06 Mai 2025

Koalitionen der Willigen innerhalb der EU: Chancen und Risiken differenzierter Integration

Von Manuel Müller
A small group of bar stools around a round table
Kleinere Staaten werden sich weiter an allen EU-Politiken beteiligen dürfen, doch womöglich sitzen sie nicht mehr mit am Tisch, wenn diese gestaltet werden.

Differenzierte Integration – das Konzept, dass die Mitgliedstaaten der EU nicht immer im Gleichtakt voranschreiten müssen und dass einige stärker integriert sein können als andere – wird in den kommenden Jahren wahrscheinlich an Bedeutung gewinnen. Differenzierung ist kein neues Phänomen: Es gibt sie schon seit mehreren Jahrzehnten, wobei die Eurozone und der Schengen-Raum nur die bekanntesten Beispiele sind. Bisher haben die wichtigsten politischen Akteur:innen sie jedoch immer als ein letztes Mittel behandelt und in der Regel versucht, stattdessen im Rahmen der gesamten EU-27 zu handeln, auch wenn dies langwierigere Verhandlungen bedeutete.

Umgehen interner Widerstände

In den letzten Jahren hat sich jedoch immer wieder gezeigt, dass die existierenden Verfahren der EU ihrer gewachsenen geopolitischen Rolle nicht gerecht werden. In einer Zeit von sich schnell entwickelnden Notlagen – von der Asylkrise über die Pandemie bis zum Krieg in der Ukraine – reagiert die Union oft nur langsam auf veränderte Umstände. Insbesondere Einstimmigkeitserfordernisse im Rat haben wiederholt zu Blockaden und sogar zu politischen Erpressungsversuchen einzelner Mitgliedstaaten geführt. Die in Aussicht genommene Erweiterung der EU wird diese Herausforderungen noch weiter verschärfen. Das Europäische Parlament hat zwar weitreichende Vertragsänderungen vorgeschlagen, um die Handlungsfähigkeit der EU zu verbessern, doch diese Vorschläge sind selbst im Europäischen Rat stecken geblieben, weil sich die Mitgliedstaaten nicht einigen konnten.

Angesichts der immer weiter sinkenden Wahrscheinlichkeit einer baldigen Vertragsreform ist die Europäische Kommission in einer kürzlich veröffentlichten Mitteilung dazu übergegangen, die interne Differenzierung als einen „Teil der Gleichung“ zu bezeichnen, durch die die EU-Erweiterung ermöglicht werden soll. Dieser Ansatz dürfte nicht nur bei Frankreich Anklang finden, das einer differenzierteren Integration schon seit langem aufgeschlossen gegenübersteht, sondern auch bei der neuen konservativ geführten deutschen Bundesregierung, deren Europapolitik wohl weniger von traditionellen föderalistischen Leitbildern als vom Wunsch der Durchsetzung eigener politischer Ziele getrieben sein wird. Anstatt zu versuchen, Widerstände anderer Mitgliedstaaten zu überwinden, könnten Deutschland und Frankreich ihn künftig einfach umgehen, indem sie flexible Koalitionen der Willigen bilden.

Risiken für die EU-Demokratie – und für kleine Mitgliedstaaten

Eine solche Normalisierung differenzierter Integration – sei es in außen-, wirtschafts-, migrations- oder anderen politischen Fragen – könnte dazu beitragen, die Blockaden in der EU zu lösen. Sie birgt aber auch erhebliche Risiken. Zum einen könnte eine uneinheitliche Anwendung neuer EU-Regeln bestehende Integrationserfolge wie den Binnenmarkt gefährden. Zum anderen würde eine Vervielfältigung nationaler Ausnahmeregelungen das Entstehen einer gemeinsamen europäischen Identität unter den Bürger:innen und damit das Ziel der supranationalen Demokratie behindern. Seit jeher steht deshalb das Europäische Parlament der differenzierten Integration von allen EU-Institutionen am wenigsten begeistert gegenüber.

Darüber hinaus stellt die Normalisierung der innereuropäischen Differenzierung aber auch eine Bedrohung für die Interessen der kleineren Mitgliedstaaten dar. In der EU-27 haben kleine Staaten ein garantiertes Mitspracherecht und spielen eine Rolle bei der Bildung von Mehrheiten im Rat. Dadurch können sie die gemeinsame europäische Position auch in Bereichen beeinflussen, in denen sie kein Vetorecht besitzen. In einem System flexibler Koalitionen fällt es größeren Staaten hingegen viel leichter, kleinere Staaten, die sie für das Erreichen eines bestimmten Ziels für unnötig halten, einfach außen vor zu lassen. Selbst wenn kleinere Staaten das Recht behalten, sich an allen EU-Politiken zu beteiligen, sitzen sie möglicherweise nicht mehr mit am Tisch, wenn diese Politiken gestaltet und beschlossen werden.

Eine Frage des Modells: „À la carte“ oder „konzentrische Kreise“?

Um diese Risiken zu minimieren, ist die Form, die die differenzierte Integration annimmt, von entscheidender Bedeutung. Die verstärkte Nutzung flexibler Koalitionen entspricht einem Modell, das traditionell als Differenzierung „à la carte“ bezeichnet wird und bei dem die beteiligten Länder je nach Politikbereich und Einzelentscheidung variieren. Im Gegensatz dazu würde das Modell der „konzentrischen Kreise“ bedeuen, dass verschiedene feste Gruppen von Mitgliedstaaten entstehen: ein stark supranationalisierter „Kern“, dessen Mitglieder in allen Bereichen tief integriert wären, und ein lockererer „äußerer Kreis“, dessen Mitglieder leichter aus bestimmten Entscheidungen aussteigen könnten, aber auch leichter davon ausgeschlossen würden.

Im Vergleich zum Status quo würde ein Modell konzentrischer Kreise die EU dynamischer machen und helfen, bestehende Blockaden zu lösen. Zugleich wäre die Mitgliedschaft zur inneren oder äußeren Gruppe stabiler als bei einem À-la-carte-Modell. Ein Modell konzentrischer Kreise wäre damit besser geeignet, die Interessen der kleineren Mitgliedstaaten zu wahren, jedenfalls derjenigen innerhalb des Kern.

Ein solches Modell setzt jedoch eine gewisse rechtliche Struktur voraus, mit einem neuen Vertrag, der die Rechte und Pflichten der verschiedenen Kreise definiert und möglicherweise eigene neue Institutionen für die Kern-EU schafft. Dafür wiederum wäre genau jene Art von umfassender institutioneller Debatte notwendig, der die EU-Mitgliedstaaten in den letzten Jahren immer aus dem Weg gegangen sind. Statt eine durchdachte Differenzierung durch konzentrische Kreise zu erreichen, droht die EU deshalb rein aus kurzfristiger Bequemlichkeit einem Modell flexibler Koalitionen entgegenzustolpern.

Die EU wird sich wandeln – jetzt ist die Zeit, den Wandel zu gestalten

Diese Frage ist für Finnland von besonderer Bedeutung. Als ein kleiner Mitgliedstaat an der geografischen Periferie der EU sieht es Finnland seit langem als sein nationales Interesse an, immer mit am Tisch zu sitzen, wenn Entscheidungen getroffen werden, und es hat wiederholt Kritik geübt, wenn das bilaterale deutsch-französische Agendasetting die Sichtweisen kleinerer Mitgliedstaaten überging. Finnland würde von einer dynamischeren EU, die in der Lage ist, Blockaden zu überwinden, ohne Zweifel profitieren, doch eine Normalisierung des Modells flexibler Koalitionen der Willigen liegt kaum in seinem Interesse.

Gleichzeitig gehörte Finnland allerdings auch zu den Mitgliedstaaten, die sich in den letzten Jahren nur sehr zögerlich mit dem Thema EU-Reform auseinandergesetzt haben und nicht bereit waren, politisches Kapital in scheinbar esoterische Debatten zu stecken, während dringendere Probleme auf der Tagesordnung standen. Diese Nachlässigkeit könnte den finnischen Entscheidungsträger:innen in Zukunft noch teuer zu stehen kommen. Angesichts der rasch wachsenden geopolitischen Rolle der EU und der bevorstehenden Erweiterung wird sich die institutionelle Funktionsweise Europas zwangsläufig wandeln – zum Guten oder zum Schlechten. Die beste Zeit, um diesen Wandel aktiv zu gestalten, ist jetzt.

Dieser Artikel ist zuerst als FIIA Comment in englischer und finnischer Sprache auf der Webseite des Finnish Institute of International Affairs erschienen.


Bild: Stühle und Tisch: Possessed Photography [Unsplash license], via Unsplash.

Coalitions of the willing within the EU: Opportunities and risks of differentiated integration

By Manuel Müller
A small group of bar stools around a round table
Even if smaller states retain the right to participate in all EU policies, they may no longer be at the table when those policies are shaped and decided.

Differentiated integration – the idea that EU member states do not always have to proceed in unison, and that some may be more integrated than others – is likely to gain traction in the coming years. Differentiation is not a new phenomenon. It has existed for several decades, with the eurozone and the Schengen area being the most prominent examples. Nevertheless, key political actors have so far treated it as a last resort, generally preferring to move forward as the full EU27, even if this has meant more protracted negotiations.

Sidestepping internal resistance

In recent years, however, the EU’s existing procedures have repeatedly proved inadequate for its increased geopolitical role. In an era of fast-moving emergencies – from the asylum crisis to the pandemic to the war in Ukraine – the Union has often been slow to respond to changing circumstances. Unanimity requirements in particular have resulted in gridlocks and even attempts at political blackmail by individual member states. The prospect of EU enlargement further exacerbates these challenges. And while the European Parliament has proposed far-reaching treaty changes to improve the EU’s ability to act, these proposals have themselves stalled in the European Council due to the member states’ inability to reach agreement.

With treaty reform looking ever more unlikely, the European Commission has recently argued in a communication that internal differentiation should be “part of the equation” for enabling EU enlargement. This idea will resonate with France, which has long been open to more differentiated integration, and also with the new conservative-led German government, which is likely to be driven less by traditional federalist principles than by a desire to see its policy goals implemented. Instead of trying to overcome resistance from other member states, Germany and France could simply sidestep it by forming flexible coalitions of the willing.

Risks for European democracy – and for small member states

Such a normalisation of differentiated integration – be it in foreign, economic, migration, or other policies – could help resolve EU gridlocks. But it also entails significant risks. An uneven application of new EU rules could jeopardise existing integration achievements, such as the single market. Moreover, a proliferation of national policy opt-outs would hamper the emergence of a common European identity among citizens, and thus the goal of supranational democracy. For this reason, the European Parliament has always been the least enthusiastic of the EU institutions when it comes to differentiated integration.

Finally, normalising intra-European differentiation also poses a threat to the interests of smaller member states. In the EU27, small states are guaranteed a voice and play a role in the formation of majorities, which allows them to influence the common European position, even in areas where they lack a veto. Conversely, in a system of flexible coalitions, larger states can much more easily bypass smaller ones that they consider unnecessary for achieving a particular goal. Even if smaller states retain the right to participate in all EU policies, they may no longer be at the table when those policies are shaped and decided.

Models matter: “À la carte” or “concentric circles”?

To minimise these risks, the form that differentiated integration takes is crucial. The increased use of flexible coalitions corresponds to a model traditionally referred to as “à la carte” differentiation, in which the in- and out-groups vary according to the policy area. By contrast, the “concentric circles” model implies the creation of several tiers of member states: a highly supranationalised “core”, whose members would be deeply integrated across all policy areas, and a looser “outer circle”, whose members could more easily opt out but would also be more easily left out of certain policies.

Compared to the status quo, a concentric circles model could dynamize the EU and help resolve existing gridlocks. At the same time, in- and out-group membership would be more stable than under an à la carte model. As such, a concentric circles model would better safeguard the interests of smaller member states, at least of those within the core.

However, such a model would need a certain legal structure, with a new treaty defining the rights and obligations associated with the different tiers and possibly creating some specific institutions for the core. This, in turn, would require the sort of comprehensive institutional debate that EU member states have recently been shying away from. There is therefore a strong risk that, rather than achieving differentiation through concentric circles, the EU will just stumble towards a model of flexible coalitions for the sake of short-term convenience.

The EU is bound to change. The time to shape that change is now

This issue is particularly important for Finland. As a small member state on the EU’s geographical periphery, Finland has long seen it in its national interest to be at the table whenever decisions are taken, and has criticised instances where Franco-German bilateral agenda-setting has bypassed the views of smaller countries. While Finland would stand to benefit from a more dynamic EU capable of overcoming gridlocks, a normalisation of the flexible coalitions of the willing model can hardly be in its interest.

However, Finland has also been among the member states dragging their feet on EU institutional reform in recent years, unwilling to expend political capital on seemingly esoteric debates when more immediate issues were pressing. This neglect may come back to haunt Finnish policymakers in the future. With the EU’s geopolitical responsibilities rapidly increasing and enlargement knocking on the door, Europe’s institutional functioning is bound to change – for better or worse. The best time to actively shape that change is now.

This article was first published as a FIIA Comment by the Finnish Institute of International Affairs.


Pictures: Chairs and table: Possessed Photography [Unsplash license], via Unsplash.