- Deutsche, die im Ausland leben, können an der Bundestagswahl nur per Briefwahl teilnehmen. Und in diesem Jahr viele nicht einmal das.
Bei der Bundestagswahl am vergangenen Sonntag wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben zum Nichtwähler. Unfreiwillig, ebenso wie mutmaßlich zehntausende andere Deutsche mit Wohnsitz im Ausland. Angesichts der erwartbar knappen Fristen (die Bundeswahlleiterin hatte schon Anfang November davor gewarnt, dass bei einer Wahl im Januar oder Februar zu wenig Vorbereitungszeit bleiben könnte) nutzte ich im Dezember die erste Gelegenheit, um mich ins Wahlregister einzutragen und Briefwahlunterlagen anzufordern.
Anders als die in Deutschland lebenden Wahlberechtigten müssen sich Auslandsdeutsche für jede Wahl einzeln registrieren. Immerhin ging das in diesem Jahr erstmals per E-Mail – was dazu führte, dass sich die Zahl der eingetragenen Auslandswähler:innen im Vergleich zur letzten Bundestagswahl um rund zwei Drittel erhöhte, von knapp 130.000 auf über 210.000. Angesichts von geschätzt insgesamt 3 bis 4 Millionen Deutschen im Ausland ist das allerdings immer noch ein bemerkenswert niedriger Anteil.
Wahlunterlagen kamen bis heute nicht an
Wahlberechtigt war ich in Berlin-Mitte, weil dort mein letzter Wohnsitz vor dem Wegzug aus Deutschland lag. Angesichts der notorischen Überforderung der Berliner Verwaltung bat ich sicherheitshalber um eine Empfangsbestätigung für meine Wahlanmeldung, die ich auch prompt erhielt. Auch die Deutsche Botschaft in Helsinki tat, was sie konnte, und organisierte für den 18. Februar einen Sonderkurier, der Wahlbriefe nach Deutschland mitnehmen würde. Einige meiner Bekannten konnten diesen nutzen, um an der Wahl teilzunehmen. Doch für mich selbst und viele andere waren alle Mühen vergebens: Die Briefwahlunterlagen – die in Berlin-Mitte ab dem 10. Februar verschickt wurden – kamen bis heute nicht bei mir an.
Die Regellaufzeit von Priority-Briefsendungen zwischen Deutschland und Finnland beträgt laut Deutscher Post 5-8 Werktage; längere Laufzeiten sind möglich und erfahrungsgemäß nicht selten. Selbst im besten Fall hätte ich also noch ein wenig Glück benötigt, um rechtzeitig an meinen Stimmzettel zu kommen. Und damit war ich nicht allein: In die USA, wo besonders viele Auslandsdeutsche leben, benötigt ein Brief im Regelfall 6-10 Tage. Aber auch in der EU-Hauptstadt Brüssel gab es (auch wegen eines Streiks der belgischen Post) zahlreiche Betroffene. Und selbst beim deutschen Botschafter in London kamen keine Wahlunterlagen an. Wie viele auslandsdeutsche Wahlberechtigte genau keine Gelegenheit bekamen, an der Wahl teilzunehmen, ist nicht bekannt; aber es scheint naheliegend, dass es sich um eine fünfstellige Zahl handelt.
Mandatsrelevanz dürfte gegeben sein
Das alles ist nicht nur persönlich frustrierend, sondern könnte auch Auswirkungen auf die Gültigkeit der Wahl haben. Für eine wenigstens teilweise Wiederholung der Wahl müssten zwei Voraussetzungen gegeben sein: Zum einen müsste es sich bei den massenhaft nicht angekommenen Briefwahlunterlagen um einen Wahlfehler handeln. Und zum anderen müsste dieser Wahlfehler so gravierend sein, dass er wenigstens potenziell Auswirkungen auf die Mandatsverteilung im Bundestag hat.
In der Öffentlichkeit wurde zuletzt vor allem über Letzteres diskutiert. Das liegt vor allem am Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW/–), das den Einzug in den Bundestag um weniger als 13.500 Stimmen verpasste. Unmittelbar nach der Wahl kündigte Wagenknecht eine „Anfechtung“ der Wahl an und verwies dafür unter anderem auf die Auslandsdeutschen.
Dieser Fokus auf das BSW und die Fünfprozenthürde ist allerdings etwas irreführend: Mandatsrelevant ist ein Wahlfehler schon dann, wenn irgendeine Partei mehr Sitze hätte gewinnen können, falls ein großer Teil der nicht gewerteten Stimmen an sie gegangen wäre. Im vorliegenden Fall hätte die CDU (EVP) nach dem vorläufigen Endergebnis weniger als 13.000 zusätzliche Zweitstimmen benötigt, um einen weiteren Sitz im Bundestag zu gewinnen. Im Vergleich zu den geschätzten Betroffenenzahlen sind das nicht besonders viele. Die Mandatsrelevanz dürfte also gegeben sein – vorausgesetzt natürlich, dass sich die Betroffenen auch wirklich die Mühe machen, ihre verhinderte Wahlteilnahme per Wahleinspruch zu dokumentieren.
Alternative Deutschlandreise – aber ist das lebensnah?
Juristisch ist darüber hinaus aber auch die Frage interessant, ob es sich bei der verhinderten Wahlteilnahme der Auslandsdeutschen überhaupt um einen Wahlfehler handelt. Ein solcher Fehler ist dann gegeben, wenn entweder das Wahlgesetz nicht richtig angewandt wurde oder das Wahlgesetz selbst im Widerspruch zu höherrangigem Recht steht. Einschlägig ist in diesem Fall insbesondere Art. 38 (1) GG, der die Allgemeinheit der Wahl garantiert.
In öffentlichen Stellungnahmen von Jurist:innen vor und nach der Wahl waren einige Begründungen zu hören, warum das nicht der Fall sei. Im Wesentlichen gibt es dabei zwei Argumente: Erstens wird darauf hingewiesen, dass es am Ende in der Eigenverantwortung der Wahlberechtigten liege, dass ihr Stimmzettel rechtzeitig im Wahllokal ankomme. Statt sich auf die Briefwahl zu verlassen, hätten sie ja auch nach Deutschland reisen und den Wahlschein dort in Person abgeben können. (Wenn die Unterlagen – wie in meinem Fall – gar nicht erst angekommen sind, hätte man bis am Tag vor der Wahl um 12 Uhr im Wahlamt vorsprechen können, um dann vor Ort einen Ersatzwahlschein zu erhalten.)
Wirklich plausibel ist diese Deutschlandreise-Option jedoch allenfalls für Menschen in den Nachbarländern Deutschlands. Für Auslandsdeutsche, die mehrere Flugstunden von ihrem Wahlamt entfernt leben, erscheint sie kaum als eine lebensnahe, verhältnismäßige Alternative. Ob sie genügt, um die Allgemeinheit der Wahl zu retten, wird deshalb wohl erst das Bundesverfassungsgericht entscheiden.
Die Überforderung der Verwaltung hat keinen Verfassungsrang
Das zweite Argument ist verfassungsrechtlicher Natur und zielt darauf ab, dass es zwar Probleme gab, diese aber leider unvermeidlich seien. Schließlich sehe Art. 39 (1) GG ausdrücklich vor, dass im Fall einer Auflösung des Bundestags die Neuwahl innerhalb von sechzig Tagen stattfinden müsse. Als lex specialis habe diese Regelung Vorrang gegenüber dem Grundsatz der allgemeinen Wahl. Die schnelle Frist sei der Verfassung wichtiger, als dass auch wirklich alle Deutschen die Gelegenheit zur Stimmabgabe erhalten.
Allerdings setzt dieses Argument implizit voraus, dass eine effektive Organisation von Auslandswahlen innerhalb der Sechzig-Tage-Frist faktisch unmöglich sei – dass Gesetzgeber, Regierung und Verwaltung wirklich ihr Äußerstes getan hätten, um die beiden verfassungsrechtlichen Vorgaben in Einklang zu bringen. Das aber ist ziemlich offensichtlich nicht der Fall. Denn zum einen ist die vielfache Überforderung der deutschen Verwaltung, die zu verspätet in Auftrag gegebenen Druckaufträgen oder zur Wahl billiger und langsamer Postanbieter führt, ja weder naturgegeben noch von der Verfassung vorgeschrieben, sondern in der Regel schlicht eine Folge personeller und finanzieller Unterausstattung. Und zum anderen ließe sich auch im Wahlgesetz einiges ändern, um Auslandsdeutschen das Wählen zu erleichtern und damit dem Verfassungsgrundsatz der allgemeinen Wahl auch innerhalb der Sechzig-Tage-Frist gerecht zu werden.
Ineffizientes und bürokratisches Auslandswahlrecht
Auch im Vergleich mit anderen europäischen Ländern ist das deutsche Wahlrecht für Auslandsbürger:innen ineffizient und bürokratisch gestaltet.
Das fängt schon mit der eingangs erwähnten Pflicht an, sich für jede Bundestagswahl einzeln ins Wählerregister eintragen zu lassen. (Wen es interessiert: Hier ist das Formular dafür.) Hintergrund dafür ist, dass Deutschland kein allgemeines Auslandsbürgerverzeichnis hat. In Frankreich gibt es das Registre des Français établis hors de France, in das sich Auslandsfranzös:innen freiwillig eintragen können und das neben konsularischen Diensten auch die Teilnahme an nationalen Wahlen ermöglicht. In Italien gab es bis vor einigen Jahren das Anagrafe Italiani Residenti all’Estero (AIRE), ein von den Kommunen betriebenes verpflichtendes Melderegister für Auslandsitaliener:innen; inzwischen ist es im einheitlichen nationalen Register ANPR aufgegangen.
Deutschland hingegen betreibt lediglich die ELEFAND-Liste, durch die Auslandsbürger:innen in Krisenfällen Nachrichten des Auswärtigen Amts erhalten können. Darüber hinaus werden Auslandsdeutsche nicht erfasst – was nicht nur dazu führt, dass ihre genaue Zahl unbekannt ist, sondern eben auch dazu, dass sie sich für jede Wahl einzeln anmelden müssen.
Und nicht nur das: Deutsche, die seit mehr als 25 Jahren im Ausland leben, verlieren ihr Bundestagswahlrecht nach § 12 (2) BWahlG sogar vollständig, sofern sie nicht zeigen können, dass sie „persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland erworben haben und von ihnen betroffen sind“. Was das genau bedeutet, erläutert die Bundeswahlleiterin in diesem vierseitigen Merkblatt; das Formular dazu gibt es hier. Einen echten Sinn hat die Regelung nicht. Auslandsbürger:innen, die mit den politischen Verhältnissen in Deutschland nicht vertraut sind, würden sich wohl ohnehin kaum die Mühe machen, an einer Wahl teilzunehmen.
Stimmabgabe in Botschaften und Konsulaten
Diese Hürden bei der Registrierung machen das Wählen umständlich und schrecken bereits viele deutsche Auslandsbürger:innen ab, wie man an den recht niedrigen Registrierungszahlen sieht. Gravierender sind allerdings die Probleme bei der Stimmabgabe. Dass man nicht per Internet wählen kann (wie es in Estland für alle Wähler:innen, in Frankreich für Auslandsbürger:innen möglich ist), mag bei einem so digitalisierungsskeptischen Land wie Deutschland nicht überraschen; auch die meisten anderen europäischen Länder haben sich aus Sicherheitsgründen gegen ein solches Modell entschieden.
Daneben gäbe es aber auch noch die Möglichkeit einer Stimmabgabe in diplomatischen Vertretungen, also Botschaften und Konsulaten. Dieses Modell ist in Europa weit verbreitet, zwei Drittel der EU-Mitgliedstaaten bieten ihren Auslandsbürger:innen eine entsprechende Option an. Wäre ich zum Beispiel finnischer Staatsbürger in Deutschland, so könnte ich an den finnischen Parlamentswahlen in der finnischen Botschaft in Berlin teilnehmen. Deutschland, das nach Frankreich von allen EU-Staaten über das zweitdichteste Netz an Auslandsvertretungen verfügt, erlaubt diese Möglichkeit hingegen nicht. Wer als Auslandsdeutsche:r an der Bundestagswahl teilnehmen will, kann das nur per Briefwahl tun.
Auslandswahlkreise würden die Wahl erleichtern
Ein Grund dafür mag sein, dass Auslandsdeutsche (wie bereits erwähnt) jeweils in dem Wahlkreis stimmberechtigt sind, in dem ihr letzter deutscher Wohnsitz lag. Da bei der Bundestagswahl jeder der 299 Wahlkreise andere Direktkandidat:innen und damit auch andere Wahlzettel hat, müssten die Botschaften also hunderte unterschiedliche Zettel vorrätig halten und für jede Wähler:in den richtigen heraussuchen. Selbst mit einem einheitlichen Auslandswählerregister wäre das ein beträchtlicher Verwaltungsaufwand.
Aber auch das ist kein unumgängliches Hindernis: In mehreren anderen europäischen Ländern – etwa Frankreich, Italien oder Rumänien – gibt es bei nationalen Parlamentswahlen eigene Auslandswahlkreise. Warum sollte nicht auch bei Bundestagswahlen das Ausland wie ein „17. Bundesland“ behandelt werden, mit einer eigenen Landesliste und eigenen Direktkandidat:innen, die von den Auslandsverbänden der Parteien nominiert werden könnten?
Auslandsbürger:innen wären dann nicht mehr in ihrer früheren Heimatgemeinde wahlberechtigt, sondern zum Beispiel in einem Wahlkreis „Europa“ oder „Amerika“. Wie viele Auslandswahlkreise es genau gäbe und wie sie zugeschnitten wären, hinge von den im Auslandswahlverzeichnis eingetragenen Wähler:innen ab. Die Zahl der 3-4 Millionen Auslandsdeutschen ist in etwa mit der Einwohnerzahl von Schleswig-Holstein oder Sachsen vergleichbar. Aber selbst wenn man sich nur an der deutlich niedrigeren Zahl der rund 215.000 Auslandsdeutschen orientiert, die sich dieses Jahr ins Wählerverzeichnis haben eintragen lassen, wäre das noch genug für einen Bundestagswahlkreis. (Bremen, mit 450.000 Wahlberechtigten und 350.000 Wählenden, hat zwei.)
Auslandsdeutschen fehlt es im Bundestag an Repräsentation
Ein solches Modell würde die Auslandswahl, insbesondere das Wählen in Botschaften und Konsulaten, stark vereinfachen, da nur noch ein einheitlicher Stimmzettel benötigt würde. Gleichzeitig gibt es auch gute demokratietheoretische Gründe, die für einen Auslandswahlkreis sprechen. Dass es bei der Bundestagswahl überhaupt Wahlkreise gibt, soll eine ausgewogene geografische Verteilung der Abgeordneten sicherstellen. Das ist wichtig, da man davon ausgeht, dass Menschen, die am selben Ort leben, strukturell auch bestimmte gemeinsame Interessen haben, die im Bundestag durch einen Abgeordneten von diesem Ort repräsentiert sein sollten.
Dies lässt sich aber auch auf Auslandsbürger:innen übertragen: Auch sie teilen durch ihren Wohnort bestimmte strukturelle Interessen, die sie von Inlandsbürger:innen unterscheiden. Insbesondere sind sie besonders stark von den außen- und europapolitischen Entscheidungen des Bundestags und der Bundesregierung betroffen. Zu der früheren Wohnort-Gemeinde, in der die Auslandsdeutschen nach dem jetzigen Wahlsystem wahlberechtigt sind, haben sie hingegen teilweise kaum noch Kontakt. Und natürlich wird sich auch die Wahlkreisabgeordnete von Berlin-Mitte in erster Linie als Repräsentant:in der Bewohner:innen von Berlin-Mitte sehen und sich wenig Gedanken darüber machen, welche besonderen Bedürfnisse ihre Wähler:innen in Helsinki, Beijing oder Aix-en-Provence haben.
Sollten Auslandsbürger:innen überhaupt wählen dürfen?
Noch eine grundsätzliche Frage zum Schluss: Sollten Staatsbürger:innen, die im Ausland leben, überhaupt an nationalen Parlamentswahlen teilnehmen? In einem supranationalen demokratischen Föderalsystem gäbe es dafür aus meiner Sicht keinen guten Grund, und auch in der heutigen Welt sehe ich ein allgemeines Wahlrecht im Wohnsitzland (wo die Menschen Steuern zahlen und im Alltag den lokalen Gesetzen unterworfen sind) als das wichtigere politische Ziel an. Wenn ich selbst an der finnischen Parlamentswahl teilnehmen könnte und eine in Deutschland lebende Finn:in an der Bundestagswahl, fände ich das jedenfalls sinnvoller als umgekehrt.
Von einem allgemeinen Wohnort-Wahlrecht für nationale Parlamentswahlen sind wir allerdings noch recht weit entfernt. Und zudem steht außer Zweifel, dass im Ausland lebende Staatsbürger:innen auch von den Entscheidungen des Parlaments und der Regierung ihres Herkunftslands stark betroffen sein können. Man denke, um ein Extrembeispiel zu nennen, nur an die in der EU lebenden Brit:innen, die sich durch den vom britischen Parlament beschlossenen Brexit 2020 plötzlich ihrer Unionsbürgerschaft beraubt sahen.
Wie die Dinge stehen, ist eine gute Organisation des Auslandswahlrechts deshalb eine zentrale Voraussetzung für die demokratische Teilhabe von Migrant:innen. Mit seinen übermäßig bürokratischen Verfahren, seiner überforderten Verwaltung und der knappen Wahlfrist hat Deutschland seine Auslandsbürger:innen bei dieser Bundestagswahl im Stich gelassen. Ob die Wahl nun – wenigstens teilweise – wiederholt werden muss, wird sich zeigen. Klar ist aber, dass das Wahlsystem reformiert werden sollte, damit so etwas nicht noch einmal geschieht.