20 Oktober 2023

Das europapolitische Quartett: Neue Vorschläge zur Erweiterung und Reform der EU

Mit:
  • Minna Ålander, Finnish Institute of International Affairs, Helsinki
  • Carmen Descamps, Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft, Brüssel
  • Manuel Müller, Finnish Institute of International Affairs / Der (europäische) Föderalist, Helsinki
  • Julian Plottka, Universität Passau / Universität Bonn
  • Sophie Pornschlegel, Europe Jacques Delors, Brüssel
Dieses Gespräch entstand als Online-Chat und wurde redaktionell bearbeitet.
Hölzernes Getriebe
Damit auch eine erweiterte EU weiter funktionieren kann, ist es notwendig, ihr Getriebe zu überholen.

Manuel
Über institutionelle Reformen der EU wird schon seit der Eurokrise diskutiert, aber konkrete Vorstöße in diese Richtung blieben lange sehr zaghaft. Zuletzt hat sich das durch verschiedene Ereignisse geändert: Zum einen durch die Konferenz über die Zukunft Europas, die in ihrem Abschlussbericht im Mai 2022 mehrere Vorschläge für institutionelle Änderungen machte. Daran anschließend forderte das Europäische Parlament den Europäischen Rat im Juni 2022 offiziell auf, einen Konvent zur Vertragsreform einzuberufen. Jüngst im September hat eine Arbeitsgruppe des Verfassungsausschusses detailliert ausformulierte Änderungsvorschläge vorgelegt, über die in den nächsten Wochen erst im Ausschuss und dann im Parlamentsplenum diskutiert und abgestimmt werden soll.

Zum anderen hat der russische Angriff auf die Ukraine zu einer EU-Erweiterungsdebatte und in der Folge zu einer Diskussion darüber geführt, wie eine EU mit 30, 35 oder mehr Mitgliedern ihre Handlungsfähigkeit erhalten soll. Die deutsche und französische Regierung haben dazu im Januar 2023 eine Expertengruppe eingesetzt, die nun ebenfalls im September ihre Vorschläge vorgelegt hat. Später im Jahr will das deutsche Auswärtige Amt zu einer großen Europakonferenz einladen, um auch auf Regierungsebene voranzukommen.

Auch sonst tut sich einiges, zum Beispiel hat erst gestern eine „High-Level Group on bolstering EU Democracy“ der Thinktanks SWP und CEPS ihren Abschlussbericht vorgelegt. Die Debatte gewinnt also an Fahrt. Was haltet ihr von den Vorschlägen, die jetzt auf dem Tisch liegen?

Julian
Ich mag Deinen Optimismus, dass die Debatte an Fahrt gewinnt. Ich hoffe, Du hast Recht, sehe das aber noch nicht wirklich.

Die Debatte nimmt Fahrt auf

Sophie
Hallo zusammen! Schön, dass wir uns wieder treffen. Ich mach’s ganz kurz: Ich finde es sehr positiv, dass die Debatte Fahrt aufgenommen hat und konkrete Vorschläge vorgelegt wurden, die jetzt ernsthaft diskutiert werden können.

Aber es sind nur noch knapp acht Monate bis zur Europawahl, und ich fürchte, dass diese Reformvorschläge im Wahlkampf etwas untergehen werden. Die große Frage ist natürlich, ob nach der Europawahl die neue EU-Kommission und die nationalen Regierungen die Vorschläge weiter vorantreiben. Aber falls nach den polnischen Wahlen am letzten Sonntag Donald Tusk wieder an die Regierung kommt, könnte es tatsächlich sein, dass die EU-Reformen und die Erweiterungsdebatte konstruktiv weitergeführt werden.

Carmen
Ich stimme Julian und Sophie grundsätzlich zu, dass der neue Elan in der Reformdebatte zu begrüßen ist. An Vorschlägen mangelt es nun ja wirklich nicht, einerseits aus den Institutionen, andererseits aus den Hauptstädten und von diversen Thinktanks. Es ist sehr zu hoffen, dass dieses Momentum nun genutzt wird und nicht verpufft. Ich sehe hierin eine große Chance und würde mir wirklich wünschen, dass es zu diesen Reformen kommt. Was das genau beinhaltet, diskutieren wir ja sicher gleich noch.

Minna
Hallo auch von mir – ich kann heute leider nur zur ersten Hälfte unseres Gesprächs bleiben, weil ich gleich noch zu einer anderen Veranstaltung weiter muss.

In Finnland und Schweden spielt die Debatte um EU-Reformen momentan keine große Rolle im öffentlichen Diskurs; da ist noch alles überschattet vom NATO-Beitritt. Das könnte kontraintuitiv aber auch ein Vorteil sein: Wenn die EU in der öffentlichen Debatte nicht so präsent ist, gibt es vielleicht auch weniger Opposition zu Reformen.

Interessant ist die Rolle der Partei „Die Finnen“ in der Regierung: Einerseits sind sie europaskeptisch, andererseits ist der frühere Parteivorsitzende und jetzige Parlamentspräsident Jussi Halla-aho aber auch sehr pro-ukrainisch. Auch sonst gibt es allgemein starke Unterstützung für die Beitrittsperspektive der Ukraine – die könnte man in der Diskussion nutzen, um auch den Reformbedarf deutlich zu machen.

Eine Frage von Jahren – oder Jahrzehnten?

Julian
In der Sache ist es ja vollkommen richtig, dass eine Erweiterung der EU ohne grundlegende Reformen nicht möglich ist. Aber für eine zeitnahe Reform fehlt trotzdem der politische Druck. Wenn wir auf die Ukraine, Moldau und vielleicht bald Georgien schauen, reden wir über Zeithorizonte, die in Dekaden und nicht in Jahren zu messen sind – da lässt sich eine EU-Reform wunderbar auf die lange Bank schieben.

Denn was hat sich seit der Zukunftskonferenz geändert? Die Situation ist eher noch schwieriger geworden. Der mögliche Regierungswechsel in Polen wäre ein kleiner Lichtblick, aber den sehe ich eher in Bezug auf konkretes Policy-Making (zum Beispiel beim Klimaschutz) und weniger auf der Ebene Polity-Making.

Manuel
Als Zeithorizont für die Erweiterung hat Ratspräsident Charles Michel das Jahr 2030 ins Spiel gebracht. Klar, das ist sehr ambitioniert – aber wenn man es halbwegs ernst nimmt (was man sollte, um die Beitrittskandidaten nicht jetzt schon wieder vor den Kopf zu stoßen), muss die Debatte über die Vorbedingungen dafür quasi sofort beginnen.

In Berlin jedenfalls scheint man schon bis Ende dieses Jahres vorankommen zu wollen. Annalena Baerbock hat im September angekündigt, „noch vor dem Europäischen Rat im Dezember zu einer Europakonferenz nach Berlin ein[zu]laden, um genau das zu diskutieren, was die nötigen Schritte für uns in der Europäischen Union mit Blick auf die Erweiterung und die dafür zugrundeliegenden Reformen sind“.

Das Ziel ist also offenbar, noch rechtzeitig vor der Europawahl erste Pflöcke einzuschlagen, über die man dann diskutieren kann. Und übrigens höre ich auch aus Finnland, dass es dort gar nicht ungern gesehen würde, wenn es in der Debatte um Erweiterung und Reformen mehr „Leadership“ gäbe.

Gelegenheitsfenster

Sophie
Insgesamt ist die politische Situation sehr volatil – das kann bedeuten, dass sich auch auf einmal ein Gelegenheitsfenster öffnet und ganz schnell eine Erweiterung stattfinden soll, und dann ganz schnell auch Reformen mitgetragen werden. Das kann natürlich auch nach hinten losgehen und sehr negative Auswirkungen auf die Handlungsfähigkeit der EU haben. Mein Punkt ist: Wir wissen nicht, welche politische Dynamik sich in den nächsten Jahren entwickelt, auch wenn es bisher nicht so scheint, als gäbe es viel politischen Willen für Reformen.

Die größte Gefahr ist aus meiner Sicht, dass es zu einer Erweiterung ohne Reformen kommt – was daraus hinauslaufen würde, dass die EU nicht mehr entscheidungsfähig ist.

Minna
Ja, da stimme ich Sophie zu. Es gibt sehr wohl die Möglichkeit, dass externe Ereignisse die EU einholen – und dann muss man einfach machen, ob die Debatte nun ausreichend geführt worden ist oder nicht. Das Resultat könnte dann klassisch suboptimal sein.

Manuel
„Failing forward“ nennt man das heutzutage... 😉

Julian
Ein solches Gelegenheitsfenster setzt aber ein Ende des Krieges in der Ukraine und eine Lösung mit festen Grenzen voraus. Die Bedingung, dass die EU keine Staaten mit (Grenz-)Konflikten aufnimmt, wird mit Sicherheit nicht aufgegeben – berechtigterweise. Allein das wird den Beitrittsprozess erheblich verzögern.

Der andere Grund, warum ich bei einer Zielmarke 2030 skeptisch bin, sind die Erfahrungen mit Bulgarien und Rumänien. Auch hier denke ich, dass das Diktum „keine Abkürzungen mehr“ erhalten bleibt. Nur noch sieben Jahre für die Reformen in der Ukraine ist echt knapp.

Andererseits stimme ich voll und ganz zu, dass ein längerer Zeithorizont auch die Gefahr erhöht, dass es zu Enttäuschungen und Reformermüdung in der Ukraine und Moldau kommt.

Die EU erweiterungsfähig machen

Manuel
Wenigstens bei der deutschen Bundesregierung scheint mir die Haltung sehr klar zu sein, dass man die Erweiterung ernst nimmt und deshalb will, dass sich die EU so schnell wie möglich selbst in einen Zustand versetzt, in dem sie andere Länder aufnehmen kann. Wenn dann die Reformen in der Ukraine, Moldau oder anderswo länger dauern, dann ist das eben so – aber wenn es in diesen Ländern Fortschritte gibt, dann soll die Erweiterung nicht an der EU selbst scheitern.

Die Frage ist natürlich, ob andere Regierungen, von denen manche ja ohnehin auch zu einer Erweiterung ohne Reformen bereit wären, sich auf diese Logik einlassen werden.

Carmen
Sophies Punkt, dass es keine Erweiterung ohne Reformen geben darf, weil die EU sonst nicht mehr handlungsfähig wäre, ist ja auch nicht neu. Ex-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte das schon für die Legislaturperiode 2014-2019 unterstrichen.

Seitdem ist noch nicht so viel passiert an der Reformfront – obwohl es an den von Minna erwähnten „externen Ereignissen“ derzeit ja wirklich nicht mangelt!

Sophie
In die Kristallkugel zu schauen ist immer schwierig. Wichtig ist aber, dass die Reformvorschläge jetzt existieren und bereits ernsthaft und auf höchstem Niveau diskutiert werden. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass – falls es ein Gelegenheitsfenster gibt – die Reformvorschläge nicht hinten runterfallen und nur auf Erweiterung gesetzt wird. Das werden ja so oder so schon schwierige Prozesse.

Minna
Da stimme ich zu – und damit muss ich mich leider schon wieder verabschieden. Macht’s gut und bis zum nächsten Mal! 👋

Reformprioritäten

Manuel
Schauen wir noch mal auf die Reformvorschläge selbst. Im Mittelpunkt der Debatte steht vor allem der Übergang zu mehr Mehrheitsentscheiden, aber auch die Mechanismen zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit. Geht es nach dem Europäischen Parlament, sollen außerdem auch die repräsentative und die direkte Demokratie auf EU-Ebene gestärkt werden, zum Beispiel bei der Wahl der Kommission oder in Form von europaweiten Referenden. Was sind aus eurer Sicht die wichtigsten Bereiche, in denen die EU institutionellen Reformbedarf hat?

Sophie
Das ist keine einfache Frage, weil natürlich alle Reformen wichtig sind. Trotzdem möchte ich zwei Punkte hervorheben: Erstens ist es wichtig, dass in Zukunft die Grundwerte der EU nicht mehr mit Füßen getreten werden – also dass es Mechanismen gibt, die es autoritären Herrschern wie Viktor Orbán nicht mehr erlauben, als gleichwertiger Partner gesehen zu werden und EU-Entscheidungen blockieren zu können, obwohl sie schon längst den Club der Demokratien verlassen haben. Das bedeutet eine Reform von Artikel 7, aber auch stärkere Konditionalitäts- und womöglich Sanktionsmechanismen zum EU-Budget.

Zweitens bin ich grundsätzlich der Meinung, dass es mehr Möglichkeiten geben sollte, Initiativen auch mit einer „Koalition der Willigen“ voranzubringen, vor allem wenn die EU in Zukunft mehr als 30 Mitgliedstaaten hat. Wie genau das möglich ist, ohne die Institutionen zu schwächen, ist natürlich die Frage, auf die ich noch keine zufriedenstellende Antwort gefunden habe.

Europäische Demokratie und Unionsbürgerrechte

Julian
Ich stimme zu. Außerdem ist natürlich die Stärkung der europäischen Demokratie ein Evergreen. Jenseits des Übergangs zu Mehrheitsentscheidungen (bei dem Demokratie und Handlungsfähigkeit Hand in Hand gehen) wird es allerdings schwierig zu erklären, warum mehr Demokratie die Effizienz der EU erhöht und deshalb für die Erweiterung notwendig ist.

Carmen
Manuel, du stellst uns hier eine Gretchenfrage. Jenseits der üblichen Verdächtigen wie der Ausweitung der Mehrheitsentscheide gibt es noch einen weiteren Punkt, der in der Agenda nicht so weit oben steht, aber mir persönlich eine Herzensangelegenheit ist – nämlich die Unionsbürgerrechte. Nachbesserungsbedarf besteht hier vor allem noch beim Wahlrecht für mobile Unionsbürger:innen, also denjenigen EU-Bürger:innen, die in einem anderen Mitgliedstaat als in ihrem Herkunftsland leben. Aus unserer beschaulichen Quartett-Runde trifft das immerhin auf 60% zu, was im Vergleich zur EU-Bevölkerung natürlich weit überproportional ist.

Manuel
Ja, aber du hast schon Recht: Auch auf die Gesamtbevölkerung bezogen ist der Anteil der mobilen Bürger:innen nicht trivial. 2020 waren immerhin rund 3,3 Prozent der Unionsbürger:innen im Erwerbsalter betroffen, mit steigender Tendenz.

Welche Rolle für die Europäische Politische Gemeinschaft?

Julian
Aus drei Gründen würde ich außerdem noch die Außenbeziehungen der EU als weiteres wichtiges Reformthema ergänzen. (Ich schreibe hier bewusst Außenbeziehungen und nicht GASP oder GSVP, weil meiner Ansicht nach eine der Herausforderungen gerade mehr Kohärenz zwischen den unterschiedlichen Politikinstrumenten in den Außenbeziehungen ist.)

Der erste Grund ist schlichtweg der dringende Reformbedarf, der seit Jahren außer Frage steht. Der zweite ist die Verknüpfung der Reformen mit der Erweiterungsdebatte. Wenn die anstehende Erweiterung der Anlass für Reformen ist, dann muss es bei den Reformen eben auch um den Politikbereich gehen, der für die Beitrittsstaaten besonders wichtig ist – die ja zum großen Teil aus geopolitischen Gründen in die EU wollen.

Der dritte Grund ist, dass wie schon 2004 eine kommende Erweiterung die Nachbarschaft der EU verändern wird und die Außenbeziehungen zur direkten Nachbarschaft neu geordnet werden müssen. Die deutsch-französische Expertengruppe hat in diesem Zusammenhang die Europäische Politische Gemeinschaft als Lösung vorgeschlagen. Wie seht ihr das?

Sophie
Da sprichst du einen wichtigen Punkt an. Grundsätzlich fand ich die Idee der Europäischen Politischen Gemeinschaft gut, weil dadurch ein Forum entsteht, wo sich alle Regierungen treffen und austauschen können. Es gab ja bereits die Kritik, dass das nichts als ein talking shop sei. Aber das kommt auf die Erwartungshaltung an. Aus meiner Sicht hat es bereits einen Mehrwert, wenn die EU dadurch wieder regelmäßiger mit Großbritannien spricht – nach dem Brexit sind ja viele Kommunikationskanäle weggefallen. Austausch und Dialog auf höchster Ebene sollte niemals unterbewertet werden, auch wenn nicht gleich eine politische Initiative daraus entsteht.

Problematisch ist allerdings, dass die EU in ihrer Nachbarschaftspolitik keine kohärente Strategie fährt – und es auch keine Alternative zum EU-Beitritt gibt, die für die Länder in der Nachbarschaft attraktiv genug ist.

Carmen
Grundsätzlich finde ich die EPG auch eine gute Idee, die in ihrer Konzeption Staaten um einen Tisch bringt, die sonst kein solches Forum hätten – Großbritannien und die EU, aber auch Drittstaaten wie Aserbaidschan und Armenien. Nach dem Treffen in Granada am 5. Oktober sind meine Erwartungen aber offen gestanden etwas gedämpft. Aber vielleicht bin ich da auch zu ergebnisfokussiert; die EPG-Gipfel sollen ja vor allem ein Forum für Austausch bieten.

Julian
Viele Regierungen scheinen in der fehlenden Zielorientierung sogar gerade den Wert der EPG zu sehen, weil sie von dem ständigen Zwang zu Ergebnissen in anderen Formaten der Nachbarschaftspolitik überfordert sind.

Neuerfindung der Nachbarschaftspolitik

Manuel
Viele der Länder, die an der EPG beteiligt sind, sind allerdings selbst Beitrittskandidaten. Wenn die Erweiterungspolitik ein voller Erfolg ist, dann könnten bald alle demokratischen Staaten im östlichen Europa der EU angehören, und die verbleibenden Nachbarn wären Länder wie die Türkei oder Aserbaidschan. Das würde in der Tat eine Neuerfindung der Nachbarschaftspolitik nötig machen – aber braucht es dafür auch institutionelle Reformen?

Julian
Eine Frage ist, ob die Nachbarschaftspolitik von den supranationalen Politiken zur intergouvernementalen GASP wechseln sollte, weil sie nun zur originären Außenpolitik wird.

Bisher ist die Nachbarschaftspolitik – vor allem da, wo sie erfolgreich war – als external governance der EU angelegt: Die Nachbarstaaten sollen partiell in den Rechtsrahmen der EU integriert werden. Die große Frage ist, ob das in Zukunft noch funktionieren würde. Die Expertengruppe scheint das partiell zu glauben, denn das Papier positioniert die EPG zwar außerhalb der Rechtsunion, macht dann aber in einigen Politikbereichen doch Vorschläge für eine Institutionalisierung, was ohne eine Anwendung von EU-Recht nicht geht.

Angesichts der potenziellen Adressaten der Nachbarschaftspolitik in einer erweiterten Union ist zweifelhaft, ob diese Staaten dazu bereit wären. Wenn nicht, brauchen wir eben einen neuen Ansatz, der die Nachbarschaftsbeziehungen als klassische Außenpolitik sieht, weil die Partner dort bei einer auch nur partiellen Integration nicht mitgehen. Damit stellen sich meiner Meinung nach grundlegende Fragen der außenpolitischen Zuständigkeiten, die auch institutionelle Reformen nötig machen.

Petrifizierte Verfassung

Manuel
Ein anderes Thema, das mich selbst in letzter Zeit viel beschäftigt, ist die Frage, welche Reformen eigentlich nötig wären, um die Reformierbarkeit der EU selbst zu verbessern. Selbst heute noch wird die Debatte über institutionelle Reformen oft mit dem Argument abgewürgt, dass das Verfahren dafür „zu aufwendig“ ist, in eine jahrelange „Nabelschau“ münden oder gar „die Büchse der Pandora öffnen“ würde. Das ist kein tragbarer Zustand, denn wenn sich die EU-Verträge nicht mehr reformieren lassen, kann die EU ihren institutionellen Rahmen auch nicht mehr an neue Herausforderungen anpassen.

Ursache dieser petrifizierten Verfassung sind die hohen Hürden einer Vertragsänderung – Einstimmigkeit unter den Regierungen, gefolgt von einer Ratifikation durch jeden einzelnen Mitgliedstaat, teilweise sogar per Referendum. Der Entwurf des Europäischen Parlaments schlägt deshalb vor, die Verfahren zur Vertragsänderung zu erleichtern, sodass für eine Reform künftig nur noch vier Fünftel der Mitgliedstaaten zustimmen und ratifizieren müssten. Das könnte allerdings in vielen Ländern Probleme mit der nationalen Verfassung geben – auch in Deutschland insistierte das Bundesverfassungsgericht ja im Lissabon-Urteil auf der nationalen „Kompetenz-Kompetenz“.

Eine Alternative könnte mehr differenzierte Integration sein, aber das ist, wie Sophie oben schon geschrieben hat, sehr schwierig, ohne die bestehenden supranationalen Institutionen zu schwächen.

Carmen
Ich halte die Möglichkeit und aktive Nutzung differenzierter Integration jedenfalls für sehr sinnvoll. Das wird in einigen Mitgliedstaaten nicht gern gesehen, da man befürchtet, außen vor gelassen zu werden. Aber die Option, sich an bestimmten EU-Politiken zu beteiligen, steht ja grundsätzlich jedem Mitgliedstaat offen. Daher sehe ich das Problem nicht und halte differenzierte Integration für ein sehr gutes Mittel, um als EU30+ zu agieren. „One size fits all“ bringt uns nicht weiter.

Zukunft der differenzierten Integration

Manuel
Die deutsch-französische Expertengruppe hat dazu ja auch den Vorschlag gemacht, notfalls mithilfe von „Ergänzungsverträgen“ voranzugehen – ähnlich dem „Zusatzvertrag“-Modell, das ich selbst letztes Jahr hier in einem unserer europapolitischen Quartette beschrieben habe. Nach diesem Modell könnte zum Beispiel eine Gruppe von Ländern unter sich vereinbaren, künftig auf die Ausübung ihres Vetorechts im EU-Rat zu verzichten. Außerdem könnte diese innere Gruppe ein eigenes Budget haben (was die Beteiligung daran attraktiver machen würde) und auch in anderen Fragen wie dem Wahlrecht für mobile Bürger:innen vorangehen.

Damit das funktioniert, müsste ein solcher Zusatzvertrag europarechtliche Qualität haben, sodass die Vereinbarungen darin vor dem EuGH einklagbar sind. Das geht nur, wenn die anderen Mitgliedstaaten es zulassen – allerdings hätten die dadurch ja nicht viel zu verlieren, weil sich an ihrem eigenen Status erst einmal nichts ändert. Die eigentliche Herausforderung wäre deshalb wohl nur, eine gewisse Mindestanzahl an Staaten zu finden, die bereit sind, den Schritt zur Gründung einer solchen Avantgarde mitzugehen. Ich bin mir nicht sicher, ob Deutschland und Frankreich selbst davon so begeistert sind.

Julian
Auch wenn differenzierte Integration meistens als (Notfall-)Instrument zur Steigerung der Entscheidungseffizienz gesehen wird, ist es meiner Ansicht nach wichtig, auch die demokratische Seite nicht zu vergessen. Wenn die legitimatorische Funktion von differenzierter Integration allein darin bestehen soll, dass jeder Mitgliedstaat nur machen muss, was er möchte, enden wir beim Rosinenpicken und letztlich im Chaos.

Deshalb kann es aus meiner Sicht Differenzierung nicht politikbereichsweise geben, sondern nur in Form von klaren, transparenten Stufen – andernfalls wird es für die Bürger:innen vollkommen unübersichtlich. Je Stufe muss ein Gleichgewicht von Rechten und Pflichten definiert werden. Der Vorschlag der Expertengruppe geht ja in diese Richtung.

Sophie
Ich finde das Zusatzvertrag-Modell spannend, kann dir bei dem letzten Punkt aber nicht komplett zustimmen, Julian. Realistischerweise wird es eine differenzierte Integration nach Politikbereichen geben, denn ich kann mir kaum vorstellen, wie sich die Mitgliedstaaten in „Stufen“ einsortieren sollten. Auch die Länder, die an einer differenzierten Integration interessiert wären, haben ja ihre Politikbereiche, in denen sie auf keinen Fall ihr Veto aufgeben wollen – sei es Frankreich in der Agrarpolitik oder Irland in der Steuerpolitik.

Julian
Ja, ich fürchte, da hast Du Recht. 🙄

Sophie
Und leider ist das politische System der EU für die Bürger:innen ja schon jetzt ziemlich unübersichtlich – schon allein, weil es nicht nur die verschiedenen Institutionen gibt, sondern auch ganz unterschiedliche Formen von Kompetenzen und Verfahren. Das sollte aber natürlich kein Argument sein, jetzt alles noch komplexer zu gestalten als unbedingt nötig.

Kein Allheilmittel

Carmen
Julian hat aber schon Recht, dass man genau darauf achten muss, wie differenzierte Integration ausgestaltet wird. Heutzutage ist das ja ein Schlagwort, das von manchen geradezu als Allheilmittel für die Politiksklerose der EU beschrieben wird. Vor allem, weil es gerade Europaverfechter:innen wie uns bei der Integration nie schnell und tief genug gehen kann. 😉

Wie man sich wirklich auf solche Zusatzverträge einigt, sehe ich noch nicht ganz – aber ich lasse mich da gern eines Besseren überzeugen. Eine Chance sehe ich in der Möglichkeit schon, aber es darf nicht zu einer Zwei-Klassen-EU führen.

Sophie
Naja, das wäre ja nur eine Fortführung der verschiedenen Klassen in den Zügen für die Europaabgeordneten und ihre Assistent:innen, wenn sie monatlich nach Straßburg fahren. 😅

Carmen
Oder nach Disneyland … 🚄

Institutionelle Erosion?

Manuel
Meine Sorge bleibt, dass wir – wenn es uns nicht gelingt, in Sachen Reformierbarkeit Fortschritte zu machen – bald über eine unkontrollierte Differenzierung, über eine institutionelle Erosion und letztlich auch wieder über Desintegration sprechen werden.

Die externen Bedingungen, um sich auf institutionelle Reformen zu einigen, werden ja nicht besser, sondern auf absehbare Zeit eher schlechter. Die erhöhte geopolitische Unsicherheit, der Aufstieg rechter Parteien, die Demokratiekrise in vielen Mitgliedstaaten, der Klimawandel und seine gesellschaftlichen Folgen: All das wird einen Konsens in der EU in Zukunft nur noch schwieriger machen als heute. Wenn wir also selbst jetzt, im Angesicht all dieser Krisen, nach der EU-Zukunftskonferenz und mit der Erweiterung vor Augen, in institutionellen Fragen nicht vorankommen – wann dann?

Jetzt brauchen wir aber bitte noch ein optimistisches Schlusswort …

Sophie
Ich habe eins: Die politische Unsicherheit führt dazu, dass manchmal auch positive Veränderungen sehr schnell passieren können. Ich gebe zu, dass das in letzter Zeit grundsätzlich eher selten der Fall ist, aber aufgrund der polnischen Wahlergebnisse diese Woche bin ich gerade hoffnungsvoll gestimmt. Und deshalb denke ich schon, dass die Reformvorschläge mindestens eine Chance haben.


Carmen Descamps ist Fachgebietsleiterin für europäische Energie- und Digitalthemen beim Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) in Brüssel.

Die Beiträge geben allein die persönliche Meinung der jeweiligen Autor:innen wieder.

Frühere Ausgaben des europapolitischen Quartetts sind hier zu finden.


Bilder: Hölzernes Getriebe: Manuel Müller [alle Rechte vorbehalten]; Porträt Carmen Descamps: Life Studio [alle Rechte vorbehalten]; Porträts Minna Ålander, Manuel Müller: Finnish Institute of International Affairs [alle Rechte vorbehalten]; Porträts Julian Plottka, Sophie Pornschlegel: privat [alle Rechte vorbehalten].

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