments were just a one-off, short-term response to the war in Ukraine or also signify a longer-term reorientation of the EU – possibly with a stronger focus on Macron-style “European sovereignty”.

Julian
I also disagree with the idea that the war in Ukraine as such is a game changer. Rather, I have the impression that the permacrisis brings to a head developments that have been in the offing for some time in various areas, forcing the EU to take some overdue decisions. In the specific situation, this may subjectively appear as a fundamental change and a paradigm shift. But even with regard to the Russian invasion of Ukraine, there were enough people who had been warning that such a development was possible since at least 2014. What is new is that their political demands have suddenly become mainstream.

Sophie
When you follow European politics for years, you become wary of predicting great leaps of progress. Perhaps my scepticism about the term “Zeitenwende” has something to do with that. But personally, I am also firmly convinced that a crisis – or a war in this case – alone does not bring positive change: it is only the political response that matters. And finding these political responses at EU level remains a challenge when you have to forge a compromise among 27 member states.

Julian
My guess is that it was rather a short-term agreement that emerged under the impression of the acute shock. By now, the first fault lines between the member states are already reappearing, not only on the issue of energy sanctions. Arms deliveries (“Through Hungary only if they then pass through another NATO country before going to Ukraine”) and procurement (“The Bundestag’s defence committee is already in Israel looking at Arrow-3 missiles”) are not quite coordinated either. Concerning refugees, I would be very surprised if there were quotas this time. This is all still far from “European sovereignty”.

There was one positive thing about the shock reactions, though: they showed that it is possible to make joint decisions in the EU after all, even if there are divides that are difficult to bridge on other issues. Perhaps we have reached a point where the classic package-deal method no longer simplifies solutions, but makes them more difficult. Some serious intra-European conflicts have the potential to permanently block decisions. But under the impact of the war, these problems were temporarily relegated into the background.

On the way to “hard power”?

Manuel
And certainly, if some demands suddenly become capable of gaining majority support, this does have political effects. To me, it seems that we are witnessing a shift in the EU’s priorities that the Ukraine war has not triggered, but certainly accelerated: a “geopolitical” turn in which European domestic politics (the traditional agenda of domestic peace and prosperity and the newer goal of supranational democracy) is losing importance for many politicians, while global issues are becoming more important – and increasingly attempts are being made to solve them through “hard power” in foreign and defence policy.

Sophie
I was also amazed at how quickly the defence policy narrative has changed, especially in Germany – there can no longer be any talk of pacifism here (and for good reasons). However, we should be careful to think in a multilateral and European way when re-equipping the Bundeswehr. At the moment, that is not necessarily the case; we continue to think nationally.

And as far as the European level is concerned, I agree with you, Manuel. But it is a bit too early to know whether we are really moving towards hard power. That would require decisions that I find difficult to imagine so far, given the political situation. As Julian has already mentioned, there are fault lines that are not so easy to overcome. But maybe it will be the comeback of differentiated integration!

Julian
I am sceptical whether the narrative really shifts towards global issues. In the case of the Bundeswehr, I see more of a return to territoriality: since the Kosovo war, the Bundeswehr had been developed more or less successfully (others can judge this better) in the direction of a globally deployable army. Now, the focus is clearly back on territorial defence. This reminds me much more of the Western integration under Konrad Adenauer. The only (admittedly decisive) difference is that we Europeans still have to decide whether we want to be able to defend ourselves without the USA or only with the USA. This question did not arise for Adenauer at the time.

Accordingly, I think that the peace narrative is also very similar to how it was at the founding of the EU. The fact that the idea of peace through integration has since been taken further, even to a global level, is, I believe, rather a peculiarity of our generation, because war in Europe was unthinkable for us anyway. But the EU’s soft power was only possible because of the USA’s hard power. Only since the 1990s there has been a discussion whether soft power is possible without hard power, with rather inconsistent results. In terms of Germany, I would say: without Adenauer, there would be no Brandt – it’s all in the mix.

Cosmopolitan values vs. geopolitical interests?

Manuel
Perhaps it is rather the way the EU deals with global issues that has changed: for a long time, it focused mainly on peaceful multilateral cooperation, strengthening the United Nations and international law, and letting NATO deal with the “hard” questions of power and defence policy. On the one hand, as is now often criticised, this was an easy way for the EU to avoid unpleasant issues.

On the other hand, it also led to a higher credibility of its “cosmopolitan” agenda: Apart from trade policy (where it has always also acted selfishly), one could believe the EU that it actually had a fair, liberal, non-domination-oriented world order in mind. Now, on the other hand, it is putting more emphasis on its own geopolitical interests and their implementation – which sometimes (like in Ukraine) coincide with the values of freedom and democracy, but are not necessarily the same thing.

Sophie
Manuel, isn’t that mainly the German position and view? France has wanted a stronger EU for a long time, especially in defence policy issues.

Manuel
Maybe, but perhaps that has also to do with the rather peculiar French view of NATO …

Sophie
Generally, I don’t think it’s a bad thing either that we are talking about interests again. I have always found it very hypocritical to pretend that we are working for world peace and nothing else. Which, by the way, does not mean that we should throw the EU’s fundamental values out of the window.

Julian
Of course, “Good cop EU, bad cop NATO” is a convenient division of labour. Combining both roles in the EU will be much more difficult.

Sacrificing the rule of law for foreign policy unity?

Manuel
Let’s also talk a bit about the domestic price the EU is paying for short-term unity in the Ukraine war. It looks like the Commission has once again postponed the application of the rule of law mechanism on Hungary and Poland. In my view, this too is a danger of the “geopolitical turn”: that strength and unity gain weight over democratic values and the rule of law.

Sophie
Oh yes! They want to punish Putin, but allow Putin methods within the EU. In the long run, this will backfire and greatly damage the legitimacy of the EU as a legal community.

Julian
Which would be quite ironic with regard to Ukraine: To enable the Ukrainians to fight for European values, we put the enforcement of these values on hold in the EU.

Sophie
By the way, in Poland and Hungary, NGOs, which were previously hindered in their work and even criminalised in Hungary, are now providing crucial refugee aid on the ground – only for the Polish and Hungarian governments to complain to the EU afterwards that they need more funding for this.

Julian
Sophie, how do you see it in Brussels? Did the war make a difference here, or did it just give the Commission the ultimate excuse to do what it wanted to do anyway?

Sophie
That’s a good question. The EU Commission has always been very cautious. Each institution shifts the responsibility away from itself and points to others who supposedly have more efficient instruments to secure fundamental values. The basic problem is and remains that there is no political will to punish authoritarian governments for their actions, because we need them in all other policy areas: digitalisation, climate change, sanctions …

Julian
Personal agency might also play a bit of a role here – if you
owe your election to the European Council …

The Ukrainian application for membership

Manuel
Let’s move on to the Ukrainian application for joining the EU: The Ukrainian government seems ready to
negotiate with Russia on its “neutrality”, which probably means renouncing NATO membership. At the same time, it has not only applied for EU membership, but also asked for a special, accelerated procedure. Georgia and Moldova, which are also struggling with Russian-backed separatists, have followed suit. How should the EU deal with this?

Julian
What I found interesting was that many integration scholars wanted to immediately dismiss the debate on the Ukrainian application with a reference to the high hurdles in art. 49 TEU. I am not convinced of that. If the permacrisis has taught us anything, it is that if there is political will, there is always a way. With a treaty-amending majority (which might require some national referenda), the procedure could be shortened if we wanted to. Whether we want to is another question.

Sophie
If one assumes that the EU is becoming more of a community of interests, then Ukraine’s (as well as Moldova’s and Georgia’s) accession to the EU would be a mistake: Ukraine is an occupied country that is unfortunately no longer sovereign. The
Copenhagen criteria are not met either: Ukraine had huge corruption problems before the war, the institutions and the economy were not ready for EU accession – not to mention that 40 million Ukrainians would drastically change the balance of power within the EU, which does not simplify decision-making.

I am also against politicising the accession process: There is no “accelerated procedure”. We should stick to the procedures we have set up – it would also be unfair for the Western Balkan countries to change the rules now. And finally: EU accession would not help Ukraine in the current war. At worst, the conflict would escalate because of the defence clause in art. 42 (7) TEU. While I see the symbolic value of accession, there is a great danger that we will give Ukraine false hope.

Copenhagen criteria

Manuel
In my view, there are two main arguments in favour of Ukrainian EU accession. First, it is generally better to deal with cross-border issues in supranational democratic institutions than by diplomatic means – so it is a priori desirable that states that are willing and able to join the EU should do so. And secondly, of course, there is the symbolism: In the war, Ukrainians are also fighting for democracy, of which the EU is seen as a guarantor. Slamming the door shut would be just as much a mistake here as it is in the Western Balkans.

And, by the way, it is precisely the experience there that in my view also explains the desire for an accelerated procedure: Northern Macedonia has repeatedly had the EU stopping the accession procedure for mere internal reasons, although the country had actually fulfilled its tasks. In this respect, the accession procedure is already “politicised”.

I totally agree with you on the point of the Copenhagen criteria, though. Transparency International’s Corruption Perceptions Index has shown a slight improvement for Ukraine over the last ten years, but in 2021 it still had the second lowest score in Europe – only Russia is worse. The World Justice Project’s Rule of Law Index and the Freedom House Index paint a similar picture. But perhaps a gradual, expedient, well-monitored accession process after the war would be just the right support to initiate the necessary reforms here?

Julian
My impression is that the necessary reforms had already been initiated, and before the war Ukraine had reached the long and laborious path of implementation on which the states of the Western Balkans currently find themselves. The question then is: how do you consistently push ahead with reforms when the carrot seems to be receding further and further into the distance?

Ukrainian sovereignty and European supranationality

Sophie
That’s a valid argument, of course, but it depends on the perspective: Do you look at EU accession more from a foreign policy perspective or from an internal EU perspective?

And then there is another point that has not been mentioned so far: The mood in Ukraine is, for good reasons, very nationalistic right now. The flying flags represent a democracy defending itself against a Russian invasion. But so far, nobody is asking the question whether such nationalism is also compatible and desirable in the long term with the supranational orientation of the EU.

Manuel

Yes, I totally agree here. The war is creating a strong surge of sovereignism and nationalism in Ukraine right now – which is completely understandable under the circumstances and perhaps even necessary to maintain the people’s willingness to resist the aggression, but not a good prerequisite for being a member of the supranational EU.

In the end, national sovereignty and supranational democracy are two different forms of anti-imperialism: both are directed against imperial claims to power, as represented by the Russian government when it sees Ukraine as its “sphere of influence” that it wants to remotely control from Moscow. But in many respects, national sovereignty and supranational democracy are also in conflict with each other, because the latter presupposes that one is prepared to submit to a common, supranational legal order.

Julian
Indeed, nationalism – at least in its excesses – is a challenge. But I would at least see it as an open question whether nationalism and supranationalism must be at odds with each other in Ukraine. If European integration becomes an instrument that helps to restore Ukrainian sovereignty, this could well be a match from the Ukrainian point of view. In contrast to the Central and Eastern European countries, there is no direct transition from independence to European integration in Ukraine, but rather a war in which the EU is seen as a supporter.

Sophie
I think the Ukrainian government sees its application for membership purely in geopolitical terms, not from a supranational perspective. It is concerned with integration into “the West”, not necessarily into a supranational project.

Manuel
... which then raises the question again: does the EU see itself only as a “geopolitical bloc” or as a supranational democratic community? I think this is a debate we urgently need to have – to clarify our attitude towards Ukraine, but also towards world politics in general.



Julian Plottka is a research associate at the Jean Monnet Chair of European Politics at the University of Passau and at the University of Bonn.


Manuel Müller ist a postdoctoral researcher at the University of Duisburg-Essen and runs the blog „Der (europäische) Föderalist“.

Pictures: Flags: Evgeny Feldman [CC BY-SA 3.0], via Wikimedia Commons; portraits Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Manuel Müller: private [all rights reserved].

04 März 2022

Krieg in der Ukraine: Ist Selbstbehauptung in einer feindlichen Welt der neue Zweck der Europäischen Union?

Die EU lernt die Sprache der Macht. Aber sie darf darüber nicht ihre kosmopolitische Seele verlieren.

Wenig vereint so sehr, wie einer gemeinsamen Bedrohung ausgesetzt zu sein. Auch der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat in der EU einen plötzlichen Integrationsschub und ungeahnte Entschlossenheit zum gemeinsamen Handeln ausgelöst. Obwohl in der Außen- und Verteidigungspolitik jeder Mitgliedstaat ein Vetorecht besitzt, gelang es der EU, sich innerhalb weniger Tage auf weitreichende Sanktionen gegen die Regierungen von Russland und Belarus zu einigen, finanzielle Hilfspakete für die Ukraine zu schnüren und sogar eigene Waffenlieferungen zu organisieren.

In den Worten des Hohen Vertreters Josep Borrell (PSOE/SPE) wird die EU gerade zur „Militärunion“, und sie scheint dabei mit sich im Reinen zu sein. Immerhin hatte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU/EVP) selbst kurz nach ihrer Wahl 2019 angekündigt, Europa müsse „die Sprache der Macht lernen“, und Borrell forderte bereits 2020, die EU solle sich „selbst als geostrategischen Akteur der obersten Kategorie begreifen“. Auch dass Europa „strategische Souveränität“ anstreben müsse, war schon vor dem Krieg in der Ukraine ein beliebtes Schlagwort sowohl der französischen als auch der deutschen Regierung. Wird die politische und militärische Selbstbehauptung auf einer zunehmend feindseligen Weltbühne zur neuen raison d’être der Europäischen Union?

Schon das Paneuropa-Manifest warnte vor der russischen Gefahr

Nun ja: Ganz neu ist die Vorstellung, dass die europäische Einigung dem Schutz gegen äußere Gegner diene, nicht. Schon in Richard Coudenhove-Kalergis Paneuropäischem Manifest von 1923 ging es neben Frieden und Wohlstand auch um die Verhinderung einer „Unterwerfung durch Russland“. Die „zersplitterten und uneinigen Kleinstaaten Europas“, so argumentierte er, könnten der „russischen Weltmacht“ nur widerstehen, wenn sie sich zu einem gemeinsamen „Defensivbündnis“ zusammenschlössen.

Auch später spielte die gemeinsame Verteidigung gegen sonst übermächtige Gegner immer wieder eine treibende Rolle. Jean Monnet, Ideengeber und ab 1952 erster Präsident der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, hatte seine ersten Erfahrungen mit supranationalen Strukturen im Rahmen der interalliierten Wirtschaftszusammenarbeit während der Weltkriege gemacht. 1950 sprach sich Winston Churchill zur „Abschreckung gegen eine russisch-kommunistische Aggression“ für eine gemeinsame europäische Armee aus; kurz darauf konkretisierte die französische Regierung diese Idee im Pleven-Plan. Zwei Jahre danach wurde der Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft unterzeichnet.

Dessen Ratifikation scheiterte zwar 1954 im französischen Parlament, was die militärische Integration im EG-Rahmen für lange Zeit ausbremste. Doch ganz verloren ging das Motiv der Selbstbehauptung in der europäischen Integration auch später nicht. Ab 1970 institutionalisierten die Mitgliedstaaten ihre außenpolitische Kooperation in der Europäischen Politischen Zusammenarbeit. Ab den 1990er Jahren wurde die Unfähigkeit der EU, die Kriege in ihrer jugoslawischen Nachbarschaft zu verhindern, zu einem Ansporn für den schrittweisen Ausbau der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. 2004 entstand die Europäische Verteidigungsagentur, seit 2009 ist die Beistandsklausel in Art. 42 (7) EUV in Kraft. Seit 2017 gibt es eine vertiefte Verteidigungskooperation der meisten Mitgliedstaaten in der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO). Ab den 2000er Jahren gewann außerdem der Kampf gegen den Terrorismus an Bedeutung für die EU, ab 2015 auch der Schutz der europäischen Außengrenzen, für den die EU seit 2021 erstmals über einen eigenen uniformierten Dienst verfügt.

Im Selbstverständnis der EU ging es um Frieden und Wohlstand

In der offiziellen Rhetorik der europäischen Institutionen und der nationalen Europapolitiker:innen spielte die politische und militärische Selbstbehauptung nach 1954 allerdings keine zentrale Rolle. Dass man sich in einer Systemkonkurrenz mit der Sowjetunion befand, war klar, wurde aber in europapolitischen Reden eher nicht an die große Glocke gehängt. In der öffentlichen Wahrnehmung war die EU vor allem ein Friedens- und Wohlstandsprojekt, ab den 1990er Jahren auch ein Projekt der individuellen (Reise-)Freiheit und der überstaatlichen Demokratie. Der Schutz vor äußeren Bedrohungen galt hingegen in erster Linie als Aufgabe der NATO – in der die europäischen Staaten auch die wichtigste globale Militärmacht, die USA, als Verbündeten an ihrer Seite wussten.

Wenn doch einmal die weltpolitische Handlungsfähigkeit Europas als Zweck des Einigungsprojekts gesehen wurde, dann geschah das meist in einem Kontext, der gegen die US-amerikanische Dominanz gerichtet war. Als etwa der französische Präsident Charles de Gaulle in den 1960er Jahren für ein „europäisches Europa“ eintrat, das „durch sich selbst und für sich selbst existiert und in der Welt seine unabhängige Politik verfolgt“, meinte er damit insbesondere die Unabhängigkeit von der NATO. Und auch als Jürgen Habermas und Jacques Derrida nach dem Irakkrieg 2003 über eine „Wiedergeburt Europas“ schrieben, geschah dies in Abgrenzung vom „hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten“.

Einsatz für eine kosmopolitische Weltordnung

Dabei ging es den beiden Philosophen (anders als de Gaulle) allerdings noch nicht einmal im eigentlichen Sinne um europäische Selbstbehauptung – sondern um die EU als „eine Form des ‚Regierens jenseits des Nationalstaates‘ […], das in der postnationalen Konstellation Schule machen könnte“. Die Europäer:innen müssten sich der „Herausforderung stellen, eine kosmopolitische Ordnung auf der Basis des Völkerrechts gegen konkurrierende Entwürfe zu verteidigen und voranzubringen“. Der Erfolg der EU bei der inneren Friedensstiftung zeige, dass „die Domestizierung staatlicher Gewaltausübung auch auf globaler Ebene eine gegenseitige Einschränkung souveräner Handlungsspielräume verlangt“.

Das Ziel der europäischen „Wiedergeburt“ war für Habermas und Derrida also gerade nicht das Mitmischen der EU in einem globalen Großmachtpoker – sondern ihr Einsatz für eine supranationale, rechtsbasierte, postsouveräne Weltordnung. Auch dies passte zum vorherrschenden Selbstverständnis der EU, die in ihrer Außen- (und speziell Außenhandels-)Politik zwar schon immer auch eigene Interessen vertrat, dem eigenen Anspruch nach aber vor allem ein Vorbild in Sachen Frieden, Wohlstand, Freiheit und Demokratie sein sollte.

Seit 2015 rückt Selbstbehauptung ins Zentrum der EU-Rhetorik

Wirklich ins Zentrum der institutionellen Rhetorik der EU gelangte die Idee der europäischen Selbstbehauptung erst ab etwa 2015. Das hatte zum einen wohl diskursstrategische Gründe: In den Jahren zuvor hatte war die Erzählung von der europäischen Einigung als Wohlstandsgarant durch die Eurokrise massiv erschüttert worden – was bei vielen Europapolitiker:innen die Überzeugung nährte, dass die EU ein „neues Narrativ“ für ihre Legitimation brauche. Als Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) 2015 die Forderung nach einer Europa-Armee lancierte, sahen darin viele auch ein integrationspolitisches Leuchtturmprojekt, das jenseits finanzpolitischer Streitereien identitätsstiftend wirken könnte.

Und zum anderen bietet natürlich auch die weltpolitische Lage allerlei Anlass, globalen Fragen verstärkte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Globale Finanzkrisen, Terrorismus und Pandemien, der Klimawandel und die dadurch zu erwartenden Konflikte und Fluchtbewegungen machen deutlich, dass die EU keine Insel der Seligen ist, die sich nur mit sich selbst beschäftigen müsste. Zugleich scheint die EU angesichts des globalen Rückgangs der Demokratie und der Krise der liberalen Weltordnung, der zunehmend aggressiv auftretenden autoritären Regierungen in China und Russland und des Rechtsrutschs der Republican Party in den USA auf der Weltbühne immer einsamer dazustehen. Enger zusammenzurücken, um im globalen Sturm nicht unterzugehen, erscheint da als eine durchaus plausible Losung.

Das neue geopolitische Vokabular

Seither mehren sich im Wortschatz der Europapolitiker:innen die geopolitischen Schlagworte: von der „Weltpolitikfähigkeit“ zur „strategischen Autonomie“, von der „geopolitischen Kommission“ zur „europäischen Souveränität“. Anders als bei Habermas und Derrida geht es dabei in der Regel nicht mehr um eine kosmopolitische Agenda, sondern in erster Linie um den „Schutz der europäischen Werte und Interessen“.

In diesem Sinne legt auch der neue Strategische Kompass der EU, der in diesem Jahr verabschiedet werden soll, im Vergleich zu seinem Vorgänger von 2016 seinen Schwerpunkt weniger auf „Soft Power“ und mehr auf die Notwendigkeit, auf eine Welt voller Bedrohungen mit eigenen militärischen und technologischen Kapazitäten reagieren zu können. Zugleich tritt die EU gegenüber anderen weltpolitischen Akteuren auch selbst immer öfter mit harscher Rhetorik auf – etwa wenn sie China (zu Recht, aber wenig diplomatisch) seit 2019 offiziell als „Systemrivalen“ bezeichnet.

Das Selbstbehauptungsnarrativ bedroht die Werte der EU

Wenn Selbstbehauptung zum zentralen Motiv der europäischen Integration wird, ist das aber auch mit Gefahren verbunden. Die Rückkehr von Souveränitäts- und Großmachtdenken konterkariert das Selbstverständnis der EU als ein wertegeleitetes Projekt, in dem Grenzen an Bedeutung verlieren, Menschen sich unabhängig von ihrer Nationalität als gleichberechtigte Bürger:innen begegnen und gemeinsame politische Probleme durch überstaatliche demokratische Verfahren gelöst werden. Wo Politik von der Angst vor äußeren Bedrohungen geprägt ist, wird schnell Stärke und innere Geschlossenheit über demokratische Legitimität gestellt, Abschottung über Weltoffenheit, Machtpolitik über Menschenrechte.

Noch ist die EU nicht an einem solchen Punkt. Nach wie vor ist sie einer der Akteure, die sich weltweit am klarsten für das Völkerrecht, den Multilateralismus und die Stärkung der Vereinten Nationen einsetzen. Aber auf rhetorischer Ebene ist es ein schmaler Grat – und je intensiver die europäische Politik den Schutz vor äußeren Gegnern und die Selbstbehauptung in einer feindseligen Welt als Hauptmotiv für die europäische Integration zeichnet, desto schwerer wird es ihr fallen, wenn sie in Zukunft bei ihren Bürger:innen um Vertrauen in die Weltinstitutionen oder gar um die Aufgabe europäischer Souveränität zugunsten einer globalen Demokratie werben will. Auch nach innen hin sollten die diskriminierenden Anfeindungen, denen unbeteiligte russische Bürger:innen in Europa in den letzten Tagen teils ausgesetzt waren, eine Warnung sein, wie leicht sich außenpolitische Feindbilder im öffentlichen Bewusstsein festsetzen und eine Gesellschaft vergiften können.

Heute mehr denn je braucht die EU ihre kosmopolitische Vision

Was heißt das nun für die europäische Reaktion auf den Krieg in der Ukraine? Kein Zweifel: Die Aggression der russischen Regierung war ein massiver Völkerrechtsbruch, und es war richtig, darauf mit schnellen und weitreichenden Sanktionen zu reagieren. Und auch langfristig muss die EU strukturell in der Lage sein, auf Angriffe zu reagieren – umso mehr, wenn wie hier auch ihre eigenen demokratischen Werte auf dem Spiel stehen. Aus der zuweilen geäußerten Forderung, man solle akzeptieren, dass es sich bei der Ukraine um eine russische „Einflusszone“ handle, und dementsprechend eine „Neutralisierung“ des Landes anstreben, spricht erst recht eine imperialistische Denkweise, die den mehrheitlichen Wunsch der ukrainischen Bevölkerung nach einer Teilhabe am demokratischen Westen zur Nebensache in einem geopolitischen Machtspiel degradiert.

Aber gerade weil in diesem Fall Härte notwendig ist, sollten wir jetzt besonders aufpassen, wie wir über den Ukraine-Krieg sprechen – und uns nicht aus Entsetzen über die russische Aggression eine Welt herbeireden, in der die globale Gemeinschaft als bloße Illusion gilt, allein das Recht des Stärkeren zählt und der wichtigste Zweck der EU darin besteht, uns für den weltweiten Kampf aller gegen alle zu rüsten.

Beim Projekt der supranationalen Integration geht es um sehr viel mehr als um das. Heute mehr denn je muss die EU ihre Vision einer postsouveränistischen, kosmopolitisch-demokratischen Ordnung aufrechterhalten, statt sich nur als eine Großmacht unter Großmächten zu verstehen.

Bild: By European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

War in Ukraine: Is self-assertion in a hostile world the new purpose of the European Union?

While the EU is learning the language of power, it must not lose its cosmopolitan soul.

Few things unite like facing a common threat. For the EU, the Russian war of aggression in Ukraine has triggered a sudden and unexpected determination to act together. Despite the national veto rights in foreign and defense policy, within a few days the EU has managed to agree on far-reaching sanctions against the governments of Russia and Belarus, put together financial aid packages for Ukraine and even organize its own arms deliveries.

In the words of High Representative Josep Borrell (PSOE/PES), the EU is becoming a ‘military union’ and it seems comfortable with it. After all, Commission President Ursula von der Leyen (CDU/EPP) herself had announced shortly after her election in 2019 that Europe had to “learn the language of power”, and Borrell was already demanding in 2020 that the EU should conceive itself “as a top-tier geostrategic actor”. The idea that Europe must strive for “strategic sovereignty” was a popular catchphrase of both the French and German governments even before the war in Ukraine. Will political and military self-assertion on an increasingly hostile world stage become the European Union’s new raison d’être?

Coudenhove-Kalergi warned of the Russian danger in 1923

In fact, the idea that European unification serves to protect against external adversaries is not entirely new. Already Richard Coudenhove-Kalergi’s Pan-European Manifesto of 1923 proposed European integration not only to obtain peace and prosperity, but also to prevent “subjugation by Russia”. According to him, the “fragmented and disunited small states of Europe” would only be able to resist the “Russian world power” if they joined together in a common “defensive alliance”.

This idea of a joint defense against otherwise overpowering opponents continued to play an important role for European integration in later years, too. Jean Monnet, the founding father of the European Coal and Steel Community, had had his first experiences with supranational structures in the framework of inter-allied economic cooperation during the world wars. In 1950, Winston Churchill advocated a common European army to “deter Russian-Communist aggression”; shortly thereafter, the French government fleshed out this idea in the Pleven Plan. Two years later, the Treaty establishing the European Defense Community was signed.

The ratification of the treaty failed in the French parliament in 1954, which slowed down military integration within the framework of the EC for a long time. However, the motive of self-assertion in European integration was not completely lost. From 1970 onwards, the member states coordinated their foreign policy through the European Political Cooperation. During the 1990s, the EU’s inability to prevent the wars in its Yugoslav neighborhood spurred the gradual expansion of the Common Foreign and Security Policy. In 2004, the European Defence Agency was created; in 2009, the mutual assistance clause in art. 42 (7) TEU entered into force. Since 2017, most member states have intensified their common defence activities in the Permanent Structured Cooperation (PESCO). Moreover, from the 2000s onwards, the fight against terrorism has gained in importance for the EU, as did the protection of Europe’s external borders from 2015, for which the EU has created its first own uniformed service in 2021.

A self-image of peace and prosperity

In the official rhetoric of the European institutions and national EU policy-makers, however, political and military self-assertion did not play a central role after 1954. It was clear that the EU was in a system competition with the Soviet Union, but this was not made a big issue in speeches on European policy. In the public perception, the EU was above all a project for peace and prosperity, and from the 1990s on also a project for individual (travel) freedom and supranational democracy. Protection against external threats was primarily seen as the task of NATO – in which the European states were allied with the most important global military power, the USA.

When Europe’s ability to act in world politics was still presented as the purpose of European unification, it was usually in a context that was directed against US dominance. When, for example, French President Charles de Gaulle in the 1960s advocated a “European Europe” that “exists by itself and for itself and pursues its independent policy in the world”, he meant in particular independence from NATO. Similarly, when Jürgen Habermas and Jacques Derrida wrote about a “rebirth of Europe” after the Iraq War in 2003, this was done in dissociation from the “hegemonic unilateralism of the United States”.

Commitment to a cosmopolitan world order

Remarkably, though, the two philosophers (unlike de Gaulle) were not even concerned with European self-assertion in the strict sense of the word, but rather advocated the EU as “a form of ‘governance beyond the nation-state’ […] that could set an example in the post-national constellation”. Europeans would have to face the “challenge of defending and advancing a cosmopolitan order based on international law against competing designs”. According to them, the EU’s success in domestic peacemaking showed that “the domestication of the use of state power also requires a mutual restriction of sovereign scope for action at the global level”.

Thus, for Habermas and Derrida, the goal of the European “rebirth” was not to involve the EU in a global game among great powers – but to commit it to a supranational, rights-based, post-sovereign world order. This was in line with the prevailing self-image of the EU. Of course, Europe had always stood up for its own interests in foreign (and especially foreign trade) policy. But above all, it wanted to be seen as a global role model in terms of peace, prosperity, freedom and democracy: not a rival, but an example to the rest of the world.

Since 2015, self-assertion has moved to the centre of EU rhetoric

Only from around 2015 onwards, the idea of European self-assertion started to take centre stage in the EU’s institutional rhetoric. On the one hand, this was probably due to reasons of discourse strategy: In the years before, the narrative of European unification as a guarantor of prosperity had been massively shaken by the euro crisis – which among many European policy-makers fuelled the conviction that the EU needed a “new narrative” for its legitimacy. When Commission President Jean-Claude Juncker (CSV/EPP) launched the call for a European army in 2015, this was also seen as a lighthouse project for European integration that could have an identity-building effect and help to overcome wearing disputes on financial policy.

On the other hand, of course, the political situation also offered all kinds of reasons to pay increased attention to global issues. International terrorism, the global financial crisis, the pandemic, the climate emergency and the resulting refugee movements all make it clear that the EU cannot afford to be an inward-looking island of the blessed. At the same time, in view of the global decline of democracy and the crisis of the liberal world order, the increasingly aggressive authoritarian governments in China and Russia and the US Republican Party’s turn to the far right, the EU seems to be increasingly lonely on the world stage. Moving closer together to avoid sinking in the global political storms now seems to be a perfectly plausible slogan.

The new geopolitical vocabulary

Since then, geopolitical buzzwords have proliferated in the vocabulary of European policy-makers: from “Weltpolitikfähigkeit” to “strategic autonomy”, from the “geopolitical Commission” to “European sovereignty”. At the same time, this rhetoric is usually no longer about Habermas and Derrida’s cosmopolitan agenda, but primarily about the “protection of European values and interests”.

In this vein, the EU’s new Strategic Compass, to be adopted this year, places less emphasis on “soft power” than its 2016 predecessor, and more on the need to respond to a world full of threats with own military and technological capabilities. At the same time, the EU itself is using increasingly harsh rhetoric towards other global political actors – for example, when it (correctly, but not very diplomatically) refers to China as a “systemic rival” since 2019.

The self-assertion narrative threatens the values of the EU

Defending European interests on the world stage is thus becoming a central motif in the self-image and self-justification of European policy-makers. However, this development comes at a risk. The return of sovereignty and great-power thinking stands in contrast to the EU’s self-understanding as a value-driven project in which borders lose their significance, people meet as equal citizens regardless of their nationality, and common political problems are solved through supranational democratic procedures. Where politics is shaped by fear of external threats, strength and internal unity can quickly take precedence over democratic legitimacy, a fortress mentality over openness to the world, power politics over human rights.

The EU is not yet at such a point. It remains one of the world’s clearest advocates of international law, multilateralism and the strengthening of the United Nations. But on a rhetorical level, it is a fine line – and the more European policy-makers suggest that self-assertion against external adversaries is the main reason for European integration, the more difficulties they will have if in future they want to win their citizens’ confidence in strengthening world institutions or even surrendering European sovereignty in favour of a global democracy. Also internally, the harassment to which some uninvolved Russian citizens in Europe have been subjected in recent days should be a warning sign of how easily enemy images in foreign policy can take root in the public consciousness and poison a society.

Today more than ever, the EU must uphold its cosmopolitan vision

So what does all this mean for the European response to the war in Ukraine? There can be no doubt: the Russian government’s aggression was a massive breach of international law, and it was right to react to it with swift and far-reaching sanctions. It is also right that, in the long term, the EU must be structurally capable of reacting to attacks – all the more so when, as in this case, its own democratic values are at stake. The idea that Ukraine is part of a Russian “zone of influence” and that the EU should thus strive for a forced “neutralisation” of the country speaks all the more of an imperialist mindset that degrades the majoritarian desire of the Ukrainian population for participation in the democratic West to a minor matter in a geopolitical power game.

But precisely because the EU must stay tough in this case, we should now be particularly careful how we talk about the Ukrainian war. It would be a grave mistake if, out of horror at the Russian aggression, we talked ourselves into a world in which the global community is regarded as a mere illusion, in which there is only the law of the strongest and in which the most important purpose of the EU is to equip us for the global struggle of all against all.

The project of supranational integration is about much more than that. Today more than ever, the EU must uphold its vision of a post-sovereign, cosmopolitan democratic order, instead of only seeing itself as a great power among great powers.

Picture: By European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.

01 März 2022

Wenn am nächsten Sonntag Europawahl wäre (März 2022): Aufstieg der Newcomer


Linke G/EFA S&D RE EVP EKR ID fʼlos Sonst.
EP heute3973145101177646541
Jan. 2251391429916573623440
März 2253361399815878624536
dynamisch5544142105160109
6228
Basis-Szenario,
Stand: 1.3.2022.


Dynamisches Szenario,
Stand: 1.3.2022.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine dominiert in diesen Tagen die Schlagzeilen und beschäftigt die EU wie kein anderes Thema. Ob er sich auch auf die europäischen Wahlumfragen auswirken wird – etwa in Form eines Rally-’round-the-flag-Effekts, wie er zu Beginn der Corona-Pandemie auftrat –, lässt sich jedoch noch nicht sagen. In den meisten EU-Mitgliedstaaten wurden seit Beginn des Krieges noch keine Wahlumfragen durchgeführt. Die aktuelle Sitzprojektion stellt deshalb im Wesentlichen die Stimmung vor der „Zeitenwende“ dar, die viele Beobachter:innen in den letzten Tagen konstatiert haben.

Doch auch so spiegeln die europäischen Wahlumfragen unruhige Entwicklungen wider: Im Vergleich zur letzten Projektion von Anfang Januar büßen alle vier Mitte-Fraktionen – die christdemokratisch-konservative EVP, die sozialdemokratische S&D, die liberale RE und die Grünen/EFA – Sitze ein, während die Linke und die rechte EKR dazugewinnen.

Neugegründete Parteien legen zu

Vor allem aber legen die fraktonslosen und „sonstigen“ Parteien, die keiner Fraktion im Europäischen Parlament eindeutig zugeordnet werden können, in der Sitzprojektion stark zu. Bei vielen von ihnen handelt es sich um Parteien, die bei der letzten Europawahl entweder noch gar nicht existierten oder keine Chance auf einen Sitzgewinn hatten. Anders als vor einigen Jahren, als solche Neugründungen meist populistische oder extremistische Positionen vertraten, sind darunter allerdings auch viele grüne, liberale oder gemäßigt-konservative.

Aber ihre hohe Zahl lässt erkennen, dass die Parteienlandschaften in vielen europäischen Ländern im Fluss sind – bemerkenswerterweise sehr viel mehr als das gesamteuropäische Parteiensystem, das in den letzten Jahren nur am rechten Rand größere Umbildungen erlebt hat. Wie gut es den europäischen Parteien auch in Zukunft gelingt, Neugründungen auf nationaler Ebene zu absorbieren, dürfte zu einer wichtigen Frage der Europawahl 2024 werden. Dies gilt umso mehr, als sich zwischen EVP und S&D ein knappes Rennen abzeichnet und die Aufnahme neuer Parteien für die Mehrheitsverhältnisse unter den Fraktionen große Bedeutung gewinnen könnte.

Viele Rückschläge der EVP

Im Einzelnen erlebte die Europäische Volkspartei seit Anfang des Jahres in vielen Mitgliedstaaten Rückschläge. So blieb der portugiesische PSD bei der portugiesischen Parlamentswahl Ende Januar deutlich unter den Erwartungen. Im spanischen PP führten Ende Februar (auch unter dem Druck sinkender Umfragewerte) parteiinterne Machtkämpfe zum Rücktritt des nationalen Parteichefs. In Frankreich streiten sich die Républicains über den Rechtskurs ihrer Präsidentschaftskandidatin Valérie Pécresse. Und auch in Griechenland setzt sich der Verschleiß der regierenden ND fort.

Das einzige Land, in dem die EVP seit Jahresbeginn nennenswert zulegen konnte, ist Deutschland. Nach der Niederlage bei der Bundestagswahl 2021 war die CDU/CSU zunächst noch weiter zurückgefallen, konnte diesen Trend jedoch gegen Jahresende umkehren. Zuletzt lag sie in den Umfragen nun erstmals wieder knapp über ihrem Bundestagswahlergebnis. In der Summe erreicht die EVP aktuell trotzdem nur 158 Sitze (–7 gegenüber der letzten Sitzprojektion), ihr zweitschlechtester Wert seit Beginn der regelmäßigen Sitzprojektionen 2014.

S&D verliert in Deutschland

Der S&D wiederum macht vor allem die Lage in Deutschland zu schaffen, wo die SPD ihren Zustimmungsschub aus dem Bundestagswahlkampf wieder zu verlieren begonnen hat. Auch in Litauen und Slowenien mussten die Sozialdemokrat:innen in den letzten Wochen schlechtere Umfragewerte hinnehmen, in beiden Fällen bedingt durch den Aufstieg neuer Konkurrenzparteien in Mitte-links-Spektrum.

In anderen Ländern legen sozialdemokratische Parteien hingegen deutlich zu. So konnte der portugiesische PS bei der nationalen Parlamentswahl überraschend eine absolute Mehrheit gewinnen. Und auch die griechische KINAL, Nachfolgepartei der in der Eurokrise abgestürzten PASOK, konnte unter einem neuen Parteichef seit Ende 2021 stark zulegen. Insgesamt erreicht die S&D damit noch 139 Sitze (–3). Das ist ihr schlechtester Wert seit acht Monaten, liegt aber insgesamt im Durchschnitt der Sitzprojektionen der letzten vier Jahre.

Liberale etwas schwächer

Auch bei den europäischen Liberalen (die jüngst die Assoziierung der ukrainischen Regierungspartei Sluha Narodu ankündigten) fielen die Wochen seit Jahresbeginn durchwachsen aus. Gute Nachrichten erreichten sie vor allem aus Frankreich, wo Präsident Emmanuel Macron seine Position an der Spitze der Umfragen ausbauen kann, und aus Italien, wo sich die beiden linksliberal-proeuropäischen Parteien Più Europa und Azione zu einem Bündnis zusammengeschlossen haben und nun gemeinsam die nationale Vierprozenthürde überwinden würden.

In den Niederlanden hingegen stürzt die Regierungspartei VVD weiter ab, und auch die deutsche FDP fiel in den Umfragen zuletzt zurück. Unter dem Strich verschlechtert sich die liberale RE-Fraktion in der Sitzprojektion damit minimal auf 98 Sitze (–1).

Grüne verlieren, Linke legen zu

Erneute Einbußen erleiden schließlich auch die europäischen Grünen, die in Österreich und Litauen leicht zurückfallen. In Frankreich müsste EELV mit den aktuellen Umfragewerten sogar um den Wiedereinzug ins Europäische Parlament bangen; allerdings beziehen sich die französischen Umfragen auf die nationale Präsidentschaftswahl, bei der kleinere Parteien wie EELV aufgrund des unterschiedlichen Wahlsystems strukturell weniger Stimmen gewinnen als bei der Europawahl. Insgesamt kommt die Grüne/EFA-Fraktion in der Projektion nur noch auf 36 Sitze (–3); das ist ihr schlechtester Wert seit Frühling 2018.

Leicht zulegen kann hingegen die Linksfraktion. Durch Zugewinne in Deutschland und Frankreich klettert sie auf 53 Sitze (+2). Für die in den Umfragen insgesamt sehr stabile Linke ist das der zweitbeste Wert in der laufenden Wahlperiode.

EKR baut Vorsprung vor ID aus – und rückt weiter nach rechts

Der wichtigste Gewinner unter den etablierten Fraktionen war in den letzten Wochen jedoch die rechte EKR. Sowohl die spanische Vox als auch die rumänische AUR konnten seit Jahresanfang deutlich zulegen und liegen in den Umfragen nun ungefähr gleichauf mit den jeweiligen nationalen EVP-Mitgliedsparteien PP und PNL. Auch die niederländische JA21 gewinnt in den Umfragen dazu (allerdings zulasten des zweiten niederländischen EKR-Mitglieds FvD, das in der aktuellen Projektion keinen Sitz mehr gewinnen würde).

Insgesamt erreicht die EKR in der Projektion damit 78 Sitze (+5) und kann seine Position als viertstärkste Kraft im Europäischen Parlament weiter ausbauen. Zugleich würde sich die Fraktion mit dem Aufstieg von Vox und AUR sowie den italienischen FdI weiter nach rechts bewegen. In der einst von den britischen Tories als europaskeptisch-konservative Fraktion mitgegründeten EKR sind heute vor allem rechtsextreme Parteien erfolgreich, deren Positionen nicht weniger radikal sind als jene der traditionellen Rechtsaußenfraktion ID.

Für die ID wiederum brachten die letzten Wochen vor allem Stagnation. Während das französische RN um Marine Le Pen in den Umfragen leicht aufstieg und nun wieder deutlicher den zweiten Platz belegt, fielen die italienische Lega und der niederländische PVV erneut zurück. Viele ID-Mitgliedsparteien stehen derzeit durch den Krieg in der Ukraine unter besonderem Erklärungsdruck – haben sie doch in der Vergangenheit besonders gern die Nähe zur russischen Regierung und zu Wladimir Putin gesucht. Ob sich dies letztlich auch in den Umfragen niederschlagen wird, bleibt abzuwarten. Vorerst verharrt die ID in der Projektion bei 62 Sitzen (±0).

Fraktionslose und „sonstige“ Parteien

Deutlich zulegen können in der Sitzprojektion die fraktionslosen Parteien (45 Sitze/+11). Dies liegt vor allem an der neugegründeten französischen Rechtsaußenpartei Reconquête, die dank einiger Überläufer:innen des RN seit Mitte Februar mit vier fraktionslosen Abgeordneten im Europäischen Parlament vertreten ist. In der Sitzprojektion erscheint die Partei deshalb nun nicht mehr unter den „sonstigen“, sondern unter den fraktionslosen Parteien. Davon abgesehen gibt es bei den Fraktionslosen hingegen kaum Veränderungen. Nur das italienische M5S, das in internen Machtkämpfen und juristischen Querelen versinkt, verlor in den Umfragen leicht.

Die Neuzuordnung von Reconquête führt auch dazu, dass die Sitzzahl der „sonstigen Parteien“, die keiner Fraktion eindeutig zugeordnet werden können, in der Projektion leicht zurückgeht (36 Sitze/–4). Sieht man von diesem Sondereffekt ab, konnten die Sonstigen seit Jahresbeginn hingegen stark zulegen – wobei je nach Land ganz unterschiedliche Akteure punkten konnten:

  • Weit rechts gewann die polnische Konfederacja leicht hinzu.
  • Im konservativen, gemäßigt-europaskeptischen Spektrum können sich die Agrarpartei BBB aus den Niederlanden sowie die nationalliberale Partei LT aus Litauen in den Umfragen verbessern.
  • Mit einem ökologisch ausgerichteten Programm können die links-grüne Možemo aus Kroatien sowie besonders die grün-konservative DSVL aus Litauen und die grün-liberale GS aus Slowenien zulegen.
  • In Estland lag die erst 2018 gegründete klassisch-liberale E200 zuletzt in einigen Umfragen auf dem ersten Platz.
  • In Österreich könnte die während der Corona-Pandemie gegründete Impfgegner-Partei MFG nun mit einem Sitz im Europäischen Parlament rechnen.

Insgesamt bilden die fraktionslosen und sonstigen Parteien damit ein beachtliches Reservoir an Abgeordneten, deren Verteilung auf die unterschiedlichen Fraktionen auch die Mehrheitsverhältnisse im Parlament insgesamt beeinflussen könnte.

Dynamisches Szenario

Das dynamische Szenario der Sitzprojektion ordnet deshalb alle „sonstigen Parteien“ der Fraktion zu, der diese plausiblerweise am nächsten stehen. Zudem bezieht es auch mögliche künftige Fraktionswechsel einzelner nationaler Parteien ein – insbesondere einen Beitritt von Reconquête sowie der derzeit ebenfalls fraktionslosen ungarischen Regierungspartei Fidesz zur EKR. Diese Zuordnungen sind im Einzelnen natürlich recht spekulativ, geben insgesamt jedoch vielleicht ein realistischeres Bild der Sitzverteilung nach der nächsten Europawahl als das Basisszenario.

Im Einzelnen legt im dynamischen Szenario vor allem die EKR stark zu. Mit Reconquête und Fidesz sowie verschiedenen kleineren Parteien könnte sie bis auf 109 Sitze wachsen und damit die RE als drittstärkste Kraft im Parlament überholen. Zudem fällt der Abstand zwischen EVP und S&D im dynamischen Szenario noch etwas knapper aus als im Basisszenario. Auch für die Grünen bietet sich im dynamischen Szenario ein etwas rosigeres Bild: Mit 44 Sitzen könnten sie sich sogar leicht gegenüber der Januar-Projektion verbessern – allerdings nur, wenn es ihnen tatsächlich gelänge, die vielen neu gegründeten, im Einzelnen recht unterschiedlichen Parteien mit einem umweltpolitischen Schwerpunkt in ihrer Fraktion zu versammeln.

Die Übersicht

Die folgende Tabelle schlüsselt die Sitzverteilung der Projektion nach nationalen Einzelparteien auf. Die Tabelle folgt dem Basisszenario, in dem nationale Parteien in der Regel jeweils ihrer aktuellen Fraktion (bzw. der Fraktion ihrer europäischen Dachpartei) zugeordnet sind und Parteien ohne klare Zuordnung als „sonstige Parteien“ ausgewiesen werden. Die Veränderungen im dynamischen Szenario gegenüber dem Basisszenario sind in der Tabelle durch farbige Schrift und durch einen Hinweis im Mouseover-Text gekennzeichnet.

Da es keine gesamteuropäischen Wahlumfragen gibt, basiert die Projektion auf aggregierten nationalen Umfragen und Wahlergebnissen aus allen Mitgliedstaaten. Wie die Datengrundlage für die Länder im Einzelnen aussieht, ist im Kleingedruckten unter den Tabellen erläutert. Mehr Informationen zu den europäischen Parteien und zu den Fraktionen im Europäischen Parlament gibt es hier.


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Jan. 2251391429916573623440
März 2253361399815878624536
dynamisch5544142105160109
6228

Linke G/EFA S&D RE EVP EKR ID fʼlos Sonst.
DE 6 Linke 15 Grüne
1 Piraten
1 ÖDP
1 Volt
22 SPD 9 FDP
2 FW
25 Union
1 Familie

10 AfD 2 Partei 1 Tier
FR 11 LFI 4 EELV
24 LREM 11 LR
16 RN 13 Rec
IT

19 PD 4 Az-+E 7 FI
1 SVP
18 FdI 15 Lega 12 M5S
ES 7 UP
1 Bildu
1 ERC 18 PSOE 2 Cʼs
1 PNV
14 PP 13 Vox
1 JxC 1 MP
PL

4 Lewica 6 PL2050
15 KO
2 KP
20 PiS

5 Konf
RO

14 PSD 4 USR 5 PNL
2 UDMR
8 AUR


NL 2 SP
2 PvdD
2 GL
1 Volt
2 PvdA 6 VVD
4 D66
1 CDA
1 CU
2 JA21
1 SGP
3 PVV
2 BBB
EL 6 Syriza
4 KINAL
8 ND 1 EL
1 KKE 1 MeRA25
BE 3 PTB 1 Groen
1 Ecolo
2 Vooruit
3 PS
1 O-VLD
2 MR
1 CD&V
1 CSP
3 N-VA 3 VB

PT 1 BE
1 CDU

10 PS 1 IL 7 PSD
1 CH

CZ
1 Piráti
8 ANO 3 STAN
1 TOP09
1 KDU-ČSL
4 ODS 3 SPD
HU

4 DK
1 MSZP
1 MM 1 KDNP

12 Fidesz
2 Jobbik

SE 2 V
7 S 2 C 5 M
1 KD
4 SD


AT
2 Grüne 5 SPÖ 2 Neos 5 ÖVP
4 FPÖ
1 MFG
BG

2 BSP 2 DPS 4 GERB
1 DSB



5 PP
2 ITN
1 V
DK 1 Enhl. 1 SF 4 S 2 V
1 RV
3 K
1 DF
1 NB
FI 1 Vas 1 Vihreät 3 SDP 2 Kesk 4 Kok
3 PS

SK

3 Smer-SSD 1 PS 1 OĽANO
1 KDH
1 Spolu
2 SaS 1 SR 1 REP 3 Hlas-SD
IE 6 SF

3 FF 4 FG



HR

2 SDP
5 HDZ


2 Most
2 Možemo
1 DP
LT
1 LVŽS 2 LSDP 1 LRLS
1 LP
2 TS-LKD

1 DP 2 DSVL
1 LT
LV

2 SDPS 1 AP!
1 ZZS
1 JV
1 JKP
1 NA

1 Prog
SI 1 Levica
1 SD
3 SDS
1 NSi



2 GS
EE


2 RE
1 KE


2 EKRE
2 E200
CY 2 AKEL
1 EDEK
3 DISY



LU
1 Gréng
1 PPLU
1 LSAP 1 DP 1 CSV 1 ADR


MT

3 PL
3 PN




Verlauf (Basisszenario)


Linke G/EFA S&D RE EVP EKR ID fʼlos Sonst.
01.03.2022 53 36 139 98 158 78 62 45 36
04.01.2022 51 39 142 99 165 73 62 34 40
08.11.2021 50 42 144 96 155 75 72 36 35
13.09.2021 54 42 141 98 160 70 75 33 32
21.07.2021 52 45 133 97 167 71 74 31 35
24.05.2021 50 50 125 95 167 74 73 33 38
29.03.2021 52 46 136 96 164 71 73 34 33
02.02.2021 52 45 135 94 184 70 71 21 33
09.12.2020 52 47 136 93 188 67 73 20 29
12.10.2020 51 49 127 96 193 67 71 21 30
14.08.2020 50 53 145 88 196 65 64 20 24
25.06.2020 48 55 143 91 203 64 63 20 18
26.04.2020 47 53 151 88 202 66 66 19 13
10.03.2020 51 58 138 88 188 67 82 21 12
09.01.2020 49 58 135 93 186 65 82 24 13
23.11.2019 48 57 138 99 181 62 82 22 16
23.09.2019 49 61 139 108 175 56 82 24 11
30.07.2019 47 64 138 108 180 57 82 22 7
Wahl 2019 40 68 148 97 187 62 76 27

Die Zeile „Wahl 2019“ kennzeichnet die Sitzverteilung zum 2. Juli 2019, dem Zeitpunkt der Konstituierung des Europäischen Parlaments nach der Europawahl im Mai 2019.
Angegeben sind jeweils die Werte im Basisszenario ohne das Vereinigte Königreich. Eine Übersicht der Werte mit dem Vereinigten Königreich für die Zeit bis Januar 2020 ist hier zu finden. Eine Übersicht älterer Projektionen aus der Wahlperiode 2014-2019 gibt es hier.

Die vollen Namen der Fraktionen und der nationalen Einzelparteien erscheinen als Mouseover-Text, wenn der Mauszeiger eine kurze Zeit regungslos auf der Bezeichnung in der Tabelle gehalten wird. Sofern eine Partei im dynamischen Szenario einer anderen Fraktion zugeordnet ist als im Basisszenario, ist dies ebenfalls im Mouseover-Text gekennzeichnet.

Fraktionszuordnung

Basisszenario: Für die Projektion werden Parteien, die bereits im Europäischen Parlament vertreten sind, jeweils ihrer derzeitigen Fraktion zugerechnet, es sei denn, sie haben ausdrücklich ihren Entschluss zu einem Fraktionswechsel nach der nächsten Europawahl erklärt. Nationale Parteien, die derzeit nicht im Europäischen Parlament vertreten sind, aber einer europäischen Partei angehören, werden der Fraktion der entsprechenden europäischen Partei zugeordnet. In Fällen, bei denen sich die Mitglieder einer nationalen Liste nach der Wahl voraussichtlich auf mehrere Fraktionen aufteilen werden, wird jeweils die am plausibelsten scheinende Verteilung zugrundegelegt. Parteien, bei denen die Zuordnung zu einer bestimmten Fraktion unklar ist, werden im Basisszenario als „Sonstige“ eingeordnet.

Für die Bildung einer eigenständigen Fraktion sind nach der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments mindestens 23 Abgeordnete aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten erforderlich. Mit einem Asterisk (*) gekennzeichnete Gruppierungen würden diese Bedingungen nach der Projektion derzeit nicht erfüllen. Sie müssten deshalb gegebenenfalls nach der Europawahl zusätzliche Abgeordnete für sich gewinnen, um sich als Fraktion konstituieren zu können.

Dynamisches Szenario: Im dynamischen Szenario werden alle „sonstigen“ Parteien einer schon bestehenden Fraktion (oder der Gruppe der Fraktionslosen) zugeordnet. Außerdem werden gegebenenfalls Fraktionsübertritte von bereits im Parlament vertretenen Parteien berücksichtigt, die politisch plausibel erscheinen, auch wenn sie noch nicht öffentlich angekündigt wurden. Um diese Veränderungen gegenüber dem Basisszenario deutlich zu machen, sind Parteien, die im dynamischen Szenario einer anderen Fraktion zugeordnet werden, in der Tabelle mit der Farbe dieser Fraktion gekennzeichnet; zudem erscheint der Name der möglichen künftigen Fraktion im Mouseover-Text. Die Zuordnungen im dynamischen Szenario basieren auf einer subjektiven Einschätzung der politischen Ausrichtung und Strategie der Parteien und können daher im Einzelnen recht unsicher sein. In der Gesamtschau kann das dynamische Szenario jedoch näher an der wirklichen Sitzverteilung nach der nächsten Europawahl liegen als das Basisszenario.

Datengrundlage

Soweit verfügbar, wird bei der Sitzberechnung für jedes Land jeweils die jüngste Umfrage zu den Wahlabsichten für das Europäische Parlament herangezogen. Wo mehr als eine Umfrage erschienen ist, wird der Durchschnitt aller Umfragen aus den letzten zwei Wochen vor der jüngsten Umfrage berechnet, wobei jedoch von jedem einzelnen Umfrageinstitut nur die jeweils letzte Umfrage berücksichtigt wird. Stichtag für die Berücksichtigung einer Umfrage ist, soweit bekannt, jeweils der letzte Tag der Durchführung, andernfalls der Tag der Veröffentlichung.
Für Länder, in denen es keine spezifischen Europawahlumfragen gibt oder die letzte solche Umfrage mehr als zwei Wochen zurückliegt, wird stattdessen die jüngste verfügbare Umfrage für die Wahl zum nationalen Parlament bzw. der Durchschnitt aller Umfragen für das nationale oder das Europäische Parlament aus den letzten zwei Wochen vor der jüngsten verfügbaren Umfrage verwendet. Für Länder, in denen es keine aktuellen Umfragen für Parlamentswahlen gibt, wird stattdessen gegebenenfalls auf Umfragen zu Präsidentschaftswahlen zurückgegriffen, wobei die Umfragewerte der Präsidentschaftskandidat:innen jeweils den Parteien der Kandidat:innen zugeordnet werden (dies kann insbesondere Frankreich betreffen). Für Mitgliedstaaten, für die sich überhaupt keine Umfragen finden lassen, wird auf die Ergebnisse der letzten nationalen Parlaments- oder Europawahl zurückgegriffen.
In der Regel werden die nationalen Umfragewerte der Parteien direkt auf die Gesamtzahl der Sitze des Landes umgerechnet. Für Länder, in denen die Wahl in regionalen Wahlkreisen ohne Verhältnisausgleich erfolgt (aktuell Belgien und Irland), werden regionale Umfragedaten genutzt, soweit diese verfügbar sind. Wo dies nicht der Fall ist, wird die Sitzzahl für jeden Wahlkreis einzeln berechnet, dabei aber jeweils die nationalen Gesamt-Umfragewerte herangezogen. Nationale Sperrklauseln werden, soweit vorhanden, in der Projektion berücksichtigt.
In Belgien entsprechen die Wahlkreise bei der Europawahl den Sprachgemeinschaft, während Umfragen üblicherweise auf Ebene der Regionen durchgeführt werden. Für die Projektion werden für die französischsprachige Gemeinschaft die Umfragedaten aus Wallonien, für die niederländischsprachige Gemeinschaft die Umfragedaten aus Flandern genutzt. Für die deutschsprachige Gemeinschaft wird das Ergebnis der letzten Europawahl herangezogen (1 Sitz für CSP).
In Ländern, in denen es üblich ist, dass mehrere Parteien als Wahlbündnis auf einer gemeinsamen Liste antreten, werden der Projektion plausibel erscheinende Listengemeinschaften zugrunde gelegt. Dies betrifft folgende Parteien: Spanien: Más País (1.-2. Listenplatz), Compromís (3.) und Equo (4.); ERC (1., 3.-4.), Bildu (2.) und BNG (5.); PNV (1.) und CC (2.); Niederlande: CU (1., 3.-4.) und SGP (2., 5.); Ungarn: Fidesz (1.-6., ab 8.) und KDNP (7.); Bulgarien: DSB (1.-2.) und ZD (3.); Slowakei: PS (1.) und Spolu (2.).
In Ungarn haben sich mit Blick auf die nationale Parlamentswahl 2022 fast alle Oppositionsparteien (DK, MSZP, MM, LMP, Jobbik) zu einem Wahlbündnis zusammengeschlossen, sodass einige nationale Umfragen nur noch einen gemeinsamen Wert für sie ausweisen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass dieses Wahlbündnis auch bei der nächsten Europawahl Bestand hat. Für die Sitzprojektion werden deshalb bevorzugt Umfragen berücksichtigt, die die Umfragewerte der Oppositionsparteien einzeln ausweisen. Sofern die letzte solche Umfrage mehr als zwei Wochen zurückliegt, werden stattdessen aktueller Umfragen herangezogen, die einen gemeinsamen Wert für das Oppositionsbündnis ausweisen. In diesem Fall wird der Wert für das Oppositionsbündnis auf die einzelnen Parteien aufgeteilt, und zwar entsprechend dem Verhältnis der durchschnittlichen Umfragewerte der Parteien in den letzten Umfragen, die diese einzeln ausweisen.
Da es in Deutschland bei der Europawahl keine Sperrklausel gibt, können Parteien bereits mit weniger als 1 Prozent der Stimmen einen Sitz im Europäischen Parlament gewinnen. Mangels zuverlässiger Umfragedaten wird für diese Kleinparteien in der Projektion in der Regel jeweils das Ergebnis der letzten Europawahl herangezogen (je 2 Sitze für PARTEI und FW, je 1 Sitz für Tierschutzpartei, ödp, Piraten, Volt und Familienpartei). Nur falls eine Kleinpartei in aktuellen Umfragen einen besseren Wert erreicht als bei der letzten Europawahl, wird stattdessen dieser Umfragewert herangezogen.
In Italien können Minderheitenparteien durch eine Sonderregelung auch mit nur recht wenigen Stimmen ins Parlament einziehen. In der Projektion wird die Südtiroler Volkspartei deshalb stets mit dem Ergebnis der letzten Europawahl (1 Sitz) geführt.

Die folgende Übersicht führt die Datengrundlage für die Mitgliedstaaten im Einzelnen auf. Die Daten beziehen sich auf den letzten Tag der Durchführung; falls dieser nicht bekannt ist, auf den Tag der Veröffentlichung der Umfragen:
Deutschland: nationale Umfragen, 17.-28.2.2022, Quelle: Wikipedia.
Frankreich: Umfragen für die nationale Präsidentschaftswahl, 22.-28.2.2022, Quelle: Wikipedia.
Italien: nationale Umfragen, 15.-26.2.2022, Quelle: Wikipedia.
Spanien: nationale Umfragen, 10.-25.2.2022, Quelle: Wikipedia.
Polen: nationale Umfragen, 10.-21.2.2022, Quelle: Wikipedia.
Rumänien: nationale Umfragen, 19.-21.2.2022, Quelle: Wikipedia.
Niederlande: nationale Umfragen, 18.-27.2.2022, Quelle: Wikipedia.
Griechenland: nationale Umfragen, 18.-28.2.2022, Quelle: Wikipedia.
Belgien, französischsprachige Gemeinschaft: regionale Umfragen (Wallonien) für die nationale Parlamentswahl, 8.12.2021, Quelle: Wikipedia.
Belgien, niederländischsprachige Gemeinschaft: regionale Umfragen (Flandern) für die nationale Parlamentswahl, 8.12.2021, Quelle: Wikipedia.
Belgien, deutschsprachige Gemeinschaft: Ergebnis der Europawahl, 26.5.2019.
Portugal: Ergebnisse der nationalen Parlamentswahl, 30.1.2022, Quelle: Wikipedia.
Tschechien: nationale Umfragen, 26.1.-Februar 2022, Quelle: Wikipedia.
Ungarn: nationale Umfragen, 9.-10.2.2022, Quelle: Wikipedia.
Schweden: nationale Umfragen, 30.1.-8.2.2022, Quelle: Wikipedia.
Österreich: nationale Umfragen, 26.-27.2.2022, Quelle: Wikipedia.
Bulgarien: Ergebnis der nationalen Parlamentswahl, 4.11.2021.
Dänemark: nationale Umfragen, 16.-27.2.2022, Quelle: Wikipedia.
Finnland: nationale Umfragen, 1.-11.2.2022, Quelle: Wikipedia.
Slowakei: nationale Umfragen, 1.-14.2.2022, Quelle: Wikipedia.
Irland: nationale Umfragen, 26.1.-8.2.2022, Quelle: Wikipedia.
Kroatien: nationale Umfragen, 25.2.2022, Quelle: Wikipedia.
Litauen: nationale Umfragen, 29.1.-8.2.2022, Quelle: Wikipedia.
Lettland: nationale Umfragen, Januar-2.2.2022, Quelle: Wikipedia.
Slowenien: nationale Umfragen, 16.-24.2.2022, Quelle: Wikipedia.
Estland: nationale Umfragen, 18.-21.2.2022, Quelle: Wikipedia.
Zypern: Ergebnis der nationalen Parlamentswahl, 30.5.2021.
Luxemburg: nationale Umfragen, 24.11.2021, Quelle: Europe Elects.
Malta: nationale Umfragen, 4.2.2022, Quelle: Wikipedia.

Bilder: Eigene Grafiken.