Die Stärken der Europäischen Union liegen traditionell eher in der langfristigen als in der kurzfristigen Politikgestaltung. Mit ihrem konsensorientierten System und ihrem Fokus auf Gesetzgebung und Regulierung anstelle von punktuellen Exekutivmaßnahmen reagiert sie oft nur langsam auf veränderte Umstände. Andererseits macht dasselbe gleiche Konsenssystem sie auch weniger anfällig für plötzliche Richtungswechsel, und die gemeinsame Vision einer „immer engeren Union“ hat es ihr ermöglicht, Integrationsziele wie die Schaffung des Binnenmarktes oder die Entwicklung supranationaler Institutionen über Jahrzehnte hinweg zu verfolgen.
Doch die jüngste Häufung miteinander verknüpfter Krisen, gepaart mit innenpolitischem Druck durch Rechtsaußenparteien und Uneinigkeiten zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten, macht das langfristige Planen schwierig. In einer Zeit, in der selbst die kurzfristigen Aussichten höchst unsicher erscheinen, ist die EU gezwungen, auf Sicht zu fahren – auch wenn ihre institutionelle Infrastruktur für die dafür notwendige schnelle und reaktive Entscheidungsfindung oft schlecht gerüstet ist.
Langfristige Ziele mit kurzfristigen Erfordernissen versöhnen
Das Bemühen, diesen Herausforderungen gerecht zu werden, spiegelt sich in der Struktur und den politischen Prioritäten der neuen Europäischen Kommission von Ursula von der Leyen wider, die sich derzeit den Anhörungen im Europäischen Parlament stellen muss. Von der Leyen hat ihr Team so organisiert, dass es ein Machtzentrum um sie selbst und eine kleine Zahl von Vizepräsident:innen gibt, während sich die Ressorts der einzelnen Kommissar:innen vielfach überschneiden. Dies gibt ihr die Flexibilität, spezifische Aufgaben je nach Bedarf zuzuweisen, und trägt so zu etwas höherer Handlungsfähigkeit bei. Um andere grundlegende Unzulänglichkeiten in der Entscheidungsfindung der EU zu überwinden, werden jedoch weitere strukturelle Reformen nötig sein.
Inhaltlich ist die Agenda der Kommission von den Krisen der letzten Jahre geprägt, die häufig mit der verstärkten strategischen Konkurrenz auf globaler Ebene zusammenhängen. Dies führt zu Spannungen zwischen den kurzfristigen Prioritäten und den traditionellen langfristigen Zielen der EU – insbesondere solchen, die keinen unmittelbaren geopolitischen Nutzen abwerfen. Aber auch wenn es unvermeidlich ist, auf Sicht zu fahren, muss man sein Ziel kennen. Während die EU auf kurzfristige Erfordernisse reagiert und sich für die Bewältigung aktueller geopolitischer Krisen rüstet, muss sie sich auch der langfristigen Auswirkungen ihrer Politik bewusst sein und sicherstellen, dass ihr heutiges Handeln zu ihrer Vision für die Welt von morgen passt.
Neues FIIA Briefing Paper
In einem neuen Briefing Paper für das Finnish Institute of International Affairs werfen meine Kolleg:innen und ich einen Blick auf die Prioritäten der Kommission in fünf zentralen Politikbereichen: Wirtschaftspolitik, Klima- und Energiepolitik, Asyl- und Migrationspolitik, Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie Erweiterung und institutionelle Reformen.
Das vollständige Briefing Paper (auf Englisch) ist hier zu finden.
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