15 November 2024

Das europapolitische Quartett: Parteienstreit im Europäischen Parlament über die Mitglieder der neuen Kommission

Mit:
  • Carmen Descamps, Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft, Brüssel
  • Manuel Müller, Finnish Institute of International Affairs, Helsinki
  • Julian Plottka, Universität Passau / Institut für Europäische Politik, Berlin
  • Sophia Russack, Centre for European Policy Studies, Brüssel
Dieses Gespräch entstand als Online-Chat und wurde redaktionell bearbeitet.
During a vote in the European Parliament, an MEP signals thumbs down with an EU flag in the background
Die Anhörungen sind vorüber, aber noch gibt es im Parlament keine Mehrheit für die neue Kommission.

Manuel
Die Anhörungen im Europäischen Parlament sind vorüber: Eine Woche lang haben die Europaabgeordneten die designierten Mitglieder der neuen Europäischen Kommission befragt, um ihre persönliche und fachliche Eignung für das Amt zu überprüfen. Für die meisten der künftigen Kommissar:innen gab es gleich danach oder spätestens am Folgetag grünes Licht. Nachsitzen muss der designierte Gesundheitskommissar Olivér Várhelyi aus Ungarn, und auch die Entscheidungen über die sechs Kommissions-Vizepräsident:innen wurde erst mal vertagt.

Bei unserem europapolitischen Quartett heute können wir deshalb noch nicht über das Ergebnis der Anhörungen sprechen, aber doch über die bisherigen Entwicklungen. Dafür haben wir in dieser Runde zum ersten Mal Sophia Russack dabei, die unter anderem zur Politisierung der Europäischen Kommission forscht und erst letzte Woche ein Paper über die Anhörungen veröffentlicht hat. Sophia, hat dich irgendetwas an den Ereignissen der letzten Tage überrascht?

Sophia
Na ja, bis zu diesem Dienstag hat mich der Prozess nicht groß überrascht: alles war so zahm, wie ich es erwartet hatte. Dass Várhelyi nicht sofort bestätigt wurde, ist keine Überraschung. Interessant war dann aber, wie hart die EVP Teresa Ribera angegangen ist.

Es gab ja im Voraus eine Art parteiübergreifenden Konsens, dass keine der Kandidat:innen zu scharf angegriffen wird und alle durchkommen, damit schnell in die neue Legislatur gestartet werden kann. Entsprechend sind die Abgeordneten bei den ersten Anhörungen mit Beißhemmung aufgetreten. Am letzten Tag hat dann aber die EVP Ribera so heftig kritisiert, dass die S&D aus diesem Deal ausgestiegen ist, und nun alles zu kippen droht. Auch der Streit um die Nominierung von Raffaele Fitto als Vizepräsident scheint neu entbrannt zu sein.

Streit um Raffaele Fitto und Teresa Ribera

Carmen
Ich kann Sophia nur zustimmen: Bisher waren es sehr sachliche Anhörungen, kaum Überraschungen, keine popcornverdächtigen Diskussionen. Auch für die vermuteten „Wackelkandidaten“ sah es ja erst mal sehr gut aus – ich hatte im Vorfeld getippt, dass Várhelyi und Fitto durchfallen würden.

Mit der Anhörung der designierten Vizepräsidentin Ribera am Dienstag ist das aber Geschichte – plötzlich gibt es sehr viel parteipolitischen Streit zwischen den Fraktionen im Parlament, der vor dem Hintergrund der Flut in Valencia aber auch von der spanischen nationalen Politik angetrieben wird. Gemeinsam mit den Rechtsaußenparteien hat die EVP ja förmlich versucht, Ribera die Verantwortung für das angebliche Missmanagement während der Flutkatastrophe in die Schuhe zu schieben. Ich finde es bedauerlich, welches Verhalten einige Abgeordnete dabei an den Tag gelegt haben und wie die Anhörung für einen solch wichtigen Posten für nationale Parteipolitik missbraucht wurde.

Sophia
Es stellt sich die Frage, ob die Flutkatastrophe für die EVP in diesem Fall Grund oder Vorwand war …

Julian
Meine Vermutung wäre: Vorwand. Ich sitze zwar in Berlin, aber mein Eindruck ist nicht, dass dieses tragische Ereignis Europa insgesamt so sehr erschüttert hat. Oder seht ihr das in der europäischen Hauptstadt anders?

Carmen
Dass es in Spanien sehr verhärtete Grabenkämpfe zwischen Sozialist:innen und Konservativen gibt, ist mir aus meiner Zeit in Madrid noch gut in Erinnerung – ungewöhnlich ist allerdings, dass sie auch auf der europäischen Bühne ausgetragen werden. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen: Katastrophenmanagement fällt in Spanien primär unter die Kompetenz der Regionen bzw. Autonomen Gemeinschaften, und das weiß auch die EVP (bzw. ihre spanische Mitgliedspartei, die übrigens den valencianischen Regionalpräsidenten stellt).

Damit kennen wir auch schon die Antwort auf deine Frage, Sophia! 😉

Parteipolitisierung der Anhörungen

Manuel
Kurz zum Vergleich mit früheren Anhörungen im Europäischen Parlament: Seit 2004 sortierten die Abgeordneten jedes Mal einzelne problematische Kandidat:innen aus – manchmal wegen ihrer extremen politischen Ansichten (wie bei Rocco Buttiglione 2004), öfter wegen vermuteter Interessenkonflikte.

2019 war dann besonders, weil parteipolitische Gegensätze damals zum ersten Mal eine zentrale Rolle spielten. Der Wahlkampf war sehr scharf geführt worden; die Parteien machten sich gegenseitig Vorwürfe wegen des Scheiterns des Spitzenkandidatenverfahrens; zudem hatten EVP und S&D erstmals zu zweit keine Mehrheit mehr … In der Folge fielen bei den Anhörungen gleich drei Kandidat:innen durch, eine:r von jeder großen Fraktion (EVP, S&D, Renew). Und vor allem bei der liberalen Kandidatin Sylvie Goulard schien das deutlich mehr mit Parteipolitik als mit ihr persönlich zu tun zu haben.

Diesmal stand die Parteipolitik von Anfang an im Mittelpunkt, aber der Effekt schien genau umgekehrt zu sein: eine Art Mexican Standoff, bei der keine der großen Fraktionen Kandidat:innen der anderen Parteien abzulehnen wagte, um nicht die eigenen zu gefährden. In der Folge könnten erstmals seit der Jahrtausendwende alle Kandidat:innen bei den Anhörungen durchkommen – wenn es nicht doch erneut zum großen Gemetzel kommt.

Sophia
Ja, das Ausmaß, in dem alles von Anfang parteipolitisch ausgehandelt und vorgekocht wurde, war ungewöhnlich. Die Anhörungen waren schon immer auch parteipolitisch geprägt, aber dieses Mal war das schon echt extrem.

Welche Rolle spielt die Performance der Kandidat:innen noch?

Manuel
Wie problematisch findet ihr denn den Aspekt, dass es wegen der stärkeren Bedeutung von Parteipolitik immer weniger um die Performance der einzelnen Kommissar:innen geht?

Für mich zeigt sich darin eine Abkehr von einem meritokratisch-technokratischen Verständnis der Kommission (das Parlament testet, ob die Kandidat:innen „geeignet“ sind) hin zu einer demokratischen Politisierung (Parteien versuchen, „ihre“ Kandidat:innen durchzusetzen). Die Verhandlungen über die neue Kommission werden ähnlicher wie nationale Koalitionsverhandlungen, bei denen Parteien in der Regel ja auch die Minister:innen der anderen Koalitionspartner ohne individuelle Prüfung akzeptieren.

Sophia
Absolut! Das neue Level an Parteipolitisierung überschattet, worum es ursprünglich ging: zu testen, ob die Kandidat:innen fit für den Job sind!

Mir scheint, dass die Anhörungen statt einem grilling heutzutage eher eine Mischung sind aus a) einem Onboarding für die Kommissar:innen (sie müssen ja ganz schön büffeln, um da durchzukommen, und sich in kürzester Zeit auch in ihnen bislang fremde Politikfelder einarbeiten) und b) einem Agendasetting-Instrument, bei dem die Europaabgeordneten zu versuchen, von den künftigen Kommissar:innen möglichst viele Policy-Commitments zu bekommen.

Julian
Spannend ist hier natürlich auch die Frage, was überhaupt als „Performance“ gilt. Wirklich um rein fachliche Kompetenz ging es ja noch nie. Es war immer eher eine Kombination aus dem Abhaken bestimmter persönlicher Fähigkeiten, einer weißen Weste, einem eloquenten Parieren von Fachfragen und der Unterstützung der Kandidat:innen für einen demokratischen Konsens.

Und auch die Policy-Committments sind schon stark gespielt: Erst schreibt die EVP-Fraktion an den mission letters der designierten Kommissar:innen mit, dann lässt sie sich diese Agenda im Parlament öffentlich bestätigen. 🙄

Carmen
Jenseits des Kuhhandels zwischen den Fraktionen konnte man allerdings auch diesmal durchaus sehen, dass die Anhörungen für die Kandidat:innen keine Selbstläufer waren. Einige von ihnen mussten noch eine Extrarunde drehen (z. B. die designierte Umweltkommissarin Jessika Roswall, die objektiv betrachtet bei ihrer Anhörung sehr aufgeregt oder einfach nicht gut vorbereitet zu sein schien). Andere konnten zeigen, dass sie ihre Hausaufgaben gemacht und ihre schwächeren Themen gebüffelt hatten (z. B. Ribera bezüglich der Wettbewerbspolitik). Umsonst waren die Anhörungen also nicht, aber sie wären definitiv noch ausbaufähig gewesen.

Parteipolitisierung als Demokratisierung

Manuel
Ein Vorteil der Parteipolitisierung ist aber auch, dass die Ernennung der Kommission dadurch stärker an die Europawahl gekoppelt wird. Wenn deutlicher wird, welche Kandidat:in von welcher Partei durchgedrückt wurde, können Wähler:innen die Parteien dafür bei der nächsten Wahl leichter zur Verantwortung ziehen.

(Das klappt natürlich nur, wenn auch die Medien über die Anhörungen berichten. Aber mit mehr Parteienstreit kommt langfristig ja auch mehr Nachrichtenwert.)

Julian
Ich denke, wir schreiben hier von einem wirklichen Paradigmenwechsel in der europäischen Politik – dass wir auf einmal einen echten parteipolitischen Wettstreit zwischen Links und Rechts haben. Wenn wir daran denken, wie Manfred Weber Giorgia Meloni bereits vor der Wahl hofiert hat, ist das von langer Hand vorbereitet. Auch die Krokodilstränen der CSU über Viktor Orbán aus den letzten Jahren (oder besser nur Monaten) erscheinen mir da nicht mehr wirklich glaubwürdig.

Abstrakt betrachtet ist das ein großer Fortschritt in der Demokratisierung der EU. Andererseits wird die gesamte Integration gefährdet, wenn die Europafeind:innen jetzt kräftig mitmischen dürfen. Ich würde gerne wissen, wie Simon Hix das kommentiert.

Neue Machtverhältnisse im Parlament

Sophia
Bevor wir bei Simon Hix nachfragen, hier meine eigene humble opinion: Ich denke, dass die Parteipolitisierung der EU insgesamt auch Teil ihres Demokratisierungsprozesses ist. In der Tat, wir sehen eine Art Paradigmenwechsel: Nach Jahrzehnten der informellen Großen Koalition, in denen im Grunde fast alle Entscheidungen von S&D und EVP gemeinsam getroffen wurden, sehen wir nun eine wachsende Kluft zwischen dem linken und dem rechten Lager.

Hintergrund dafür sind die neuen Machtverhältnisse im Europäischen Parlament. Lange Zeit war das Kräfteverhältnis zwischen EVP und S&D relativ ausgeglichen. Seit der Europawahl im Juni ist die EVP dagegen Königsmacherin: Sie kann zu beiden Seiten Mehrheiten organisieren – und tut das neuerdings auch. Mitte-links, also das mögliche Bündnis aus S&D, Liberalen, Grünen und Linken, hat keine Mehrheit mehr und kann nur machtlos zuschauen, wenn die EVP mit Rechtsaußen kooperiert.

Diese EVP-Rechtsaußen-Mehrheit hat schon bei der Organisation der Anhörungen wichtige Entscheidungen gefällt – und nun auch bezüglich des Kandidaten Várhelyi: Die Mitte-links-Parteien hätten gern eine zweite Anhörung mit ihm durchgeführt, bevor der Ausschuss eine Entscheidung trifft. Stattdessen muss er nur einen Satz weiterer schriftlicher Fragen beantworten, was viel einfacher ist.

Manuel
Schon dass die Anhörung von Ribera nach der von Fitto stattfand, wurde ja von der EVP mit den Rechtsaußenfraktionen zusammen durchgesetzt – um sicherzustellen, dass sie bei einer Ablehnung von Fitto durch die Mitte-Links-Fraktionen die Möglichkeit haben würden, ihrerseits Ribera (als die prominenteste S&D-Kandidatin) abzulehnen.

Auffällig finde ich, wie stark die EVP hier den EKR-Kandidaten Fitto unter ihre Fittiche genommen hat. Und dass diese Entscheidung über die Reihenfolge der Anhörungen lange vor der Flut in Valencia stattfand, spricht ebenfalls dafür, dass die Kritik an Ribera jetzt eher ein Vorwand ist.

EVP vs. Grüne

Sophia
Und es geht dabei auch nicht nur um das Flirten von Manfred Weber mit Rechtsaußen (das heute schon viel mehr als nur ein Flirten ist). Wichtig ist auch die extreme Ablehnung, fast schon Feindseligkeit, die die EVP den Grünen gegenüber an den Tag legt. Diese Dämonisierung – mit einer Rhetorik, die eine Zusammenarbeit mit den Grünen manchmal als größeres Problem erscheinen lässt als Deals mit Rechtsaußen – belastet die Mitte-Koalition noch mehr.

Julian
Da stimme ich Dir zu, Sophia. Die tragische Frage ist, ob gerade diese extreme Polarisierung zwischen EVP und Grünen wirklich einen Beitrag zur Demokratisierung der EU leistet. In Deutschland hat Toni Hofreiter vor einiger Zeit der CSU sehr sachlich vorgehalten, dass die Anfeindungen des Bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder gegen die Grünen dem Skript des Kremls zur Zerstörung der liberalen Demokratie ähneln.

Zumindest bei der CDU sehe ich da aber noch einen parteiinternen Streit darüber, inwieweit dieser Kurs sinnvoll ist oder eben unsere Demokratie gefährdent. Dass die CSU mit ihrer irrlichternden Linie nicht nur in Deutschland Erfolg hat, sondern auch im Europäischen Parlament den Ton mitanzugeben scheint, ist beängstigend. Es würde sicherlich dem Parlament gut tun, wenn die Abkehr vom früheren Dauerkonsens nicht gleich in eine radikale Spaltung zwischen den Lagern umschlägt.

Sophia
Ich denke schon, dass die EVP an dem Punkt auch gespalten ist. Sie merkt auch, dass sie, je weiter sie sich nach rechts bewegt, sich mehr und mehr in Anti-EU-Fahrwasser begibt – wo sie mehrheitlich eigentlich nicht hingehört.

EVP auf Identitätsfindung

Carmen
Diese Angriffe auf die Grünen haben doch vor allem auch durch die Bauernproteste an Fahrt gewonnen, oder? In der Folge hat ja auch von der Leyen im Frühling einige Maßnahmen des Green Deals noch zurückgenommen bzw. aufgeweicht. Die Politisierung der EU scheint da auch mit zunehmender Klientelpolitik einherzugehen – statt einem Wettstreit der (eigentlichen) Ideen für die politische Zukunft Europas.

Sophia
Die EVP hat in der letzten Legislatur arg mit Ursula von der Leyen gefremdelt. Zwar hat die Kommissionspräsident:in es immer schwer, die eigene Partei glücklich zu machen, weil die Kommission aus mehreren Parteien zusammengesetzt ist und nie nur der Kurs einer einzelnen fahren kann. Aber ich denke, dass die EVP es mit „ihrer“ Präsidentin besonders schwer hatte, da sie eine sehr grüne und progressive Agenda verfolgt hat.

Das muss man auch berücksichtigen, wenn man das momentane Verhalten der EVP bewertet. Die (aus konservativer Sicht) starke „Linkslastigkeit“ der EU-Agenda in den letzten fünf Jahren war für die EVP schwer zu verdauen – und nun steuert die Partei dagegen.

Carmen
Quasi eine Schiffsbesatzung, die gegen ihre eigene Steuerfrau arbeitet? Eine Kommission von der Leyen II dürfte auch aus dieser Perspektive spannend bleiben, wenn die Identitäts(wieder- bzw. -⁠neu)findung der EVP fortschreitet. Um bei den Verkehrsmetaphern zu bleiben: Hoffentlich kommt es dann nicht am Ende zu einem „rechts blinken und rechtsaußen vorbeiziehen“.

Fällt das Parlament als Integrationsmotor aus?

Julian
Angesichts der großen Herausforderungen, denen die EU in der Außen- und besonders der Erweiterungspolitik gegenübersteht, wird mir wirklich Angst und Bange, wenn durch die neue Rechts-Rechtsaußen-Koalition nun auch noch das Europäische Parlament als letzter (wenn auch seit einiger Zeit im Leerlauf drehender) Reformmotor ausfallen sollte. Die EVP war einmal die Triebkraft der europäischen Integration, aber sie ist in dieser Rolle schon länger von den Mitte-Links-Parteien abgelöst worden.

Manuel
Ja, da gibt es eine echte Begriffsverschiebung: Vor der Wahl sprach die EVP sehr viel davon, dass sie nur mit Parteien kooperieren würde, die „pro-Europa, pro-Ukraine und pro-Rechtsstaat“ sind. Inzwischen wird deutlich, dass sie erstens keine Probleme hat, wenigstens punktuell mit sämtlichen Rechtsaußen-Fraktionen zusammenzuarbeiten, um Mehrheiten gegen S&D und Renew zu ermöglichen. Und dass sie zweitens bereit ist, gerade das Pro-Europa-Kriterium außerordentlich lasch zu interpretieren.

Plötzlich gelten selbst Parteien wie Fratelli d’Italia oder die finnischen Perussuomalaiset als „pro-europäisch“ – obwohl Erstere noch vor zwei Jahren forderten, den Vorrang des Europarechts abzuschaffen, und Letztere bis heute im Wahlprogramm davon sprechen, man solle den finnischen EU-Austritt „nicht als Tabu behandeln“.

Julian
Wenn die EVP sich im Parlament nun regelmäßig Mehrheiten mit den Europagegner:innen organisiert, könnten wir auch einem Paradigmenwechsel in der bisherigen Logik des Zusammenspiels zwischen supranationalen und intergouvernementalen EU-Organen gegenüberstehen. Wenn das Parlament – und damit wahrscheinlich auch die Kommission – auf den Kurs einschwenken, den der Rat und Europäische Rat seit langem fahren, ist mir nicht klar, wo die Impulse für künftige Reformen herkommen sollen.

Dann sollte die EVP der Fairness halber aber auch der Ukraine gleich mitteilen, dass ihr geopolitisches Engagement nicht wirklich ernst gemeint ist. Denn ohne Reformen kann die EU auch nicht fit für eine Erweiterung werden.

Warum kein Koalitionsvertrag?

Manuel
Was mich schon im Sommer verwundert hat, ist, warum S&D und Renew nicht darauf bestanden haben, vor von der Leyens Wiederwahl einen schriftlichen Koalitionsvertrag mit der EVP auszuhandeln, der eine gemeinsame Abstimmung mit Rechtsaußenparteien explizit ausgeschlossen hätte. So eine feste Koalition wäre natürlich etwas Neues im Europäischen Parlament gewesen. Aber angesichts der starken Rechten und angesichts des Misstrauens zwischen der EVP einerseits und S&D und Renew andererseits hätte das doch ein sehr nützliches Instrument sein können, um pro-europäische Mehrheiten für die Legislaturperiode sicherzustellen.

Wenn die S&D jetzt beklagt, dass „unter dem verantwortungslosen Verhalten ihres Fraktionschefs Manfred Weber die konservative Europäische Volkspartei die historische pro-europäische, demokratische Einigung zwischen der konservativen, sozialdemokratischen und liberalen Fraktion in diesem Haus gebrochen hat“, dann liegt das auch in ihrem eigenen Versäumnis, diese „Einigung“ nicht formalisiert zu haben.

Julian
Jetzt muss ich doch auf das Schicksal der deutschen Autoampel verweisen: Wäre so ein Koalitionsvertrag denn überhaupt tragfähig gewesen?

Jede Koalition im Europäischen Parlament wäre ja eine Ampel XXL – und wenn sich für die Inhalte des Vertrags keine Mehrheiten organisieren lassen, dann ist er das Papier nicht wert, auf dem er steht. Vielleicht hatten S&D und Grüne Befürchtungen, dann im Licht der Öffentlichkeit schlecht dazustehen. Auch wenn es sicherlich von symbolischem Wert wäre, der EVP (und von der Leyen) einen Koalitionsvertrag vorhalten zu können, wenn sie rechts abbiegt.

Carmen
Rückblickend betrachtet wäre ein solcher europäischer Koalitionsvertrag zwischen den drei stärksten Fraktionen wahrscheinlich eine sinnvolle Lösung gewesen. Aber hätte die Drohung, von der Leyen nicht als Kommissionspräsidentin zu bestätigen, als (alleiniges?) Druckmittel von S&D und Renew ausgereicht, um die EVP dazu zu bewegen?

Nicht außer Acht lassen sollten wir auch die Tatsache, dass die europäischen Parteienfamilien und die oftmals noch breiter gefassten dazugehörigen Fraktionen viel heterogener sind, als man oft annimmt. Hätte die Entscheidung über a) das Für oder Wider eines solchen Koalitionsvertrags und b) den genauen Wortlaut überhaupt so eigenständig von den Fraktionen getroffen werden können? Ich bin mir da nicht sicher.

Die Struktur der neuen Kommission

Manuel
Blicken wir noch mal nach vorne auf die Zeit nach den Anhörungen: Es wurde ja im Voraus viel über die gestärkte Rolle von „Königin“ von der Leyen gesprochen, über die Vizepräsident:innen als Machtzentrum, über die sich überlappenden Portfolios der einzelnen Kommissar:innen … Welche Erwartungen habt ihr an die Strukturen und Politik der neuen Kommission?

Julian
Einen Aspekt finde ich bei der Kommissionsstruktur sehr spannend: Jean-Claude Juncker (bzw. Martin Selmayr) hat mit der Aufteilung zwischen Vizepräsident:innen und einfachen Kommissar:innen – alias Minister:innen und Staatssekretär:innen – einerseits Pfadabhängigkeit geschaffen. Andererseits habe ich den Eindruck, dass der Geist der (jetzt schreibe ich das böse Wort) Unterordnung von einfachen Kommissar:innen unter die Vizepräsident:innen nicht wirklich fortlebt.

Mein Eindruck ist, dass die Struktur inzwischen weniger der Effizienz innerhalb der Kommission dient als vielmehr der politischen Prioritätensetzung dient. Zudem vereinfachen die herausgehobenen Posten der Exekutiv-Vizepräsident:innen die Berücksichtigung aller Proporze bei der Vergabe der EU-Spitzenposten, denn neben den vier Präsident:innen, der Hohen Vertreterin und unter Berücksichtigung der Posten des NATO-Generalsekretärs und der Direktorin des Internationalen Währungsfonds gab es in diesem Jahr noch fünf weitere herausgehobene Posten zu vergeben. Allein die Überschneidungen bei den Ressorts widersprechen dem Effizienzziel und der Hierarchisierung. Von der Leyen scheint hier die Form wichtiger als der Inhalt zu sein.

Carmen
Weil du Martin Selmayr erwähnst: Bemerkenswert finde ich, dass in der letzten Legislatur der Büroleiter nicht mehr insgeheim der tonangebende Kommissionspräsident war. Das „Berlaymonster“ dürfte vielen noch in Erinnerung sein. In den letzten Jahren war der Fokus mehr auf von der Leyen selbst.

Mehr Handlungsfähigkeit durch Hierarchisierung

Sophia
Ein Aspekt, den ich wichtig finde: Ja, es stimmt, das Ursula von der Leyen die Kommission sehr zentral gesteuert hat, und ich erwarte, dass sie das so fortsetzt. Aber sie hat den Trend der Präsidentialisierung nicht erfunden. Auch Jean-Claude Juncker und José Manuel Barroso haben ihre Kollegien zentral gesteuert – auf ihre eigene andere Art und Weise.

Diese Art von Führungsstil ist eine direkte Konsequenz der EU-Erweiterung. In einem Kollegium von 27 (und bald mehr?) Mitgliedern kann es kaum noch Kollegialität geben. Da muss eine:r den Ton angeben und priorisieren, was die Kommission machen oder nicht machen soll.

Manuel
Die Erwartungen an die Kommission haben sich ja auch verändert : Während die EU früher vor allem Regulierung und Gesetzgebung gemacht hat, muss sie in der Zeit der „Permakrise“ auch exekutiv handlungsfähiger sein und schneller auf externe Ereignisse schnell reagieren können. Dass dabei (und auch bei der Überbrückung parteipolitischer Unterschiede zwischen den Kommissar:innen) eine stärkere Zentralisierung der Entscheidungsfindung hilft, ist klar.

Julian
Besonders in der Außenpolitik bin ich gespannt, ob Kaja Kallas sich als Hohe Vertreterin der zentralen Führung von der Leyens unterordnen und sich mit der zweiten Reihe begnügen wird, so wie das Josep Borrell in der Öffentlichkeit gemacht hat (mit Ausnahme der Zeit seit dem 7. Oktober 2023).

Entweder von der Leyen schwenkt in diesem Bereich mehr auf den Juncker’schen Stil gegenüber der Hohen Vertreterin ein, oder ich sehe einen Konflikt zwischen den beiden heraufziehen. Die Medienaffinität von Kallas wird ja gerade als eines der Argumente für ihre Nominierung angeführt. Mein Eindruck ist auch, dass selbst in Kommission und im Europäischen Auswärtigen Dienst eigentlich ein stärkeres Außenprofil der neuen Hohen Vertreterin erwartet wird.

Gewinnt Parteipolitik auch in der Kommission an Bedeutung?

Carmen
Ich hoffe, dass nach der Zeit der politischen Grabenkämpfe und politischer Deals nun wieder die Politikgestaltung im Vordergrund steht. Angesichts des Politikwechsels in den USA und der ungewissen politischen Zukunft in Deutschland mit Neuwahlen Anfang 2025 mangelt es ja nicht an externen Faktoren, die das – mehr oder weniger lautstark – einfordern oder erfordern. Und ich stimme Sophia zu: Eine zentralistisch organisierte Kommission ist nicht neu, und ehrlich gesagt angesichts der aktuellen politischen Situation auch nicht ganz verkehrt.

Sophia
Ein Merkmal, das die Kommission und das Europäische Parlament in der beginnenden Wahlperiode verbindet, ist das starke Gewicht der EVP. Traditionell bestand das Kommissionskollegium immer aus einer Mehrparteienkoalition, in der sich EVP und Sozialdemokrat:innen ungefähr die Waage hielten. Das wird sich jetzt voraussichtlich ändern: Unter den designierten Kommissionsmitgliedern gibt es 14 EVP-Mitglieder, während S&D und Renew zusammen nur auf neun Kommissar:innen kommen. Die restlichen vier gehören zu Rechtsaußenparteien oder sind parteilos.

Es wird sich zeigen, was das für die Arbeitsweise der Kommission bedeutet. Vielleicht gibt es auch hier eine stärkeren Parteipolitisierung, bei der die EVP versucht, ihre Handschrift sichtbar zu machen. Wenn es dazu kommt, würde das den Charakter der Kommission jedenfalls verändern.


Carmen Descamps ist Fachgebietsleiterin für europäische Energie- und Digitalthemen beim Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) in Brüssel.

Die Beiträge geben allein die persönliche Meinung der jeweiligen Autor:innen wieder.

Alle Ausgaben des europapolitischen Quartetts sind hier zu finden.


Bilder: Daumen-nach-unten-Zeichen: © European Union 2024 - European Parliament [CC BY-NC-ND 4.0], via FLickr; Porträt Carmen Descamps: Life Studio [alle Rechte vorbehalten]; Porträt Manuel Müller: Finnish Institute of International Affairs [alle Rechte vorbehalten]; Porträts Julian Plottka, Sophia Russack: privat [alle Rechte vorbehalten].

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