- Kleinere Staaten werden sich weiter an allen EU-Politiken beteiligen dürfen, doch womöglich sitzen sie nicht mehr mit am Tisch, wenn diese gestaltet werden.
Differenzierte Integration – das Konzept, dass die Mitgliedstaaten der EU nicht immer im Gleichtakt voranschreiten müssen und dass einige stärker integriert sein können als andere – wird in den kommenden Jahren wahrscheinlich an Bedeutung gewinnen. Differenzierung ist kein neues Phänomen: Es gibt sie schon seit mehreren Jahrzehnten, wobei die Eurozone und der Schengen-Raum nur die bekanntesten Beispiele sind. Bisher haben die wichtigsten politischen Akteur:innen sie jedoch immer als ein letztes Mittel behandelt und in der Regel versucht, stattdessen im Rahmen der gesamten EU-27 zu handeln, auch wenn dies langwierigere Verhandlungen bedeutete.
Umgehen interner Widerstände
In den letzten Jahren hat sich jedoch immer wieder gezeigt, dass die existierenden Verfahren der EU ihrer gewachsenen geopolitischen Rolle nicht gerecht werden. In einer Zeit von sich schnell entwickelnden Notlagen – von der Asylkrise über die Pandemie bis zum Krieg in der Ukraine – reagiert die Union oft nur langsam auf veränderte Umstände. Insbesondere Einstimmigkeitserfordernisse im Rat haben wiederholt zu Blockaden und sogar zu politischen Erpressungsversuchen einzelner Mitgliedstaaten geführt. Die in Aussicht genommene Erweiterung der EU wird diese Herausforderungen noch weiter verschärfen. Das Europäische Parlament hat zwar weitreichende Vertragsänderungen vorgeschlagen, um die Handlungsfähigkeit der EU zu verbessern, doch diese Vorschläge sind selbst im Europäischen Rat stecken geblieben, weil sich die Mitgliedstaaten nicht einigen konnten.
Angesichts der immer weiter sinkenden Wahrscheinlichkeit einer baldigen Vertragsreform ist die Europäische Kommission in einer kürzlich veröffentlichten Mitteilung dazu übergegangen, die interne Differenzierung als einen „Teil der Gleichung“ zu bezeichnen, durch die die EU-Erweiterung ermöglicht werden soll. Dieser Ansatz dürfte nicht nur bei Frankreich Anklang finden, das einer differenzierteren Integration schon seit langem aufgeschlossen gegenübersteht, sondern auch bei der neuen konservativ geführten deutschen Bundesregierung, deren Europapolitik wohl weniger von traditionellen föderalistischen Leitbildern als vom Wunsch der Durchsetzung eigener politischer Ziele getrieben sein wird. Anstatt zu versuchen, Widerstände anderer Mitgliedstaaten zu überwinden, könnten Deutschland und Frankreich ihn künftig einfach umgehen, indem sie flexible Koalitionen der Willigen bilden.
Risiken für die EU-Demokratie – und für kleine Mitgliedstaaten
Eine solche Normalisierung differenzierter Integration – sei es in außen-, wirtschafts-, migrations- oder anderen politischen Fragen – könnte dazu beitragen, die Blockaden in der EU zu lösen. Sie birgt aber auch erhebliche Risiken. Zum einen könnte eine uneinheitliche Anwendung neuer EU-Regeln bestehende Integrationserfolge wie den Binnenmarkt gefährden. Zum anderen würde eine Vervielfältigung nationaler Ausnahmeregelungen das Entstehen einer gemeinsamen europäischen Identität unter den Bürger:innen und damit das Ziel der supranationalen Demokratie behindern. Seit jeher steht deshalb das Europäische Parlament der differenzierten Integration von allen EU-Institutionen am wenigsten begeistert gegenüber.
Darüber hinaus stellt die Normalisierung der innereuropäischen Differenzierung aber auch eine Bedrohung für die Interessen der kleineren Mitgliedstaaten dar. In der EU-27 haben kleine Staaten ein garantiertes Mitspracherecht und spielen eine Rolle bei der Bildung von Mehrheiten im Rat. Dadurch können sie die gemeinsame europäische Position auch in Bereichen beeinflussen, in denen sie kein Vetorecht besitzen. In einem System flexibler Koalitionen fällt es größeren Staaten hingegen viel leichter, kleinere Staaten, die sie für das Erreichen eines bestimmten Ziels für unnötig halten, einfach außen vor zu lassen. Selbst wenn kleinere Staaten das Recht behalten, sich an allen EU-Politiken zu beteiligen, sitzen sie möglicherweise nicht mehr mit am Tisch, wenn diese Politiken gestaltet und beschlossen werden.
Eine Frage des Modells: „À la carte“ oder „konzentrische Kreise“?
Um diese Risiken zu minimieren, ist die Form, die die differenzierte Integration annimmt, von entscheidender Bedeutung. Die verstärkte Nutzung flexibler Koalitionen entspricht einem Modell, das traditionell als Differenzierung „à la carte“ bezeichnet wird und bei dem die beteiligten Länder je nach Politikbereich und Einzelentscheidung variieren. Im Gegensatz dazu würde das Modell der „konzentrischen Kreise“ bedeuen, dass verschiedene feste Gruppen von Mitgliedstaaten entstehen: ein stark supranationalisierter „Kern“, dessen Mitglieder in allen Bereichen tief integriert wären, und ein lockererer „äußerer Kreis“, dessen Mitglieder leichter aus bestimmten Entscheidungen aussteigen könnten, aber auch leichter davon ausgeschlossen würden.
Im Vergleich zum Status quo würde ein Modell konzentrischer Kreise die EU dynamischer machen und helfen, bestehende Blockaden zu lösen. Zugleich wäre die Mitgliedschaft zur inneren oder äußeren Gruppe stabiler als bei einem À-la-carte-Modell. Ein Modell konzentrischer Kreise wäre damit besser geeignet, die Interessen der kleineren Mitgliedstaaten zu wahren, jedenfalls derjenigen innerhalb des Kern.
Ein solches Modell setzt jedoch eine gewisse rechtliche Struktur voraus, mit einem neuen Vertrag, der die Rechte und Pflichten der verschiedenen Kreise definiert und möglicherweise eigene neue Institutionen für die Kern-EU schafft. Dafür wiederum wäre genau jene Art von umfassender institutioneller Debatte notwendig, der die EU-Mitgliedstaaten in den letzten Jahren immer aus dem Weg gegangen sind. Statt eine durchdachte Differenzierung durch konzentrische Kreise zu erreichen, droht die EU deshalb rein aus kurzfristiger Bequemlichkeit einem Modell flexibler Koalitionen entgegenzustolpern.
Die EU wird sich wandeln – jetzt ist die Zeit, den Wandel zu gestalten
Diese Frage ist für Finnland von besonderer Bedeutung. Als ein kleiner Mitgliedstaat an der geografischen Periferie der EU sieht es Finnland seit langem als sein nationales Interesse an, immer mit am Tisch zu sitzen, wenn Entscheidungen getroffen werden, und es hat wiederholt Kritik geübt, wenn das bilaterale deutsch-französische Agendasetting die Sichtweisen kleinerer Mitgliedstaaten überging. Finnland würde von einer dynamischeren EU, die in der Lage ist, Blockaden zu überwinden, ohne Zweifel profitieren, doch eine Normalisierung des Modells flexibler Koalitionen der Willigen liegt kaum in seinem Interesse.
Gleichzeitig gehörte Finnland allerdings auch zu den Mitgliedstaaten, die sich in den letzten Jahren nur sehr zögerlich mit dem Thema EU-Reform auseinandergesetzt haben und nicht bereit waren, politisches Kapital in scheinbar esoterische Debatten zu stecken, während dringendere Probleme auf der Tagesordnung standen. Diese Nachlässigkeit könnte den finnischen Entscheidungsträger:innen in Zukunft noch teuer zu stehen kommen. Angesichts der rasch wachsenden geopolitischen Rolle der EU und der bevorstehenden Erweiterung wird sich die institutionelle Funktionsweise Europas zwangsläufig wandeln – zum Guten oder zum Schlechten. Die beste Zeit, um diesen Wandel aktiv zu gestalten, ist jetzt.
Dieser Artikel ist zuerst als FIIA Comment in englischer und finnischer Sprache auf der Webseite des Finnish Institute of International Affairs erschienen.