29 November 2024

Der Niinistö-Bericht zur „Preparedness“: Finnische Lehren für die EU und ihre Grenzen

Von Tuomas Iso-Markku und Niklas Helwig
Sauli Niinistö

Das finnische Modell ist in Sauli Niinistös Bericht implizit deutlich erkennbar. Aber die EU ist nicht Finnland.

Im März 2024 beauftragte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den ehemaligen finnischen Staatspräsidenten Sauli Niinistö mit der Ausarbeitung einer umfassenden Einschätzung, wie die EU angesichts vielfältiger Krisen ihre zivile und militärische Einsatzbereitschaft verbessern könnte. Der daraus resultierende 165-seitige Bericht Safer together – Strengthening Europe’s civilian and military preparedness and readiness wurde am 30. Oktober 2024 veröffentlicht. Er ist Teil einer Reihe von Beiträgen zur Vorbereitung des neuen institutionellen Zyklus der EU und der politischen Leitlinien der Kommission und folgt auf Berichte zweier ehemaliger italienischer Premierminister: Enrico Lettas Analyse zur Vertiefung des EU-Binnenmarktes und Mario Draghis Studie zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Union.

Dass „Preparedness“ als ein so hochrangiges Thema behandelt wird, spiegelt die Erfahrungen der letzten Jahre wider. Nach der Covid-19-Pandemie und der russischen Invasion in der Ukraine stehen Krisenreaktion, Widerstandsfähigkeit und Sicherheit auf der Tagesordnung der EU ganz oben. Die Kommission hat strategische Vorräte angelegt, neue Rechtsvorschriften zur Widerstandsfähigkeit kritischer Einrichtungen und zur Cybersicherheit vorgelegt und versucht, die europäischen Verteidigungskapazitäten zu stärken. „Preparedness“ hat das Potenzial, zu einem neuen übergreifenden Konzept zu werden, das die Bemühungen der EU in verschiedenen Politikbereichen miteinander verbindet.

Das finnische Modell

Dass Niinistö für die Ausarbeitung des Berichts ausgewählt wurde, ist eine Anerkennung sowohl seines persönlichen Ansehens als auch des Rufs Finnlands als „Prepper-Nation“. Vor dem Hintergrund der jüngsten Krisen hat Finnlands seit langem bestehendes Modell umfassender Sicherheit und nationaler Vorsorge eine nie dagewesene internationale Aufmerksamkeit erhalten. Das Land hat die Gelegenheit ergriffen und sich für eine „EU-Strategie für eine Preparedness-Union“ eingesetzt.

Im Niinistö-Bericht ist das finnische Modell deutlich – wenn auch meist nur implizit – erkennbar. So argumentiert er, dass die EU dem finnischen Beispiel folgen und in Sachen Abwehrbereitschaft einen All-hazards-and-all-threats-Ansatz verfolgen sollte, der alle Arten von Bedrohungen, seien es natürliche oder vom Menschen verursachte, zivile oder militärische, umfasst. Dem Bericht zufolge würde dies umfassendere Kapazitäten für die Vorausschau und den Austausch von Informationen auf EU-Ebene sowie geeignete Entscheidungsmechanismen für Krisensituationen erfordern.

Ebenfalls in Anlehnung an die finnische Tradition unterstreicht der Bericht, dass Preparedness nicht allein in der Verantwortung der Regierungsbehörden liegt. Vielmehr sollte sie in enger Zusammenarbeit mit dem Privatsektor erfolgen, der bei der Aufrechterhaltung lebenswichtiger Funktionen der Gesellschaft oft eine entscheidende Rolle spielt. Außerdem sollten auch die einfachen Bürger:innen eng in die Vorsorge einbezogen werden.

Die EU ist nicht Finnland

Doch die EU ist nicht Finnland. Die meisten finnischen Gesprächspartner:innen würden bereitwillig zugeben, dass das finnische Preparedness-Modell aus Besonderheiten Finnlands erwachsen ist: seinen Kriegserfahrungen, seinem rauen Klima und seiner geografischen Isolation sowie seiner kleinen, relativ egalitären Gesellschaft mit einem hohen Maß an Vertrauen in die öffentlichen Institutionen. Der EU hingegen fehlt es an einer gemeinsamen strategischen Kultur, und ihre Kompetenzen variieren je nach Politikbereich.

Dementsprechend hätte der Niinistö-Bericht ein stärkeres Argument für eine Neuausrichtung der EU-Bemühungen auf das Konzept der Preparedness machen können, wenn er näher untersucht hätte, welche Aspekte des finnischen Modells in dem komplexen politischen System der EU am effektivsten umsetzbar wären und die besonderen Stärken der Union am besten nutzen könnten. So ist beispielsweise die Beteiligung der Bürger:innen an Vorsorgemaßnahmen zwar wichtig – aber die EU, die oft als distanziert gilt und der es an wirksamen Kommunikationsinstrumenten mangelt, ist kaum der am besten geeignete Rahmen, um sie einzubeziehen.

Nur kleinere Anpassungen der derzeitigen Politik

Insgesamt ist der Niinistö-Bericht sowohl umfassend als auch gründlich. Die darin vorgeschlagenen Maßnahmen würden jedoch in erster Linie nur geringfügige Änderungen an der derzeitigen Arbeitsweise der EU bewirken. In neun Themenblöcken enthält der Bericht eine erschöpfende Liste von Empfehlungen – wie die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen der EU und der NATO, die Stärkung des Koordinierungszentrums für Notfallmaßnahmen der Kommission und die Rationalisierung des europäischen Verteidigungsmarktes –, an denen die EU-Institutionen in vielen Fällen bereits heute arbeiten.

Niinistös bedächtiger Ansatz ist höchstwahrscheinlich beabsichtigt: Das Thema Preparedness berührt viele Fragen, die den Kern der nationalen Souveränität betreffen, sodass weitreichende Initiativen von den Mitgliedstaaten schnell abgeschmettert werden könnten. In Berichten wie diesem geht es jedoch gerade darum, ehrgeizige Visionen zu präsentieren, die der EU eine strategische Orientierung bieten können, auch wenn nicht alle damit verbundenen Ideen sofort umsetzbar sind. Die vorsichtige Herangehensweise passt auch nicht ganz zu der Situationsanalyse, die dem Bericht zugrunde liegt. Sie zeichnet ein düsteres – aber sehr glaubwürdiges – Bild von Bedrohungsszenarien, mit denen die EU konfrontiert ist, von der militärischen Aggression Russlands bis hin zu vielschichtigen Notlagen, die durch den Klimawandel verursacht werden.

Preparedness erfordert politischen Willen

Ungeachtet dieser Beschränkungen des Berichts täten die EU und ihre Mitgliedstaaten gut daran, seine allgemeine Argumentationslinie ernst zu nehmen. Es gibt mehrere Bereiche, in denen die EU durch ihr wirtschaftliches und diplomatisches Gewicht, ihre finanziellen Ressourcen sowie ihre Verwaltungs- und Regulierungskapazitäten einen Mehrwert für die Preparedness-Anstrengungen der Mitgliedstaaten bieten kann. In diesem Sinne argumentiert der Niinistö-Bericht, dass mindestens 20 % des EU-Gesamthaushalts für Sicherheit und Abwehrbereitschaft ausgegeben werden sollten, auch wenn er sich nicht dazu äußert, wie die Kosten für dringende Sicherheitsbedürfnisse finanziert werden sollten.

Letztlich wird der Aufbau von Preparedness auf europäischer Ebene mehr erfordern als die nüchternen Argumente, die der Niinistö-Bericht liefert. Nötig ist der politische Wille der Mitgliedstaaten, der Sicherheit Vorrang vor anderen Zielen einzuräumen und dabei Souveränitäts- und haushaltspolitische Bedenken zu überwinden. Der Kommission kommt nun eine Schlüsselrolle bei der Suche nach ehrgeizigen Lösungen zu, die das derzeitige politische Momentum – das durch Krisen ausgelöst wurde und durch den Wahlsieg von Donald Trump in den USA noch verstärkt werden könnte – in greifbare Ergebnisse für die Sicherheit und die Verteidigungsfähigkeit der EU übertragen.

Portrait Tuomas Iso-Markku
Portrait Niklas Helwig

Dieser Beitrag ist zuerst auf Englisch als FIIA Comment auf der Webseite des Finnish Institute of International Affairs erschienen.


Übersetzung: Manuel Müller.
Bilder: Sauli Niinistö: © Fanni Uusitalo, valtioneuvoston kanslia [CC BY 2.0], via Flickr [cropped]; Porträts Tuomas Iso-Markku, Niklas Helwig: FIIA [all rights reserved].

The Niinistö report on preparedness: Finland’s lessons for the EU and their limitations

By Tuomas Iso-Markku and Niklas Helwig
Sauli Niinistö

The Finnish model is implicitly visible in Sauli Niinistö’s report on preparedness. But the EU is not Finland.

In March 2024, European Commission President Ursula von der Leyen tasked former Finnish President Sauli Niinistö with developing a comprehensive assessment of how the EU could enhance its civilian and military preparedness in the face of different crises. Released on 30 October 2024, the resulting 165-page report, Safer together – Strengthening Europe’s civilian and military preparedness and readiness, forms part of a series of inputs aimed at preparing the EU’s new institutional cycle and the Commission’s own political guidelines. It follows reports by two former Italian prime ministers: Enrico Letta’s analysis of deepening the EU’s single market and Mario Draghi’s study on strengthening the Union’s competitiveness.

Including preparedness as one of the three topics addressed in the high-level reports reflects the experiences of recent years. Following the Covid-19 pandemic and Russia’s full-scale invasion of Ukraine, crisis response, resilience and security have featured prominently on the EU’s agenda. The Commission has set up strategic stockpiles, put forward new legislation on the resilience of critical entities and on cyber security, and has sought to bolster European defence capabilities. Preparedness now has the potential to become a new umbrella concept linking the EU’s efforts across different policy fields.

The Finnish model

The selection of Niinistö to oversee the report is an acknowledgement of both his personal standing and Finland’s reputation as a “prepper nation”. Against the backdrop of recent emergencies, Finland’s long-standing model of comprehensive security and national preparedness has received unprecedented international attention. The country has embraced the opportunity and advocated an “EU Strategy for a Preparedness Union”.

The Finnish model is implicitly visible in the Niinistö report. It argues that the EU should follow Finland’s example in adopting an “all-hazards and all-threats” approach to preparedness, getting ready for all kinds of threats, be they natural or human-caused, civilian or military. According to the report, this would require more extensive foresight capacities and intelligence sharing at the EU level, as well as adequate decision-making mechanisms for crisis situations.

Echoing the Finnish tradition, the report also underlines that preparedness is not the responsibility of government authorities alone. Instead, it should be pursued in close cooperation with the private sector, which often plays a crucial role in upholding vital functions of society. Moreover, preparedness should closely involve ordinary citizens.

The EU is not Finland

However, the EU is not Finland. Most Finnish interlocutors would readily admit that the Finnish preparedness model is the result of Finland’s idiosyncrasies: its experiences of war, its harsh climate and geographical isolation, as well as its small, relatively egalitarian society with a high level of trust in public institutions. The EU, by contrast, lacks a shared strategic culture, and its competences vary across different policy fields.

Correspondingly, the case for reorganising the EU’s efforts around the concept of preparedness would have been stronger if the Niinistö report had further explored which aspects of the Finnish model might prove most effective within the EU’s complex political system, and could best leverage the Union’s distinctive strengths. For example, although the participation of citizens in preparedness measures is important, the EU – often considered distant and lacking effective communication tools – is hardly the most suitable framework for engaging them.

Only minor adjustments to current policies

Overall, the Niinistö report is both broad and thorough. However, the measures it proposes would primarily introduce only minor adjustments to the EU’s current way of working. Across nine thematic blocs, the report presents an exhaustive list of recommendations – such as enhancing EU-NATO cooperation, strengthening the Commission’s Emergency Response Coordination Centre, and rationalising the European defence market –, many of which the EU institutions have already been working on.

Niinistö’s caution is most likely intentional: Preparedness touches on many issues at the heart of national sovereignty, which means that far-reaching initiatives could quickly be shot down by member states. However, reports such as this one are precisely about presenting ambitious visions that can provide strategic guidance for the EU, even if all the related ideas are not immediately achievable. The circumspect approach is also somewhat out of sync with the situational analysis that informs the report, which paints a grim – but highly credible – picture of the threat scenarios facing the EU, ranging from Russian military aggression to multifaceted emergencies driven by climate change.

Preparedness requires political will

The report’s limitations notwithstanding, the EU and its member states would do well to take its general line of argumentation seriously. There are several areas where the EU can provide added value to member states’ preparedness efforts through its economic and diplomatic weight, financial resources, as well as administrative and regulatory capacity. In this vein, the Niinistö report argues that at least 20% of the EU’s overall budget should be spent on security and preparedness, although it stops short of specifying how the costs of urgent security needs should be funded.

Ultimately, building preparedness at the European level will demand more than the level-headed arguments that the Niinistö report provides. It requires the political will of the member states to prioritise security over other objectives, and to look beyond sovereignty and fiscal concerns in doing so. The Commission now has a pivotal role in advocating ambitious solutions that can translate the current crisis-induced political momentum – possibly amplified by Donald Trump’s electoral victory in the US – into tangible outcomes for EU security and preparedness.

Portrait Tuomas Iso-Markku
Portrait Niklas Helwig

This article was first published as a FIIA Comment by the Finnish Institute of International Affairs.


Pictures: Niinistö: © Fanni Uusitalo, valtioneuvoston kanslia [CC BY 2.0], via Flickr [cropped]; portraits Tuomas Iso-Markku, Niklas Helwig: FIIA [all rights reserved].

25 November 2024

The Brussels Mole: Rites of passage

By Niklas Helwig
Euromovers moving lorry


Settling into a new city is never a smooth ride – especially when that city is Brussels.

Settling into a new city is never a smooth ride – especially when that city is Brussels, the bureaucratic heart of Europe. Transitions, as anyone will tell you, aren’t designed to be easy. As I discovered first-hand, the process of relocating to Brussels is laden with unexpected rites of passage. The city has lived through a tumult of transfers: the new EU Parliament convened last summer, and a new European Commission braces for its term amidst global challenges. There’s a palpable sense that it, too, is navigating similar trials.

When I first arrived from Finland, I believed my car registration would be a straightforward affair. Armed with paperwork and patience, I stepped into one of Brussels’ nineteen municipal offices, hoping to satisfy the Belgian authorities. Yet, I quickly encountered the infamous bureaucratic maze.

Lacking a Belgian identity number, I was told that car registration was impossible. Could I apply for one there, I asked? Yes, but only after cancelling an initial registration attempt with yet another office. Each step added layers of complication until my car’s status – and my enthusiasm – were left in limbo.

A share of real-world stumbles

As an expat, I recognize that my challenges are cushioned by privilege. Nevertheless, there’s something humbling about starting over in a new city. The quest to find your way in an unfamiliar system strips away pretences, forcing you to adapt and learn the idiosyncrasies of daily life. Real integration means navigating new experiences, like finding the right “yaourt” in the supermarket, muddling through customer service calls in French, and decoding the local banking system.

I’m not alone in facing Brussels’ initiation rituals. The incoming European Commission is undergoing its own rites of passage, marked by both practical and political challenges. I recently heard about a newly designated commissioner who, lost in the labyrinthine Berlaymont headquarters, had to be guided to her Directorate-General by a sympathetic staffer. That moment of getting lost is, in a way, symbolic; the European integration project may come with lofty ideals, but settling into the Brussels “bubble” requires its own share of real-world stumbles.

The more significant rite of passage, of course, lay in the just concluded marathon confirmation hearings in the European Parliament, a spectacle that blends political theatre with career-defining stakes. Political veterans like Kaja Kallas mastered this initiation ritual, knowing how to draw applause from the parliamentarians with her strong stance on Russia’s war on Ukraine, while diplomatically sidestepping more polarizing issues like the Middle East conflict.

The benefits of bureaucracy

Perhaps this year, with global challenges mounting and international relations frayed, these rites of passage for the new Commission feel particularly resonant. The changing political landscape, from potential seismic shifts in US politics to turbulence at home, demands that the new cohort find its footing quickly and steer the Union through choppy waters.

Here also lie the benefits of the often-bemoaned Brussels bureaucracy: While the Commissioners settle into their new portfolios, the machinery has been testing scenarios how the dynamic with a less friendly US administration will pan out. Amidst transformation, continuity is assured.

Oh, and about my car? I eventually registered it … in Germany. Perhaps it’s a gentle reminder of Europe’s enduring quirks. If it’s any omen, let’s hope it’s not that Europe, too, is on a one-way path to being “run” by Germany.

Porträt Niklas Helwig
Niklas Helwig is a Leading Researcher at the Finnish Institute of International Affairs (FIIA), who no longer has to worry about winter tyres.


The Brussels Mole column is published in cooperation with Ulkopolitiikka, the Finnish Journal of Foreign Affairs. The original Finnish text can be found here.



Pictures: Moving lorry: NotrucksNolife [CC BY 2.0], via Flickr; portrait Niklas Helwig: FIIA [all rights reserved].

Brüsseler Maulwurf: Übergangsriten

Von Niklas Helwig
Euromovers moving lorry


Sich in einer neuen Stadt einzugewöhnen, ist niemals einfach – vor allem, wenn diese Stadt Brüssel ist.

Sich in einer neuen Stadt einzugewöhnen, ist niemals einfach – vor allem, wenn diese Stadt Brüssel ist, das bürokratische Herz Europas. Übergänge sind, wie jede:r weiß, unbequem. Wie ich aus erster Hand erfahren habe, ist der Umzug nach Brüssel mit unerwarteten rites de passage verbunden. Die Stadt selbst hat eine Reihe von Veränderungen erlebt: Letzten Sommer ist das neue Europaparlament zusammengetreten, und gerade bereitet sich eine neue Europäische Kommission inmitten globaler Herausforderungen auf ihre Amtszeit vor. Es ist spürbar, dass auch sie ähnliche Prüfungen zu bestehen hat.

Als ich aus Finnland ankam, ging ich davon aus, dass die Anmeldung meines Autos eine unkomplizierte Sache sein würde. Mit vielen Dokumenten und ausreichend Geduld ausgestattet, betrat ich eines der neunzehn Brüsseler Gemeindeämter in der Hoffnung, die belgischen Behörden zufrieden zu stellen. Doch schon bald stieß ich auf den berüchtigten bürokratischen Irrgarten.

Ohne eine belgische Identitätsnummer, so wurde mir beschieden, sei eine Autozulassung unmöglich. Könnte ich dort eine beantragen, fragte ich? Ja, aber erst, nachdem ich einen anderen Anmeldeversuch zurückgenommen hätte, den ich bei einer anderen Behörde eingeleitet hatte. Mit jedem weiteren Schritt wurde es immer komplizierter und der Status meines Autos – und mein eigener Enthusiasmus – immer ungewisser.

Tribut an die Stolpersteine der realen Welt

Natürlich weiß ich, dass für mich als Expat die Herausforderungen durch Privilegien abgefedert sind. Dennoch macht der Anfang in einer neuen Stadt demütig. Der Versuch, sich in einem unbekannten System zurechtzufinden, nimmt einem Illusionen und zwingt dazu, sich anzupassen und die Eigenheiten des täglichen Lebens zu lernen. Echte Integration bedeutet, neue Erfahrungen zu machen, wie das Finden des richtigen „yaourt im Supermarkt, sich durch französischsprachige Kundendienstgespräche zu kämpfen und das lokale Bankensystem zu entschlüsseln.

Dabei bin ich nicht der Einzige, der mit Brüsseler Initiationsritualen konfrontiert ist. Die neue Europäische Kommission durchläuft ihre eigenen rites de passage, die sowohl von praktischen als auch politischen Herausforderungen geprägt sind. Kürzlich hörte ich von einer neu ernannten Kommissarin, die sich im labyrinthischen Berlaymont-Hauptquartier verirrt hatte und von einem hilfsbereiten Mitarbeiter zu ihrer Generaldirektion geführt werden musste. Dieser Moment des Verirrens ist in gewisser Weise symbolisch; das europäische Integrationsprojekt mag mit hochfliegenden Idealen einhergehen, aber die Ankunft in der Brüsseler „Blase“ erfordert ihren Tribut an die Stolpersteine der realen Welt.

Ein noch bedeutenderer Übergangsritus sind natürlich die gerade abgeschlossenen Marathon-Anhörungen im Europäischen Parlament, ein Spektakel, an dem politisches Theater und karriereentscheidende Momente aufeinandertreffen. Politische Veteran:innen wie Kaja Kallas beherrschten dieses Initiationsritual: Geschickt holte sie sich mit ihrer klaren Haltung zu Russlands Krieg gegen die Ukraine den Beifall der Abgeordneten, während sie polarisierenden Themen wie dem Nahostkonflikt diplomatisch auswich.

Die Vorteile der Bürokratie

In diesem Jahr, in dem die globalen Herausforderungen zunehmen und die internationalen Beziehungen angespannt sind, sind diese Übergangsriten für die neue Kommission vielleicht besonders wichtig. In der sich verändernden politischen Landschaft – von der möglichen seismischen Verschiebungen in der US-Politik bis hin zu den Turbulenzen zu Hause – muss die neue Kommissionskohorte schnell Fuß fassen und die Union durch unruhige Gewässer steuern.

Hier liegen auch die Vorteile der oft beklagten Brüsseler Bürokratie: Während sich die Kommissar:innen in ihre neuen Aufgabenbereiche einarbeiten, hat der Apparat längst verschiedene Szenarien durchgespielt, wie sich die Dynamik mit einer weniger freundlichen US-Regierung entwickeln wird. Inmitten des Wandels ist Kontinuität gewährleistet.

Ach, und mein Auto? Das habe ich schließlich doch noch anmelden können … in Deutschland. Vielleicht eine sanfte Erinnerung an die Dinge, die sich in Europa niemals ändern. Wenn es ein Omen ist, dann hoffentlich nicht, dass auch Europa auf dem Weg ist, von Deutschland aus regiert zu werden.

Porträt Niklas Helwig
Niklas Helwig ist Leading Researcher am Finnish Institute of International Affairs (FIIA) und braucht sich keine Sorgen mehr um Winterreifen zu machen.


Die Kolumne „Brüsseler Maulwurf“ erscheint in Zusammenarbeit mit Ulkopolitiikka, der finnischen Zeitschrift für internationale Politik. Der finnische Originaltext ist hier zu finden.



Übersetzung: Manuel Müller.
Bild: Umzugswagen: NotrucksNolife [CC BY 2.0], via Flickr; Porträt Niklas Helwig: FIIA [alle Rechte vorbehalten].

22 November 2024

EU to go: Donald Trump im Weißen Haus – wie vorbereitet ist Europa?

In der Podcastserie „EU to go – Der Podcast für Europapolitik“ präsentiert das Jacques Delors Centre kompakte Hintergründe zur Europapolitik. Einmal im Monat analysieren Moderatorin Thu Nguyen und ihre Gäste in 20 bis 30 Minuten ein aktuelles Thema.

„EU to go – Der Podcast für Europapolitik“ erscheint hier im Rahmen einer Kooperation mit dem Jacques Delors Centre. Er ist auch auf der Homepage des Jacques Delors Centre selbst sowie auf allen bekannten Podcast-Kanälen zu finden.

Seit zwei Wochen steht fest, was viele in Europa befürchtet hatten: Donald Trump wird im Januar als 47. Präsident der USA ein zweites Mal ins Amt eingeführt. Was einst als politische Ausnahme galt, repräsentiert nun eine anhaltende Bewegung – die Ära Trump. Das stellt auch Europa vor große Herausforderungen, besonders was die Unterstützung der Ukraine angeht. Welche Faktoren haben den Wahlausgang beeinflusst? Wie schauen Trump und seine Berater:innen auf EU, NATO und Deutschland? Wie gut ist Europa auf die neue Außenpolitik der USA vorbereitet?

Im Gespräch mit Thu Nguyen erklärt Sophia Besch, Senior Research Fellow bei Carnegie Endowment for International Peace in Washington, was die deutliche Mehrheit für den ehemaligen und zukünftigen Präsidenten über die Gesellschaft in den USA aussagt und was von seinem neuen Kabinett zu erwarten ist. Die beiden diskutieren, wie Trump sich zur EU positionieren dürfte, warum ihm Deutschland missfällt, aber er Italien liebt, und was das für die europäischen Kanäle in die neue Trump-Administration bedeutet.

15 November 2024

The European Policy Quartet: Coalition crisis in the European Parliament over the members of the new Commission

With:
  • Carmen Descamps, German Association of Energy and Water Industries, Brussels
  • Manuel Müller, Finnish Institute of International Affairs, Helsinki
  • Julian Plottka, University of Passau / Institut für Europäische Politik, Berlin
  • Sophia Russack, Centre for European Policy Studies, Brussels
This conversation was conducted as an online chat in German. The transcript below has been edited and translated.
During a vote in the European Parliament, an MEP signals thumbs down with an EU flag in the background
The hearings are over, but there is still no majority in favour of the new Commission in the Parliament.

Manuel
The hearings in the European Parliament are over: MEPs spent a week questioning the designated members of the new European Commission to assess their personal and professional suitability for the post. Most of the future commissioners were given the green light immediately afterwards or the following day at the latest. But the votes on health commissioner-designate Olivér Várhelyi from Hungary and on the six Commission vice-presidents have been postponed for the time being.

In today’s European Policy Quartet, we are therefore unable to discuss the outcome of the hearings, but we can talk about developments so far. We are joined for the first time by Sophia Russack, who researches the politicisation of the European Commission and published a paper on the hearings just last week. Sophia, has anything surprised you about the events of the last days?

Sophia
Well, until this Tuesday, the process didn’t surprise me much: everything was as tame as I expected. The fact that Várhelyi was not immediately confirmed is no surprise. But then, it was interesting to see how hard the EPP came down on Teresa Ribera.

There was a kind of cross-party consensus beforehand that none of the candidates would be attacked too harshly and that they would all get through so that the new legislature could get off to a quick start. As a result, MEPs were very cautious during the first hearings. On the last day, however, the EPP criticised Ribera so harshly that the S&D pulled out of the deal and the whole thing is now in danger of falling apart. The dispute over the nomination of Raffaele Fitto as vice-president also seems to have flared up again.

Disputes over Raffaele Fitto and Teresa Ribera

Carmen
I could not agree more with Sophia: The hearings started in a very factual way, with few surprises and no popcorn discussions. At the beginning, it even looked very good for the two most vulnerable candidates – my guess had been that Várhelyi and Fitto would fail.

But this ended abruptly with the hearing of Vice-President-designate Ribera on Tuesday. Suddenly there is a lot of partisan bickering between the parliamentary groups, fuelled by Spanish national politics against the backdrop of the floods in Valencia. Together with the far-right parties, the EPP has really tried to blame Ribera for alleged mismanagement during the flood disaster. I regret the behaviour of some MEPs and the way the hearing for such an important post was misused for national party politics.

Sophia
The question is whether the flood disaster was a reason or a pretext for the EPP in this case …

Julian
My guess would be: a pretext. From my Berlin perspective, it doesn’t seem that this tragic event has shaken Europe as a whole that much. Or do you see things differently in the European capital?

Carmen
I remember from my time in Madrid that there are very entrenched and bitter conflicts between socialists and conservatives in Spain – what is unusual is that they are also being fought on the European stage. Without going into too much detail: Disaster management in Spain is primarily the responsibility of the regions or autonomous communities, and the EPP (or its Spanish member party, which incidentally is also the party of the Valencian regional president) knows this.

So we already know the answer to your question, Sophia! 😉

Partisan politicisation of the hearings

Manuel
A brief comparison with previous hearings in the European Parliament: Since 2004, MEPs have always weeded out some individual problematic candidates – sometimes because of their extreme political views (as with Rocco Buttiglione in 2004), more often because of suspected conflicts of interest.

2019 was special because, for the first time, partisan differences played a central role. The election campaign had been fierce; the parties blamed each other for the failure of the lead candidate process; and for the first time, the EPP and S&D no longer had a two-party majority … As a result, three candidates failed the hearings, one from each major political group (EPP, S&D, Renew). And for the Liberal candidate Sylvie Goulard in particular, this seemed to have far more to do with party politics than with her personally.

This time, party politics were at the forefront from the outset, but the effect seemed to be the opposite: a kind of Mexican standoff in which none of the major political groups dared to reject candidates from other parties, lest they jeopardise their own. As a result, for the first time since the turn of the millennium, all the candidates might get through the hearings – unless it comes to another massacre.

Sophia
Yes, the extent to which everything was negotiated and pre-cooked by party politics right from the start was unusual. The hearings have always been marked by party politics to some extent, but this time it was really extreme.

Does the performance of the candidates still matter?

Manuel
How problematic do you think it is that the performance of the individual commissioners-designate is becoming less important because of the growing role of party politics?

For me, this shows a shift away from a meritocratic-technocratic understanding of the Commission (the Parliament examines whether the candidates are “suitable”) towards a democratic politicisation (parties try to push through “their” candidates). As a result, negotiations on the new Commission are beginning to resemble national coalition negotiations, where parties usually accept ministers from other coalition partners without individual scrutiny.

Sophia
Absolutely! The new level of partisan politicisation is overshadowing what the hearings were originally about: testing whether candidates are fit for the job!

It seems to me that the hearings are now less a “grilling” and more a mixture of a) an onboarding for the commissioners (they have to study a lot to get through them and familiarise themselves with policy areas that were previously foreign to them in a very short time) and b) an agenda-setting tool in which MEPs try to extract as many policy commitments as possible from the future commissioners.

Julian
Of course, the question of what actually counts as “performance” is also interesting here. It has never really been about purely technical expertise, but rather a combination of ticking off certain boxes regarding personal skills, a clean record, eloquent parrying of technical questions, and the candidate’s support for a democratic consensus.

Even the political commitments have been largely theatrical: First, the EPP group  participates in the drafting of the mission letters of the commissioners-designate, then they have this agenda publicly confirmed in the Parliament. 🙄

Carmen
Beyond the horse-trading between the political groups, I think it was also clear that the hearings were no walk in the park for the candidates. Some had to go through an extra round (e.g. the commissioner-designate for the environment, Jessika Roswall, who seemed very nervous or simply ill-prepared during her hearing). Others were able to show that they had done their homework and swotted up on their weaker subjects (e.g. Ribera on competition policy). So the hearings were not in vain – but there was definitely room for improvement.

Party politicisation as democratisation

Manuel
One advantage of party politicisation is that it links the appointment of the Commission more closely to the European elections. As it becomes clearer which candidates were pushed through by which party, voters will find it easier to hold the parties to account at the next election.

(Of course, this only works if the media actually cover the hearings, which wasn’t really the case this time. But with more party disputes comes more news value in the long run).

Julian
I think we are talking about a real paradigm shift in European politics – that we suddenly have a real party-political competition between left and right. If you look at how Manfred Weber was courting Giorgia Meloni before the election, this has been in the making for a long time. Also the CSU’s crocodile tears over Viktor Orbán in recent years (or rather months) don’t seem very credible to me.

In the abstract, this is a major step forward in the democratisation of the EU. On the other hand, the whole integration process will be jeopardised if the Europhobes are allowed to get in on the act now. I would be interested to hear what Simon Hix has to say about this.

New balance of power in the Parliament

Sophia
Before we ask Simon Hix, here is my own humble opinion: I think that, overall, the party politicisation of the EU is also part of its democratisation process. Indeed, we are seeing a kind of paradigm shift: after decades of an informal grand coalition, where basically almost all decisions were taken jointly by the S&D and the EPP, there is now a growing divide between the left and the right.

The background to this is the new power structure in the European Parliament. For a long time, the balance of power between the EPP and the S&D was relatively even. But since the elections in June, the EPP is the kingmaker: It can organise majorities on both sides – and has done so recently. The centre-left, i.e. the potential alliance of S&D, Liberals, Greens and Left, no longer has a majority and can only watch helplessly if the EPP cooperates with the far right.

This EPP/far-right majority has already made important decisions about the organisation of the hearings – and now also about the candidate Várhelyi. The centre-left parties would have liked to hold a second hearing with him before the committee makes a decision. Instead, he only has to answer an additional set of written questions, which is much easier.

Manuel
Even the fact that Ribera’s hearing took place after Fitto’s was pushed through by the EPP together with the far-right groups – to ensure that if Fitto was rejected by the centre-left groups, they would have the opportunity to retaliate against Ribera as the most prominent S&D candidate.

I find it striking how much the EPP has taken ECR candidate Fitto under its wing here. And the fact that this decision on the order of hearings was taken long before the floods in Valencia also suggests that the criticism of Ribera is now more of a pretext.

EPP vs. Greens

Sophia
And it’s not just Manfred Weber’s flirt with the far right (which is already much more than a flirt). It is also about the extreme rejection, almost hostility, of the EPP towards the Greens. This demonisation – with a rhetoric that sometimes makes cooperation with the Greens seem a bigger problem than dealing with the far right – puts even more pressure on the centrist coalition.

Julian
I agree with you, Sophia. The tragic question is whether this extreme polarisation between the EPP and the Greens really contributes to the democratisation of the EU. In Germany, Toni Hofreiter very soberly rebuked the CSU some time ago, explaining that the hostility of Bavarian Prime Minister Markus Söder towards the Greens resembled the Kremlin’s script for the destruction of liberal democracy.

At least in the CDU, I still see an intra-party dispute as to whether this course is sensible or whether it endangers our democracy. It is frightening that the CSU is not only successful in Germany with its misguided line, but also seems to be setting the tone in the European Parliament. It would certainly be good for the Parliament if the departure from the previous permanent consensus did not immediately lead to a radical split between the camps.

Sophia
I do think the EPP is also divided on this issue. It also realises that the more it moves to the right, the more it moves into anti-EU waters – where the majority of it does not really belong.

EPP in search of its identity

Carmen
These attacks on the Greens have gained momentum especially as a result of the farmers’ protests, haven’t they? As a result, von der Leyen withdrew or watered down some of the Green Deal measures in the spring. In this case, the politicisation of the EU also seems to go hand in hand with increasing patronage politics – instead of a competition of (real) ideas for the political future of Europe.

Sophia
The EPP had a very difficult time with Ursula von der Leyen in the last legislature. It is true that the president of the Commission always struggles to keep her own party happy, because the Commission is a multi-party college and can never follow the course of just one party. But I think the EPP had a particularly hard time with “their” president, as she pursued a very green and progressive agenda.

This must also be taken into account when assessing the EPP’s current behaviour. The strong “left-wing bias” (from a conservative perspective) of the EU agenda over the past five years has been difficult for the EPP to digest – and now the party is taking countermeasures.

Carmen
Like a ship’s crew working against its own helmswoman? A von der Leyen II Commission should also remain exciting from this perspective, as the EPP continues to (re)discover its identity. To stay with a transport metaphor: Hopefully they won’t end up veering off the track to the right.

Will the Parliament cease to be a reform engine?

Julian
Given the major challenges facing the EU in terms of foreign policy and, in particular, enlargement, I would be very worried if the European Parliament ceased to play its role as the last reform engine (albeit one that has been idling for some time) as a result of the new centre-to-far-right coalition. The EPP used to be the driving force behind European integration, but it has long since been replaced in that role by the centre-left parties.

Manuel
Yes, there has been a real change in language: Before the election, the EPP talked a lot about how it would only cooperate with parties that were “pro-Europe, pro-Ukraine and pro-rule of law”. Since then, it has become clear that, firstly, it has no problem cooperating, at least selectively, with all far-right groups in order to create majorities against the S&D and Renew. And secondly, that it is prepared to be extremely lax in its interpretation of the pro-Europe criterion in particular.

Suddenly, even parties such as Fratelli d’Italia or Finland’s Perussuomalaiset are considered “pro-European” – despite the fact that the former called for the abolition of the primacy of European law just two years ago and the latter’s election manifesto still states that Finland’s exit from the EU “should not be treated as a taboo”.

Julian
If the EPP now regularly forms majorities with the Eurosceptics in the Parliament, we could also be facing a paradigm shift in the logic of interaction between supranational and intergovernmental EU institutions. If the Parliament – and then probably also the Commission – adopts the course that the Council and the European Council have been following for a long time, it is not clear to me where the impetus for future reforms will come from.

In that case, the EPP should have the fairness to tell Ukraine that it is not really serious about its geopolitical commitment. For without reforms, the EU cannot become fit for enlargement.

Why no coalition agreement?

Manuel
One thing that puzzled me back in the summer was why the S&D and Renew did not insist on negotiating a written coalition agreement with the EPP before von der Leyen’s re-election in order to explicitly rule out joint voting with far-right parties. Such a stable coalition would of course have been something new in the European Parliament. But given the strength of the far right and the mistrust between the EPP and the centre-left, it could have been a very useful instrument to secure pro-European majorities for this legislature.

If the S&D is now complaining that “[u]nder the irresponsible behaviour of their group leader Manfred Weber, the conservative European People’s Party broke the historic pro-European, democratic agreement between conservative, social democrat, and liberal groups in this house”, then this is also due to its own failure to formalise this “agreement”.

Julian
Now I have to refer to the fate of the German traffic lights: Would such a coalition agreement have been viable at all?

Any coalition in the European Parliament would be a traffic light XXL – and if no majorities can be organised to implement an agreement, then it is not worth the paper it is written on. Perhaps the S&D and the Greens were afraid that they would look bad in public if that happened. Although it would certainly have symbolic value to be able to hold a coalition agreement against the EPP (and von der Leyen) if they take a turn to the far-right now.

Carmen
In retrospect, such a European coalition agreement between the three strongest political groups would probably have been a sensible solution. But would the threat of not confirming von der Leyen as Commission president have been enough leverage for the S&D and Renew to persuade the EPP?

We should not ignore how heterogeneous the European party families and the often even more broadly defined political groups in the European Parliament are. Would the groups have been able to independently take a decision on a) the pros and cons of such a coalition agreement and b) the exact wording? I’m not sure.

The structure of the new Commission

Manuel
Let’s look ahead to the time after the confirmation in the Parliament: There was a lot of talk in the run-up about the strengthened role of “Queen” von der Leyen, about the vice-presidents as the centre of power, about the overlapping portfolios of the individual commissioners … What do you expect from the structures and policies of the new Commission?

Julian
There is one aspect I find very exciting about the Commission structure: On the one hand, Jean-Claude Juncker (or Martin Selmayr) has created path dependency with the division between vice-presidents and ordinary commissioners – aka ministers and state secretaries. On the other hand, I have the impression that the spirit of (now I’m writing the bad word) subordination of the ordinary commissioners to the vice-presidents hasn’t really survived.

My impression is that the structure is now less about efficiency within the Commission and more about political prioritisation. Moreover, the prominence of the executive vice-presidents made it easier to take all the quotas into account when allocating the EU top jobs, since in addition to the four presidents, the High Representative and the posts of NATO Secretary-General and IMF Director, there were five other prominent posts to be allocated this year. The overlapping portfolios ss such contradict the goal of efficiency and hierarchy. It seems that von der Leyen has been more interested in form than substance here.

Carmen
Since you mentioned Martin Selmayr: I find it remarkable that in the last legislature the Commission wasn’t secretly led by the chief of staff any more. Many people will remember the “Berlaymonster”. But in recent years, the focus has been on von der Leyen herself.

More efficiency through hierarchisation

Sophia
One aspect I think is important: Yes, it is true that Ursula von der Leyen has managed the Commission very centrally, and I expect her to continue to do so. But she did not invent the trend towards presidentialism. Jean-Claude Juncker and José Manuel Barroso also managed their colleges centrally – in their own different ways.

This style of leadership is a direct consequence of EU enlargement. In a college of 27 (and soon more?) members, there can be little collegiality. One person has to set the tone and prioritise what the Commission should and should not do.

Manuel
Expectations of the Commission have also changed: Whereas in the past the EU was mainly a regulatory and legislative institution, in times of “permacrisis” it must also become more executive and able to react more quickly to external events. It is clear that greater centralisation of decision-making helps with this (and also with bridging party-political differences between commissioners).

Julian
Especially in foreign policy, I am curious to see whether Kaja Kallas as High Representative will subordinate herself to von der Leyen’s central leadership and be content with the second row, as Josep Borrell has done in public (except for the period after 7 October 2023).

Either von der Leyen gets more in line with Juncker’s style towards the High Representative in this area, or I see a conflict brewing between the two. Kallas’ affinity with the media has even been mentioned as one of the arguments in favour of her nomination. I have the impression that even the Commission and the European External Action Service themselves expect the new High Representative to have a stronger external profile.

Will party politics become more important in the Commission too?

Carmen
I hope that after the period of political trench warfare and deal-making, the focus will now return to policy-making soon. With the change of political leadership in the US and the uncertain political future of Germany with snap elections in early 2025, there is no shortage of external factors calling for this, more or less vociferously. And I agree with Sophia: A centrally organised Commission is nothing new and, to be honest, not such a bad idea given the current political situation.

Sophia
One feature that unites the Commission and the European Parliament in the current legislature is the strong presence of the EPP. Traditionally, the college of commissioners has always consisted of a multi-party coalition, with the EPP and the Socialists roughly balancing each other out. This is now likely to change: There are 14 EPP members among the commissioners-designate, while the S&D and Renew together have only nine commissioners. The remaining four belong to far-right parties or are independents.

What this means for the Commission’s working methods remains to be seen. Perhaps it will become more partisan, with the EPP trying to make its mark. If that happens, it would certainly change the character of the Commission.


Carmen Descamps works as Manager for EU Energy and Digital policies for the German Association of Energy and Water Industries (BDEW) in Brussels.

The contributions reflect solely the personal opinion of the respective authors.

All issues of the European Policy Quartet can be found here.


Images: Thumbs down: © European Union 2024 - European Parliament [CC BY-NC-ND 4.0], via Flickr; portrait Carmen Descamps: Life Studio [all rights reserved]; portrait Manuel Müller: Finnish Institute of International Affairs [all rights reserved]; portraits Julian Plottka, Sophia Russack: private [all rights reserved].

Das europapolitische Quartett: Parteienstreit im Europäischen Parlament über die Mitglieder der neuen Kommission

Mit:
  • Carmen Descamps, Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft, Brüssel
  • Manuel Müller, Finnish Institute of International Affairs, Helsinki
  • Julian Plottka, Universität Passau / Institut für Europäische Politik, Berlin
  • Sophia Russack, Centre for European Policy Studies, Brüssel
Dieses Gespräch entstand als Online-Chat und wurde redaktionell bearbeitet.
During a vote in the European Parliament, an MEP signals thumbs down with an EU flag in the background
Die Anhörungen sind vorüber, aber noch gibt es im Parlament keine Mehrheit für die neue Kommission.

Manuel
Die Anhörungen im Europäischen Parlament sind vorüber: Eine Woche lang haben die Europaabgeordneten die designierten Mitglieder der neuen Europäischen Kommission befragt, um ihre persönliche und fachliche Eignung für das Amt zu überprüfen. Für die meisten der künftigen Kommissar:innen gab es gleich danach oder spätestens am Folgetag grünes Licht. Nachsitzen muss der designierte Gesundheitskommissar Olivér Várhelyi aus Ungarn, und auch die Entscheidungen über die sechs Kommissions-Vizepräsident:innen wurde erst mal vertagt.

Bei unserem europapolitischen Quartett heute können wir deshalb noch nicht über das Ergebnis der Anhörungen sprechen, aber doch über die bisherigen Entwicklungen. Dafür haben wir in dieser Runde zum ersten Mal Sophia Russack dabei, die unter anderem zur Politisierung der Europäischen Kommission forscht und erst letzte Woche ein Paper über die Anhörungen veröffentlicht hat. Sophia, hat dich irgendetwas an den Ereignissen der letzten Tage überrascht?

Sophia
Na ja, bis zu diesem Dienstag hat mich der Prozess nicht groß überrascht: alles war so zahm, wie ich es erwartet hatte. Dass Várhelyi nicht sofort bestätigt wurde, ist keine Überraschung. Interessant war dann aber, wie hart die EVP Teresa Ribera angegangen ist.

Es gab ja im Voraus eine Art parteiübergreifenden Konsens, dass keine der Kandidat:innen zu scharf angegriffen wird und alle durchkommen, damit schnell in die neue Legislatur gestartet werden kann. Entsprechend sind die Abgeordneten bei den ersten Anhörungen mit Beißhemmung aufgetreten. Am letzten Tag hat dann aber die EVP Ribera so heftig kritisiert, dass die S&D aus diesem Deal ausgestiegen ist, und nun alles zu kippen droht. Auch der Streit um die Nominierung von Raffaele Fitto als Vizepräsident scheint neu entbrannt zu sein.

Streit um Raffaele Fitto und Teresa Ribera

Carmen
Ich kann Sophia nur zustimmen: Bisher waren es sehr sachliche Anhörungen, kaum Überraschungen, keine popcornverdächtigen Diskussionen. Auch für die vermuteten „Wackelkandidaten“ sah es ja erst mal sehr gut aus – ich hatte im Vorfeld getippt, dass Várhelyi und Fitto durchfallen würden.

Mit der Anhörung der designierten Vizepräsidentin Ribera am Dienstag ist das aber Geschichte – plötzlich gibt es sehr viel parteipolitischen Streit zwischen den Fraktionen im Parlament, der vor dem Hintergrund der Flut in Valencia aber auch von der spanischen nationalen Politik angetrieben wird. Gemeinsam mit den Rechtsaußenparteien hat die EVP ja förmlich versucht, Ribera die Verantwortung für das angebliche Missmanagement während der Flutkatastrophe in die Schuhe zu schieben. Ich finde es bedauerlich, welches Verhalten einige Abgeordnete dabei an den Tag gelegt haben und wie die Anhörung für einen solch wichtigen Posten für nationale Parteipolitik missbraucht wurde.

Sophia
Es stellt sich die Frage, ob die Flutkatastrophe für die EVP in diesem Fall Grund oder Vorwand war …

Julian
Meine Vermutung wäre: Vorwand. Ich sitze zwar in Berlin, aber mein Eindruck ist nicht, dass dieses tragische Ereignis Europa insgesamt so sehr erschüttert hat. Oder seht ihr das in der europäischen Hauptstadt anders?

Carmen
Dass es in Spanien sehr verhärtete Grabenkämpfe zwischen Sozialist:innen und Konservativen gibt, ist mir aus meiner Zeit in Madrid noch gut in Erinnerung – ungewöhnlich ist allerdings, dass sie auch auf der europäischen Bühne ausgetragen werden. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen: Katastrophenmanagement fällt in Spanien primär unter die Kompetenz der Regionen bzw. Autonomen Gemeinschaften, und das weiß auch die EVP (bzw. ihre spanische Mitgliedspartei, die übrigens den valencianischen Regionalpräsidenten stellt).

Damit kennen wir auch schon die Antwort auf deine Frage, Sophia! 😉

Parteipolitisierung der Anhörungen

Manuel
Kurz zum Vergleich mit früheren Anhörungen im Europäischen Parlament: Seit 2004 sortierten die Abgeordneten jedes Mal einzelne problematische Kandidat:innen aus – manchmal wegen ihrer extremen politischen Ansichten (wie bei Rocco Buttiglione 2004), öfter wegen vermuteter Interessenkonflikte.

2019 war dann besonders, weil parteipolitische Gegensätze damals zum ersten Mal eine zentrale Rolle spielten. Der Wahlkampf war sehr scharf geführt worden; die Parteien machten sich gegenseitig Vorwürfe wegen des Scheiterns des Spitzenkandidatenverfahrens; zudem hatten EVP und S&D erstmals zu zweit keine Mehrheit mehr … In der Folge fielen bei den Anhörungen gleich drei Kandidat:innen durch, eine:r von jeder großen Fraktion (EVP, S&D, Renew). Und vor allem bei der liberalen Kandidatin Sylvie Goulard schien das deutlich mehr mit Parteipolitik als mit ihr persönlich zu tun zu haben.

Diesmal stand die Parteipolitik von Anfang an im Mittelpunkt, aber der Effekt schien genau umgekehrt zu sein: eine Art Mexican Standoff, bei der keine der großen Fraktionen Kandidat:innen der anderen Parteien abzulehnen wagte, um nicht die eigenen zu gefährden. In der Folge könnten erstmals seit der Jahrtausendwende alle Kandidat:innen bei den Anhörungen durchkommen – wenn es nicht doch erneut zum großen Gemetzel kommt.

Sophia
Ja, das Ausmaß, in dem alles von Anfang parteipolitisch ausgehandelt und vorgekocht wurde, war ungewöhnlich. Die Anhörungen waren schon immer auch parteipolitisch geprägt, aber dieses Mal war das schon echt extrem.

Welche Rolle spielt die Performance der Kandidat:innen noch?

Manuel
Wie problematisch findet ihr denn den Aspekt, dass es wegen der stärkeren Bedeutung von Parteipolitik immer weniger um die Performance der einzelnen Kommissar:innen geht?

Für mich zeigt sich darin eine Abkehr von einem meritokratisch-technokratischen Verständnis der Kommission (das Parlament testet, ob die Kandidat:innen „geeignet“ sind) hin zu einer demokratischen Politisierung (Parteien versuchen, „ihre“ Kandidat:innen durchzusetzen). Die Verhandlungen über die neue Kommission werden ähnlicher wie nationale Koalitionsverhandlungen, bei denen Parteien in der Regel ja auch die Minister:innen der anderen Koalitionspartner ohne individuelle Prüfung akzeptieren.

Sophia
Absolut! Das neue Level an Parteipolitisierung überschattet, worum es ursprünglich ging: zu testen, ob die Kandidat:innen fit für den Job sind!

Mir scheint, dass die Anhörungen statt einem grilling heutzutage eher eine Mischung sind aus a) einem Onboarding für die Kommissar:innen (sie müssen ja ganz schön büffeln, um da durchzukommen, und sich in kürzester Zeit auch in ihnen bislang fremde Politikfelder einarbeiten) und b) einem Agendasetting-Instrument, bei dem die Europaabgeordneten zu versuchen, von den künftigen Kommissar:innen möglichst viele Policy-Commitments zu bekommen.

Julian
Spannend ist hier natürlich auch die Frage, was überhaupt als „Performance“ gilt. Wirklich um rein fachliche Kompetenz ging es ja noch nie. Es war immer eher eine Kombination aus dem Abhaken bestimmter persönlicher Fähigkeiten, einer weißen Weste, einem eloquenten Parieren von Fachfragen und der Unterstützung der Kandidat:innen für einen demokratischen Konsens.

Und auch die Policy-Committments sind schon stark gespielt: Erst schreibt die EVP-Fraktion an den mission letters der designierten Kommissar:innen mit, dann lässt sie sich diese Agenda im Parlament öffentlich bestätigen. 🙄

Carmen
Jenseits des Kuhhandels zwischen den Fraktionen konnte man allerdings auch diesmal durchaus sehen, dass die Anhörungen für die Kandidat:innen keine Selbstläufer waren. Einige von ihnen mussten noch eine Extrarunde drehen (z. B. die designierte Umweltkommissarin Jessika Roswall, die objektiv betrachtet bei ihrer Anhörung sehr aufgeregt oder einfach nicht gut vorbereitet zu sein schien). Andere konnten zeigen, dass sie ihre Hausaufgaben gemacht und ihre schwächeren Themen gebüffelt hatten (z. B. Ribera bezüglich der Wettbewerbspolitik). Umsonst waren die Anhörungen also nicht, aber sie wären definitiv noch ausbaufähig gewesen.

Parteipolitisierung als Demokratisierung

Manuel
Ein Vorteil der Parteipolitisierung ist aber auch, dass die Ernennung der Kommission dadurch stärker an die Europawahl gekoppelt wird. Wenn deutlicher wird, welche Kandidat:in von welcher Partei durchgedrückt wurde, können Wähler:innen die Parteien dafür bei der nächsten Wahl leichter zur Verantwortung ziehen.

(Das klappt natürlich nur, wenn auch die Medien über die Anhörungen berichten. Aber mit mehr Parteienstreit kommt langfristig ja auch mehr Nachrichtenwert.)

Julian
Ich denke, wir schreiben hier von einem wirklichen Paradigmenwechsel in der europäischen Politik – dass wir auf einmal einen echten parteipolitischen Wettstreit zwischen Links und Rechts haben. Wenn wir daran denken, wie Manfred Weber Giorgia Meloni bereits vor der Wahl hofiert hat, ist das von langer Hand vorbereitet. Auch die Krokodilstränen der CSU über Viktor Orbán aus den letzten Jahren (oder besser nur Monaten) erscheinen mir da nicht mehr wirklich glaubwürdig.

Abstrakt betrachtet ist das ein großer Fortschritt in der Demokratisierung der EU. Andererseits wird die gesamte Integration gefährdet, wenn die Europafeind:innen jetzt kräftig mitmischen dürfen. Ich würde gerne wissen, wie Simon Hix das kommentiert.

Neue Machtverhältnisse im Parlament

Sophia
Bevor wir bei Simon Hix nachfragen, hier meine eigene humble opinion: Ich denke, dass die Parteipolitisierung der EU insgesamt auch Teil ihres Demokratisierungsprozesses ist. In der Tat, wir sehen eine Art Paradigmenwechsel: Nach Jahrzehnten der informellen Großen Koalition, in denen im Grunde fast alle Entscheidungen von S&D und EVP gemeinsam getroffen wurden, sehen wir nun eine wachsende Kluft zwischen dem linken und dem rechten Lager.

Hintergrund dafür sind die neuen Machtverhältnisse im Europäischen Parlament. Lange Zeit war das Kräfteverhältnis zwischen EVP und S&D relativ ausgeglichen. Seit der Europawahl im Juni ist die EVP dagegen Königsmacherin: Sie kann zu beiden Seiten Mehrheiten organisieren – und tut das neuerdings auch. Mitte-links, also das mögliche Bündnis aus S&D, Liberalen, Grünen und Linken, hat keine Mehrheit mehr und kann nur machtlos zuschauen, wenn die EVP mit Rechtsaußen kooperiert.

Diese EVP-Rechtsaußen-Mehrheit hat schon bei der Organisation der Anhörungen wichtige Entscheidungen gefällt – und nun auch bezüglich des Kandidaten Várhelyi: Die Mitte-links-Parteien hätten gern eine zweite Anhörung mit ihm durchgeführt, bevor der Ausschuss eine Entscheidung trifft. Stattdessen muss er nur einen Satz weiterer schriftlicher Fragen beantworten, was viel einfacher ist.

Manuel
Schon dass die Anhörung von Ribera nach der von Fitto stattfand, wurde ja von der EVP mit den Rechtsaußenfraktionen zusammen durchgesetzt – um sicherzustellen, dass sie bei einer Ablehnung von Fitto durch die Mitte-Links-Fraktionen die Möglichkeit haben würden, ihrerseits Ribera (als die prominenteste S&D-Kandidatin) abzulehnen.

Auffällig finde ich, wie stark die EVP hier den EKR-Kandidaten Fitto unter ihre Fittiche genommen hat. Und dass diese Entscheidung über die Reihenfolge der Anhörungen lange vor der Flut in Valencia stattfand, spricht ebenfalls dafür, dass die Kritik an Ribera jetzt eher ein Vorwand ist.

EVP vs. Grüne

Sophia
Und es geht dabei auch nicht nur um das Flirten von Manfred Weber mit Rechtsaußen (das heute schon viel mehr als nur ein Flirten ist). Wichtig ist auch die extreme Ablehnung, fast schon Feindseligkeit, die die EVP den Grünen gegenüber an den Tag legt. Diese Dämonisierung – mit einer Rhetorik, die eine Zusammenarbeit mit den Grünen manchmal als größeres Problem erscheinen lässt als Deals mit Rechtsaußen – belastet die Mitte-Koalition noch mehr.

Julian
Da stimme ich Dir zu, Sophia. Die tragische Frage ist, ob gerade diese extreme Polarisierung zwischen EVP und Grünen wirklich einen Beitrag zur Demokratisierung der EU leistet. In Deutschland hat Toni Hofreiter vor einiger Zeit der CSU sehr sachlich vorgehalten, dass die Anfeindungen des Bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder gegen die Grünen dem Skript des Kremls zur Zerstörung der liberalen Demokratie ähneln.

Zumindest bei der CDU sehe ich da aber noch einen parteiinternen Streit darüber, inwieweit dieser Kurs sinnvoll ist oder eben unsere Demokratie gefährdent. Dass die CSU mit ihrer irrlichternden Linie nicht nur in Deutschland Erfolg hat, sondern auch im Europäischen Parlament den Ton mitanzugeben scheint, ist beängstigend. Es würde sicherlich dem Parlament gut tun, wenn die Abkehr vom früheren Dauerkonsens nicht gleich in eine radikale Spaltung zwischen den Lagern umschlägt.

Sophia
Ich denke schon, dass die EVP an dem Punkt auch gespalten ist. Sie merkt auch, dass sie, je weiter sie sich nach rechts bewegt, sich mehr und mehr in Anti-EU-Fahrwasser begibt – wo sie mehrheitlich eigentlich nicht hingehört.

EVP auf Identitätsfindung

Carmen
Diese Angriffe auf die Grünen haben doch vor allem auch durch die Bauernproteste an Fahrt gewonnen, oder? In der Folge hat ja auch von der Leyen im Frühling einige Maßnahmen des Green Deals noch zurückgenommen bzw. aufgeweicht. Die Politisierung der EU scheint da auch mit zunehmender Klientelpolitik einherzugehen – statt einem Wettstreit der (eigentlichen) Ideen für die politische Zukunft Europas.

Sophia
Die EVP hat in der letzten Legislatur arg mit Ursula von der Leyen gefremdelt. Zwar hat die Kommissionspräsident:in es immer schwer, die eigene Partei glücklich zu machen, weil die Kommission aus mehreren Parteien zusammengesetzt ist und nie nur der Kurs einer einzelnen fahren kann. Aber ich denke, dass die EVP es mit „ihrer“ Präsidentin besonders schwer hatte, da sie eine sehr grüne und progressive Agenda verfolgt hat.

Das muss man auch berücksichtigen, wenn man das momentane Verhalten der EVP bewertet. Die (aus konservativer Sicht) starke „Linkslastigkeit“ der EU-Agenda in den letzten fünf Jahren war für die EVP schwer zu verdauen – und nun steuert die Partei dagegen.

Carmen
Quasi eine Schiffsbesatzung, die gegen ihre eigene Steuerfrau arbeitet? Eine Kommission von der Leyen II dürfte auch aus dieser Perspektive spannend bleiben, wenn die Identitäts(wieder- bzw. -⁠neu)findung der EVP fortschreitet. Um bei den Verkehrsmetaphern zu bleiben: Hoffentlich kommt es dann nicht am Ende zu einem „rechts blinken und rechtsaußen vorbeiziehen“.

Fällt das Parlament als Integrationsmotor aus?

Julian
Angesichts der großen Herausforderungen, denen die EU in der Außen- und besonders der Erweiterungspolitik gegenübersteht, wird mir wirklich Angst und Bange, wenn durch die neue Rechts-Rechtsaußen-Koalition nun auch noch das Europäische Parlament als letzter (wenn auch seit einiger Zeit im Leerlauf drehender) Reformmotor ausfallen sollte. Die EVP war einmal die Triebkraft der europäischen Integration, aber sie ist in dieser Rolle schon länger von den Mitte-Links-Parteien abgelöst worden.

Manuel
Ja, da gibt es eine echte Begriffsverschiebung: Vor der Wahl sprach die EVP sehr viel davon, dass sie nur mit Parteien kooperieren würde, die „pro-Europa, pro-Ukraine und pro-Rechtsstaat“ sind. Inzwischen wird deutlich, dass sie erstens keine Probleme hat, wenigstens punktuell mit sämtlichen Rechtsaußen-Fraktionen zusammenzuarbeiten, um Mehrheiten gegen S&D und Renew zu ermöglichen. Und dass sie zweitens bereit ist, gerade das Pro-Europa-Kriterium außerordentlich lasch zu interpretieren.

Plötzlich gelten selbst Parteien wie Fratelli d’Italia oder die finnischen Perussuomalaiset als „pro-europäisch“ – obwohl Erstere noch vor zwei Jahren forderten, den Vorrang des Europarechts abzuschaffen, und Letztere bis heute im Wahlprogramm davon sprechen, man solle den finnischen EU-Austritt „nicht als Tabu behandeln“.

Julian
Wenn die EVP sich im Parlament nun regelmäßig Mehrheiten mit den Europagegner:innen organisiert, könnten wir auch einem Paradigmenwechsel in der bisherigen Logik des Zusammenspiels zwischen supranationalen und intergouvernementalen EU-Organen gegenüberstehen. Wenn das Parlament – und damit wahrscheinlich auch die Kommission – auf den Kurs einschwenken, den der Rat und Europäische Rat seit langem fahren, ist mir nicht klar, wo die Impulse für künftige Reformen herkommen sollen.

Dann sollte die EVP der Fairness halber aber auch der Ukraine gleich mitteilen, dass ihr geopolitisches Engagement nicht wirklich ernst gemeint ist. Denn ohne Reformen kann die EU auch nicht fit für eine Erweiterung werden.

Warum kein Koalitionsvertrag?

Manuel
Was mich schon im Sommer verwundert hat, ist, warum S&D und Renew nicht darauf bestanden haben, vor von der Leyens Wiederwahl einen schriftlichen Koalitionsvertrag mit der EVP auszuhandeln, der eine gemeinsame Abstimmung mit Rechtsaußenparteien explizit ausgeschlossen hätte. So eine feste Koalition wäre natürlich etwas Neues im Europäischen Parlament gewesen. Aber angesichts der starken Rechten und angesichts des Misstrauens zwischen der EVP einerseits und S&D und Renew andererseits hätte das doch ein sehr nützliches Instrument sein können, um pro-europäische Mehrheiten für die Legislaturperiode sicherzustellen.

Wenn die S&D jetzt beklagt, dass „unter dem verantwortungslosen Verhalten ihres Fraktionschefs Manfred Weber die konservative Europäische Volkspartei die historische pro-europäische, demokratische Einigung zwischen der konservativen, sozialdemokratischen und liberalen Fraktion in diesem Haus gebrochen hat“, dann liegt das auch in ihrem eigenen Versäumnis, diese „Einigung“ nicht formalisiert zu haben.

Julian
Jetzt muss ich doch auf das Schicksal der deutschen Autoampel verweisen: Wäre so ein Koalitionsvertrag denn überhaupt tragfähig gewesen?

Jede Koalition im Europäischen Parlament wäre ja eine Ampel XXL – und wenn sich für die Inhalte des Vertrags keine Mehrheiten organisieren lassen, dann ist er das Papier nicht wert, auf dem er steht. Vielleicht hatten S&D und Grüne Befürchtungen, dann im Licht der Öffentlichkeit schlecht dazustehen. Auch wenn es sicherlich von symbolischem Wert wäre, der EVP (und von der Leyen) einen Koalitionsvertrag vorhalten zu können, wenn sie rechts abbiegt.

Carmen
Rückblickend betrachtet wäre ein solcher europäischer Koalitionsvertrag zwischen den drei stärksten Fraktionen wahrscheinlich eine sinnvolle Lösung gewesen. Aber hätte die Drohung, von der Leyen nicht als Kommissionspräsidentin zu bestätigen, als (alleiniges?) Druckmittel von S&D und Renew ausgereicht, um die EVP dazu zu bewegen?

Nicht außer Acht lassen sollten wir auch die Tatsache, dass die europäischen Parteienfamilien und die oftmals noch breiter gefassten dazugehörigen Fraktionen viel heterogener sind, als man oft annimmt. Hätte die Entscheidung über a) das Für oder Wider eines solchen Koalitionsvertrags und b) den genauen Wortlaut überhaupt so eigenständig von den Fraktionen getroffen werden können? Ich bin mir da nicht sicher.

Die Struktur der neuen Kommission

Manuel
Blicken wir noch mal nach vorne auf die Zeit nach den Anhörungen: Es wurde ja im Voraus viel über die gestärkte Rolle von „Königin“ von der Leyen gesprochen, über die Vizepräsident:innen als Machtzentrum, über die sich überlappenden Portfolios der einzelnen Kommissar:innen … Welche Erwartungen habt ihr an die Strukturen und Politik der neuen Kommission?

Julian
Einen Aspekt finde ich bei der Kommissionsstruktur sehr spannend: Jean-Claude Juncker (bzw. Martin Selmayr) hat mit der Aufteilung zwischen Vizepräsident:innen und einfachen Kommissar:innen – alias Minister:innen und Staatssekretär:innen – einerseits Pfadabhängigkeit geschaffen. Andererseits habe ich den Eindruck, dass der Geist der (jetzt schreibe ich das böse Wort) Unterordnung von einfachen Kommissar:innen unter die Vizepräsident:innen nicht wirklich fortlebt.

Mein Eindruck ist, dass die Struktur inzwischen weniger der Effizienz innerhalb der Kommission dient als vielmehr der politischen Prioritätensetzung dient. Zudem vereinfachen die herausgehobenen Posten der Exekutiv-Vizepräsident:innen die Berücksichtigung aller Proporze bei der Vergabe der EU-Spitzenposten, denn neben den vier Präsident:innen, der Hohen Vertreterin und unter Berücksichtigung der Posten des NATO-Generalsekretärs und der Direktorin des Internationalen Währungsfonds gab es in diesem Jahr noch fünf weitere herausgehobene Posten zu vergeben. Allein die Überschneidungen bei den Ressorts widersprechen dem Effizienzziel und der Hierarchisierung. Von der Leyen scheint hier die Form wichtiger als der Inhalt zu sein.

Carmen
Weil du Martin Selmayr erwähnst: Bemerkenswert finde ich, dass in der letzten Legislatur der Büroleiter nicht mehr insgeheim der tonangebende Kommissionspräsident war. Das „Berlaymonster“ dürfte vielen noch in Erinnerung sein. In den letzten Jahren war der Fokus mehr auf von der Leyen selbst.

Mehr Handlungsfähigkeit durch Hierarchisierung

Sophia
Ein Aspekt, den ich wichtig finde: Ja, es stimmt, das Ursula von der Leyen die Kommission sehr zentral gesteuert hat, und ich erwarte, dass sie das so fortsetzt. Aber sie hat den Trend der Präsidentialisierung nicht erfunden. Auch Jean-Claude Juncker und José Manuel Barroso haben ihre Kollegien zentral gesteuert – auf ihre eigene andere Art und Weise.

Diese Art von Führungsstil ist eine direkte Konsequenz der EU-Erweiterung. In einem Kollegium von 27 (und bald mehr?) Mitgliedern kann es kaum noch Kollegialität geben. Da muss eine:r den Ton angeben und priorisieren, was die Kommission machen oder nicht machen soll.

Manuel
Die Erwartungen an die Kommission haben sich ja auch verändert : Während die EU früher vor allem Regulierung und Gesetzgebung gemacht hat, muss sie in der Zeit der „Permakrise“ auch exekutiv handlungsfähiger sein und schneller auf externe Ereignisse schnell reagieren können. Dass dabei (und auch bei der Überbrückung parteipolitischer Unterschiede zwischen den Kommissar:innen) eine stärkere Zentralisierung der Entscheidungsfindung hilft, ist klar.

Julian
Besonders in der Außenpolitik bin ich gespannt, ob Kaja Kallas sich als Hohe Vertreterin der zentralen Führung von der Leyens unterordnen und sich mit der zweiten Reihe begnügen wird, so wie das Josep Borrell in der Öffentlichkeit gemacht hat (mit Ausnahme der Zeit seit dem 7. Oktober 2023).

Entweder von der Leyen schwenkt in diesem Bereich mehr auf den Juncker’schen Stil gegenüber der Hohen Vertreterin ein, oder ich sehe einen Konflikt zwischen den beiden heraufziehen. Die Medienaffinität von Kallas wird ja gerade als eines der Argumente für ihre Nominierung angeführt. Mein Eindruck ist auch, dass selbst in Kommission und im Europäischen Auswärtigen Dienst eigentlich ein stärkeres Außenprofil der neuen Hohen Vertreterin erwartet wird.

Gewinnt Parteipolitik auch in der Kommission an Bedeutung?

Carmen
Ich hoffe, dass nach der Zeit der politischen Grabenkämpfe und politischer Deals nun wieder die Politikgestaltung im Vordergrund steht. Angesichts des Politikwechsels in den USA und der ungewissen politischen Zukunft in Deutschland mit Neuwahlen Anfang 2025 mangelt es ja nicht an externen Faktoren, die das – mehr oder weniger lautstark – einfordern oder erfordern. Und ich stimme Sophia zu: Eine zentralistisch organisierte Kommission ist nicht neu, und ehrlich gesagt angesichts der aktuellen politischen Situation auch nicht ganz verkehrt.

Sophia
Ein Merkmal, das die Kommission und das Europäische Parlament in der beginnenden Wahlperiode verbindet, ist das starke Gewicht der EVP. Traditionell bestand das Kommissionskollegium immer aus einer Mehrparteienkoalition, in der sich EVP und Sozialdemokrat:innen ungefähr die Waage hielten. Das wird sich jetzt voraussichtlich ändern: Unter den designierten Kommissionsmitgliedern gibt es 14 EVP-Mitglieder, während S&D und Renew zusammen nur auf neun Kommissar:innen kommen. Die restlichen vier gehören zu Rechtsaußenparteien oder sind parteilos.

Es wird sich zeigen, was das für die Arbeitsweise der Kommission bedeutet. Vielleicht gibt es auch hier eine stärkeren Parteipolitisierung, bei der die EVP versucht, ihre Handschrift sichtbar zu machen. Wenn es dazu kommt, würde das den Charakter der Kommission jedenfalls verändern.


Carmen Descamps ist Fachgebietsleiterin für europäische Energie- und Digitalthemen beim Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) in Brüssel.

Die Beiträge geben allein die persönliche Meinung der jeweiligen Autor:innen wieder.

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Bilder: Daumen-nach-unten-Zeichen: © European Union 2024 - European Parliament [CC BY-NC-ND 4.0], via FLickr; Porträt Carmen Descamps: Life Studio [alle Rechte vorbehalten]; Porträt Manuel Müller: Finnish Institute of International Affairs [alle Rechte vorbehalten]; Porträts Julian Plottka, Sophia Russack: privat [alle Rechte vorbehalten].