29 November 2024

Der Niinistö-Bericht zur „Preparedness“: Finnische Lehren für die EU und ihre Grenzen

Von Tuomas Iso-Markku und Niklas Helwig
Sauli Niinistö

Das finnische Modell ist in Sauli Niinistös Bericht implizit deutlich erkennbar. Aber die EU ist nicht Finnland.

Im März 2024 beauftragte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den ehemaligen finnischen Staatspräsidenten Sauli Niinistö mit der Ausarbeitung einer umfassenden Einschätzung, wie die EU angesichts vielfältiger Krisen ihre zivile und militärische Einsatzbereitschaft verbessern könnte. Der daraus resultierende 165-seitige Bericht Safer together – Strengthening Europe’s civilian and military preparedness and readiness wurde am 30. Oktober 2024 veröffentlicht. Er ist Teil einer Reihe von Beiträgen zur Vorbereitung des neuen institutionellen Zyklus der EU und der politischen Leitlinien der Kommission und folgt auf Berichte zweier ehemaliger italienischer Premierminister: Enrico Lettas Analyse zur Vertiefung des EU-Binnenmarktes und Mario Draghis Studie zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Union.

Dass „Preparedness“ als ein so hochrangiges Thema behandelt wird, spiegelt die Erfahrungen der letzten Jahre wider. Nach der Covid-19-Pandemie und der russischen Invasion in der Ukraine stehen Krisenreaktion, Widerstandsfähigkeit und Sicherheit auf der Tagesordnung der EU ganz oben. Die Kommission hat strategische Vorräte angelegt, neue Rechtsvorschriften zur Widerstandsfähigkeit kritischer Einrichtungen und zur Cybersicherheit vorgelegt und versucht, die europäischen Verteidigungskapazitäten zu stärken. „Preparedness“ hat das Potenzial, zu einem neuen übergreifenden Konzept zu werden, das die Bemühungen der EU in verschiedenen Politikbereichen miteinander verbindet.

Das finnische Modell

Dass Niinistö für die Ausarbeitung des Berichts ausgewählt wurde, ist eine Anerkennung sowohl seines persönlichen Ansehens als auch des Rufs Finnlands als „Prepper-Nation“. Vor dem Hintergrund der jüngsten Krisen hat Finnlands seit langem bestehendes Modell umfassender Sicherheit und nationaler Vorsorge eine nie dagewesene internationale Aufmerksamkeit erhalten. Das Land hat die Gelegenheit ergriffen und sich für eine „EU-Strategie für eine Preparedness-Union“ eingesetzt.

Im Niinistö-Bericht ist das finnische Modell deutlich – wenn auch meist nur implizit – erkennbar. So argumentiert er, dass die EU dem finnischen Beispiel folgen und in Sachen Abwehrbereitschaft einen All-hazards-and-all-threats-Ansatz verfolgen sollte, der alle Arten von Bedrohungen, seien es natürliche oder vom Menschen verursachte, zivile oder militärische, umfasst. Dem Bericht zufolge würde dies umfassendere Kapazitäten für die Vorausschau und den Austausch von Informationen auf EU-Ebene sowie geeignete Entscheidungsmechanismen für Krisensituationen erfordern.

Ebenfalls in Anlehnung an die finnische Tradition unterstreicht der Bericht, dass Preparedness nicht allein in der Verantwortung der Regierungsbehörden liegt. Vielmehr sollte sie in enger Zusammenarbeit mit dem Privatsektor erfolgen, der bei der Aufrechterhaltung lebenswichtiger Funktionen der Gesellschaft oft eine entscheidende Rolle spielt. Außerdem sollten auch die einfachen Bürger:innen eng in die Vorsorge einbezogen werden.

Die EU ist nicht Finnland

Doch die EU ist nicht Finnland. Die meisten finnischen Gesprächspartner:innen würden bereitwillig zugeben, dass das finnische Preparedness-Modell aus Besonderheiten Finnlands erwachsen ist: seinen Kriegserfahrungen, seinem rauen Klima und seiner geografischen Isolation sowie seiner kleinen, relativ egalitären Gesellschaft mit einem hohen Maß an Vertrauen in die öffentlichen Institutionen. Der EU hingegen fehlt es an einer gemeinsamen strategischen Kultur, und ihre Kompetenzen variieren je nach Politikbereich.

Dementsprechend hätte der Niinistö-Bericht ein stärkeres Argument für eine Neuausrichtung der EU-Bemühungen auf das Konzept der Preparedness machen können, wenn er näher untersucht hätte, welche Aspekte des finnischen Modells in dem komplexen politischen System der EU am effektivsten umsetzbar wären und die besonderen Stärken der Union am besten nutzen könnten. So ist beispielsweise die Beteiligung der Bürger:innen an Vorsorgemaßnahmen zwar wichtig – aber die EU, die oft als distanziert gilt und der es an wirksamen Kommunikationsinstrumenten mangelt, ist kaum der am besten geeignete Rahmen, um sie einzubeziehen.

Nur kleinere Anpassungen der derzeitigen Politik

Insgesamt ist der Niinistö-Bericht sowohl umfassend als auch gründlich. Die darin vorgeschlagenen Maßnahmen würden jedoch in erster Linie nur geringfügige Änderungen an der derzeitigen Arbeitsweise der EU bewirken. In neun Themenblöcken enthält der Bericht eine erschöpfende Liste von Empfehlungen – wie die Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen der EU und der NATO, die Stärkung des Koordinierungszentrums für Notfallmaßnahmen der Kommission und die Rationalisierung des europäischen Verteidigungsmarktes –, an denen die EU-Institutionen in vielen Fällen bereits heute arbeiten.

Niinistös bedächtiger Ansatz ist höchstwahrscheinlich beabsichtigt: Das Thema Preparedness berührt viele Fragen, die den Kern der nationalen Souveränität betreffen, sodass weitreichende Initiativen von den Mitgliedstaaten schnell abgeschmettert werden könnten. In Berichten wie diesem geht es jedoch gerade darum, ehrgeizige Visionen zu präsentieren, die der EU eine strategische Orientierung bieten können, auch wenn nicht alle damit verbundenen Ideen sofort umsetzbar sind. Die vorsichtige Herangehensweise passt auch nicht ganz zu der Situationsanalyse, die dem Bericht zugrunde liegt. Sie zeichnet ein düsteres – aber sehr glaubwürdiges – Bild von Bedrohungsszenarien, mit denen die EU konfrontiert ist, von der militärischen Aggression Russlands bis hin zu vielschichtigen Notlagen, die durch den Klimawandel verursacht werden.

Preparedness erfordert politischen Willen

Ungeachtet dieser Beschränkungen des Berichts täten die EU und ihre Mitgliedstaaten gut daran, seine allgemeine Argumentationslinie ernst zu nehmen. Es gibt mehrere Bereiche, in denen die EU durch ihr wirtschaftliches und diplomatisches Gewicht, ihre finanziellen Ressourcen sowie ihre Verwaltungs- und Regulierungskapazitäten einen Mehrwert für die Preparedness-Anstrengungen der Mitgliedstaaten bieten kann. In diesem Sinne argumentiert der Niinistö-Bericht, dass mindestens 20 % des EU-Gesamthaushalts für Sicherheit und Abwehrbereitschaft ausgegeben werden sollten, auch wenn er sich nicht dazu äußert, wie die Kosten für dringende Sicherheitsbedürfnisse finanziert werden sollten.

Letztlich wird der Aufbau von Preparedness auf europäischer Ebene mehr erfordern als die nüchternen Argumente, die der Niinistö-Bericht liefert. Nötig ist der politische Wille der Mitgliedstaaten, der Sicherheit Vorrang vor anderen Zielen einzuräumen und dabei Souveränitäts- und haushaltspolitische Bedenken zu überwinden. Der Kommission kommt nun eine Schlüsselrolle bei der Suche nach ehrgeizigen Lösungen zu, die das derzeitige politische Momentum – das durch Krisen ausgelöst wurde und durch den Wahlsieg von Donald Trump in den USA noch verstärkt werden könnte – in greifbare Ergebnisse für die Sicherheit und die Verteidigungsfähigkeit der EU übertragen.

Portrait Tuomas Iso-Markku
Portrait Niklas Helwig

Dieser Beitrag ist zuerst auf Englisch als FIIA Comment auf der Webseite des Finnish Institute of International Affairs erschienen.


Übersetzung: Manuel Müller.
Bilder: Sauli Niinistö: © Fanni Uusitalo, valtioneuvoston kanslia [CC BY 2.0], via Flickr [cropped]; Porträts Tuomas Iso-Markku, Niklas Helwig: FIIA [all rights reserved].

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