- Sylvie Goulard wird nicht Mitglied der neuen Europäischen Kommission werden. Aber was hat das Europäische Parlament damit erreicht?
Als
im Oktober 2014 im Europäischen Parlament die Anhörungen für die
Mitglieder der Kommission Juncker stattfanden, gehörte die
Abgeordnete Sylvie Goulard (damals MoDem/EDP, heute LREM/ALDE-nah) zu den Falken: Angesichts der kleinen und großen Skandale, die mehreren der vorgeschlagenen Kommissare anhafteten, müsse das Parlament eine harte Linie fahren. „Schmutzige Deals“, bei denen
die konservative EVP und die sozialdemokratische S&D-Fraktion sich darauf einigten, wechselseitig auch die Problemkandidaten der jeweils anderen Seite durchzuwinken, seien ein „Geschenk“ für die Europaskeptiker und würden zur „schlechtesten Besetzung“ der Kommission führen.
Fünf Jahre später ist Goulard selbst über einen Skandal gestolpert: Von dem französischen
Präsidenten Emmanuel Macron (LREM) vorgeschlagen und von der designierten Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU/EVP) für das Binnenmarkt-Ressort nominiert, lehnte der zuständige Parlamentsausschuss sie unter Verweis auf zweifelhafte Nebeneinkünfte und einen Parteifinanzierungsskandals von 2017 ab. Goulard ist damit – nach
dem Ungarn László Trócsányi (Fidesz/EVP) und der Rumänin Rovana Plumb (PSD/SPE),
ebenfalls aufgrund von finanziellen Interessenkonflikten
– bereits die dritte Kommissionskandidatin, die das Europäische Parlament in
diesem Jahr durchfallen lässt, und die erste aus einem so
einflussreichen Mitgliedsland wie Frankreich. Was geht hier vor?
Seit
2004 ließ das Parlament stets einen Kandidaten
durchfallen
Rechtlich
ist an dem Vorgehen des Europäischen Parlaments nicht zu rütteln:
Nach Art.
17 Abs. 7 EUV werden die
Mitglieder der neuen Europäischen Kommission von den nationalen
Regierungen vorgeschlagen und vom EU-Ministerrat nominiert. Um
ins Amt zu kommen, benötigt die neue Kommission jedoch auch
ein Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments. Formal können
die Abgeordneten dabei nur das Kollegium als Ganzes annehmen oder ablehnen. De facto
haben sie dadurch jedoch einen Hebel, um gegebenenfalls auch den Austausch einzelner Kandidaten zu
erzwingen.
In
der Praxis nutzte das Parlament diesen Hebel seit 2004 bei jeder
neuen Kommission, um jeweils einen einzelnen Bewerber austauschen zu
lassen. 2004 war dies der
designierte Justizkommissar Rocco Buttiglione (FI/EVP) aus Italien,
der durch sexistische und homophobe Äußerungen aufgefallen war.
2010 fiel die
designierte bulgarische Kommissarin für humanitäre Hilfe, Rumjana
Schelewa (GERB/EVP), wegen dubioser Einkommensverhältnisse
durch. 2014 traf es die
designierte Vizepräsidentin für die Energieunion, die Slowenin
Alenka Bratušek (ZaAB/ALDE), der das Parlament mangelnde
inhaltliche Vorbereitung vorwarf. In allen drei Fällen nominierte
die jeweilige nationale Regierung daraufhin einen neuen Kandidaten,
der schließlich vom Parlament bestätigt wurde.
Persönliche
Finanzskandale
Dass
das Parlament gleich drei vorgeschlagene Kommissionsmitglieder
durchfallen lässt, ist hingegen neu. Achtet man vor allem auf die
offiziellen Begründungen, so scheint die Verantwortung dafür vor
allem bei den nationalen Regierungen liegen, die auffällig viele
offensichtlich angreifbare Kandidaten ins Rennen schickten. Anders
als bei Buttiglione und Bratušek ging es diesmal eben nicht um
inhaltliche Kritik, sondern um persönliche Finanzskandale, die den
Regierungen schon im Vorfeld bekannt waren. Dass sie davon ausgingen,
dass das Parlament sich damit schon abfinden würde, wurde nun zu
Recht sanktioniert.
Allerdings
kritisierte zuletzt nicht nur die Co-Vorsitzende der linken
GUE/NGL-Fraktion Manon Aubry (FI/EL-nah), dass das Parlament bei
der ethischen Bewertung der Kommissionskandidaten inkonsequent und
mit unterschiedlichem Maß handle. Tatsächlich wurden sowohl in
der Vergangenheit als auch in diesem Jahr verschiedene andere
Kandidaten, die ebenfalls aufgrund von zweifelhaften Nebeneinkünften,
irregulären Reisekostenabrechnungen, Korruptionsvorwürfen oder
anderen Skandalen in der Kritik standen, letztlich vom Parlament
akzeptiert.
Auch
das ist freilich nicht unbedingt illegitim: Strafrechtlich dürfen
alle umstrittenen Kandidaten bis zum Nachweis des Gegenteils als
unschuldig gelten. Auch die Anhörungen selbst sind kein
Gerichtsprozess, sondern ein politisches Verfahren, in dem es der
freien Entscheidung der Abgeordneten überlassen ist, welchen
Bewerbern sie Vertrauen schenken und welchen nicht. Es sollte
niemanden überraschen, dass dabei auch partei- und machtpolitische
Erwägungen eine wesentliche Rolle spielen.
Parteipolitisches
Gegenseitigkeitsprinzip
Diese
politischen Erwägungen führten bis 2014 zu einem recht einfachen
Grundschema der Anhörungen: Einerseits hatte das Parlament ein
Interesse daran, mindestens einen Kandidaten durchfallen zu lassen,
um sein Zustimmungsrecht nicht zu einer bloßen Formalie werden zu
lassen. Andererseits wollte jedoch auch jede der großen europäischen
Parteien nach Möglichkeit ihre „eigenen“ Kommissare
durchbringen. Die beiden großen Fraktionen EVP und S&D drohten
2014 deshalb mehr oder weniger offen damit, bei
der Ablehnung eines eigenen Kandidaten zur Vergeltung auch einen
Bewerber der jeweils anderen Partei abzulehnen – und so
scheiterte damals letztlich nur Alenka Bratušek, deren liberale
ALDE-Fraktion für eine Mehrheit im Parlament nicht unbedingt
notwendig war und die zudem nach einem Regierungswechsel in ihrem
Herkunftsland Slowenien auch auf nationaler Ebene keinen Rückhalt
mehr besaß.
Man
kann das wie Goulard seinerzeit als einen „schmutzigen Deal“
bezeichnen. Man kann darin aber auch schlicht eine spezielle Form von
Koalitionsbildung sehen, bei der Parteien ja auch auf nationaler
Ebene üblicherweise einfach die Personalentscheidungen der
Koalitionspartner akzeptieren. Klar ist jedenfalls, dass das
Gegenseitigkeitsprinzip 2014 eine wichtige Rolle für die weitgehend
reibungslose Bestätigung der Kommission durch die informelle Große
Koalition aus EVP und S&D (der sich letztlich auch die ALDE
anschloss) spielte.
Jede große Fraktion verlor einen Kandidaten
2019
hingegen wirkte es in die entgegengesetzte Richtung. Getrieben von
schlechteren Wahlergebnissen versuchen EVP und S&D sich seit
einiger Zeit zunehmend voneinander abzusetzen. Insbesondere seit der
Europawahl im Mai scheint das „Ende der Großen Koalition“, das
der damalige sozialdemokratische Fraktionschef Gianni Pittella
(PD/SPE) bereits
Ende 2016 ankündigte, erste praktische Folgen zu zeigen. Dass
Sozialdemokraten und Liberale den konservativen Spitzenkandidaten
Manfred Weber (CSU/EVP) nicht als Kommissionspräsidenten
akzeptierten, war ein erstes deutliches Zeichen, dass es zwischen der
Parteien der Mitte im Europäischen Parlament nicht mehr so rund
läuft wie früher.
Hinzu
kommt, dass EVP und S&D bei der Europawahl ihre Mehrheit im
Parlament verloren haben – und dass die die Liberalen als neues
Zünglein an der Waage offenbar wenig Bereitschaft zeigten, in den
Anhörungen die Wackelkandidaten der beiden anderen Fraktionen zu
decken, und mit Trócsányi und Plumb je ein Konservativer und eine
Sozialdemokratin schon frühzeitig scheitern ließen. Für EVP und
S&D lag es deshalb nahe, aus Reziprozitätsgründen nun
auch einen der liberalen Kandidaten abzulehnen, und unter diesen
war Goulard nun einmal diejenige, die die meiste Angriffsfläche bot.
Vergeltung
für das gescheiterte Spitzenkandidaten-Verfahren
Goulards
persönliche Skandale sind allerdings nicht der einzige Grund, warum
ausgerechnet sie in den Fokus der Abgeordneten geriet. Vielmehr
spielte auch ihre nationale Herkunft eine Rolle, genauer: ihre große
politische Nähe zum französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Mit
seiner Ablehnung des Spitzenkandidaten-Verfahrens hat dieser sich im
Europäischen Parlament einige Gegner geschaffen; insbesondere in der
EVP-Fraktion sehen viele Abgeordnete Macron als einen
Hauptverantwortlichen dafür, dass Manfred Webers Kandidatur
erfolglos blieb.
Das
Scheitern von Sylvie Goulard lässt sich deshalb auch als Vergeltung
für die Demütigungen im vergangenen Frühsommer verstehen, als der
Europäische Rat sich ohne jede Rücksprache bei den Abgeordneten für
Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin entschied. Es ist
eine Geste der Selbstbehauptung eines Parlaments, das zeigen will,
dass man es, interne Spaltungen hin oder her, nicht so einfach
übergehen kann – und dass die Staats- und Regierungschefs einen
Preis dafür bezahlen, wenn sie es dennoch tun.
Selbstbehauptungsversuche führen schnell zu Blockaden
Aber
wird dieses Zeichen die erwünschte Wirkung zeigen? Die ersten
öffentlichen Reaktionen fallen jedenfalls keineswegs einhellig
zugunsten des Parlaments aus: Von einer „unnötigen
Rache an Emmanuel Macron“ schrieb etwa Ulrich Ladurner auf Zeit
online; die Financial
Times sah in der Entscheidung
den Vorboten
eines schwieriger
vorhersehbaren, dysfunktionaleren Parlaments
und wies darauf hin, dass Goulards Ersatz dem französischen
Staatspräsidenten politisch womöglich noch näher stehen würde.
Auch dass die neue Kommission
nun voraussichtlich
nicht wie ursprünglich vorgesehen zum 1. November ihr Amt antreten
kann, dürfte dem Parlament noch einige Kritik einbringen.
Und
tatsächlich zeigt
sich in der Goulard-Affäre ein strukturelleres Problem des
Europäischen Parlaments: Wie
in vielen Bereichen der Europapolitik geht
auch bei
der Ernennung der Europäischen Kommission inzwischen nichts mehr
ohne die Europaabgeordneten. Doch
der Versuch
der Selbstbehauptung – sei es der Fraktionen gegeneinander oder sei
es des Parlaments gegenüber dem Europäischen Rat – führt
im Konfliktfall schnell zu
politischen Blockaden, aus
denen heraus oft nur schwer ein gesichtswahrender Weg zu finden ist.
Blockade-
in Gestaltungsmacht übertragen
Je
länger dann die
Streitigkeiten andauern, desto größer wird der öffentliche Druck
auf die Abgeordneten, sich bitte endlich wieder „konstruktiv“ zu
zeigen, was in
der Regel bedeutet,
die von den nationalen Regierungen vorgeschlagenen
(Ersatz-)Kandidaten
zu akzeptieren. Dies
aber schwächt nicht nur das
Parlament institutionell, sondern verhindert
auch eine Profilierung der
europäischen Parteien – obwohl
diese doch eigentlich
dringend
nötig wäre, um der Europawahl eine größere demokratische
Bedeutung zu geben.
Um
aus diesem Dilemma herauszukommen, müsste es
dem Parlament gelingen,
seine jetzige Blockademacht
in eine echte, konstruktive Gestaltungsmacht zu
übertragen, das
heißt: eine
eigene politische Linie zu entwickeln, die sich dann auch auf
die personelle Besetzung der
Europäischen Kommission überträgt.
Das Parlament müsste in der
Lage sein, nicht nur einzelne
unliebsame Kandidaten abzulehnen, sondern auch eigene personelle
Gegenvorschläge zu entwickeln und gegenüber
dem Rat und den nationalen
Regierungen durchzusetzen.
Dafür bräuchten
die Abgeordneten nicht
einmal das
formale Recht,
die Kommissionsmitglieder zu nominieren. Analog
zum Spitzenkandidatenverfahren
bei der Wahl des
Kommissionspräsidenten könnte
das Vetorecht bei der
Ernennung des Kommissarskollegiums
bereits
als Hebel genügen.
Dem
Parlament fehlt eine klare Strategie
Voraussetzung
dafür wäre freilich, dass das Europäische Parlament bereit ist,
eine institutionelle Machtprobe mit den nationalen Regierungen zu
suchen, und dass es den
gesellschaftlichen Rückhalt hat, diese Machtprobe auch zu gewinnen.
2014 gab es immerhin bereits
einen ersten zaghaften Versuch in diese Richtung:
Als das Parlament damals in den Anhörungen Alenka Bratušek
ablehnte, wagten
EVP und S&D einen eigenen personalpolitischen Vorstoß und
schlugen als Ersatz die Europaabgeordnete Tanja Fajon (SD/SPE) vor.
Als
sich die slowenische Regierung unter Miro Cerar (SMC/ALDE) darauf
nicht einließ, machte das Parlament jedoch schnell einen Rückzieher und
akzeptierte stattdessen die von Cerar nominierte Ersatzkandidatin
Violeta Bulc (SMC/ALDE). Dennoch: Der Fall Fajon konnte 2014 Hoffnung machen,
dass die Abgeordneten die Parlamentarisierung der
Kommissionswahl in Zukunft weiter vorantreiben würden, wenn sie für die notwendige
Auseinandersetzung mit den nationalen Regierungen besser vorbereitet
wären.
Doch
die Entwicklungen seit der Europawahl 2019 weisen eher in eine andere Richtung: Als die Abgeordneten im Juli das Spitzenkandidaten-Verfahren hätte verteidigen müssen, schreckten sie vor der Machtprobe mit dem Europäischen Rat zurück. Und auch jetzt, wo sie so viele Kommissionskandidaten wie noch nie zuvor durchfallen lassen, verzichten sie völlig darauf, eigene Gegenvorschläge zu lancieren. Das Parlament, intern gespalten, erweckt derzeit deshalb den Eindruck, frustriert um sich zu schlagen, ohne zu wissen, was es eigentlich erreichen will. Eine klare Strategie, um aus dieser Auseinandersetzung neue parlamentarische Gestaltungsmacht zu erzeugen, ist nicht
zu erkennen.
Bild: European Union 2019 – Source: EP [CC BY 4.0], via Flickr.