- Matteo Renzi könnte über das Referendum am 4. Dezember stürzen. Aber seine Verfassungsreform ist für die EU auch noch aus anderen Gründen interessant.
Am
4. Dezember wird die italienische Bevölkerung per Referendum über
eine große Verfassungsreform abstimmen, und der Rest von Europa
macht sich schon einmal auf das Schlimmste gefasst. Denn die Umfragen
schwanken derzeit zwischen
einem knappen und einem deutlichen Nein, und der italienische
Ministerpräsident Matteo Renzi (PD/SPE) hat mehrfach angekündigt,
dass er bei einer Niederlage vom Amt zurücktreten wird. In diesem
Fall aber drohen Neuwahlen, bei denen das populistische Movimento
Cinque Stelle (M5S/–) im italienischen Abgeordnetenhaus (Camera
dei Deputati) die absolute Mehrheit gewinnen könnte.
In
der zweiten Parlamentskammer, dem Senat (Senato
della Repubblica), käme es
hingegen wahrscheinlich zu einem Patt zwischen Renzis
PD, dem
M5S und einem Rechtsbündnis
aus Lega Nord (LN/BENF) und Forza Italia (FI/EVP). Alle
drei Lager sind sich in herzlicher Abneigung verbunden.
Und da der
italienische Regierungschef
für seine Wahl das
Vertrauen von beiden
Kammern benötigt,
wäre mit einer
tiefgreifenden Blockade zu
rechnen, für die derzeit
keine Lösung in Sicht ist: Sollte
es im Abgeordnetenhaus eine
absolute Mehrheit gewinnen,
würde am M5S zwar kein Weg vorbeiführen. Doch da es bis jetzt
jegliche Zusammenarbeit mit anderen Parteien auf nationaler Ebene stets abgelehnt hat, ist
auch nicht
absehbar, wie es im Senat die nötigen Stimmen für eine
Amtseinführung seines Spitzenkandidaten erreichen könnte.
Zwei-Kammer-Systeme
Die
Ironie der Geschichte ist,
dass die Verfassungsänderung
(die unter anderem vom M5S, FI, LN und einer Minderheit im PD abgelehnt wird) eigentlich
gerade solche Blockaden
zwischen den beiden
Parlamentskammern
verhindern soll
– indem der Senat nämlich künftig
sein Mitspracherecht bei der Ernennung der Regierung verlieren würde.
Auch sonst soll die Reform
das Machtgleichgewicht im
Zwei-Kammern-System zugunsten
des Abgeordnetenhauses
verschieben. Damit würde ein
Sonderweg beendet, durch den
sich Italien derzeit von allen anderen EU-Mitgliedstaaten
unterscheidet.
- Zwei-Kammer-Systeme (blau) gibt es nicht nur in Europa, sondern weltweit. Aber meistens sind sie asymmetrisch.
Tatsächlich
haben die meisten europäischen Länder heute ein Parlament mit zwei
Kammern. Die
erste von ihnen ist in der
Regel direkt von der
Bevölkerung gewählt, ernennt
die Regierung und
hat oft auch bei der
Gesetzgebung das entscheidende Wort.
Die zweite Kammer hingegen
repräsentiert
meist die
Regionen oder Kommunen: Die
Mitglieder des französischen
Senats
zum Beispiel werden indirekt
durch Gemeindevertreter gewählt, die
des österreichischen
Bundesrats
durch die Regionalparlamente ernannt, die
des deutschen
Bundesrats durch die
Regionalregierungen entsendet.
Gleichzeitig
hat die zweite Kammer in
der Regel weitaus weniger zu
sagen: Sie ist nicht an der
Regierungswahl beteiligt und kann oft
(etwa in Frankreich oder
Spanien) auch in der Gesetzgebung von der ersten Kammer überstimmt
werden. Ihre Hauptaufgabe
ist es, strittige Gesetzesvorhaben
zu bremsen, um dadurch eine
breitere öffentliche Debatte anzuregen – nicht
aber, sie
zu blockieren oder
die Regierung handlungsunfähig zu machen.
Echte Mitspracherechte haben
die zweiten Kammern hingegen
meist nur
in bestimmten, klar
umgrenzten Fragen, etwa wenn
es um regionale Belange geht.
Die
Schwächen des „perfekten Bikameralismus“
In
Italien hingegen herrscht
bislang der sogenannte bicameralismo perfetto –
ein „perfektes
Zwei-Kammern-System“, in dem das
Abgeordnetenhaus und der Senat exakt dieselben Kompetenzen
besitzen. Sowohl bei der
Ernennung der Regierung als auch bei der Gesetzgebung müssen deshalb
beide Kammern immer erst auf
eine Linie kommen;
und sobald eine der beiden Kammern der Regierung
das Misstrauen ausspricht,
muss diese zurücktreten. Der
einzige wichtige
Unterschied besteht im
jeweiligen Wahlsystem: Während
im
Abgeordnetenhaus ein Mehrheitsbonus für die landesweit
stärkste Partei vorgesehen ist, wird
der Senat auf regionaler
Ebene gewählt
und hat deshalb meist weniger
klare parteipolitische
Mehrheiten.
Doch
so schön dieser „perfekte
Bikameralismus“ dem Namen nach klingt, so problematisch
erwies er sich in der Praxis. Denn
das ständige Hin und Her zwischen den Kammern macht nicht nur das
italienische Gesetzgebungsverfahren
ausgesprochen schwerfällig.
Es erzwingt
auch bei
der Regierungsbildung oft
große
Viel-Parteien-Koalitionen,
da nur diese in der Lage
sind, die notwendigen Mehrheiten in
beiden Kammern zu sichern.
Zusammen mit einem Wahlrecht, das lange Zeit die Bildung von Klein-
und Kleinstparteien
förderte, führte dies
jahrzehntelang zu äußerst
instabilen Regierungen. Einen Extremfall bildete 2006-08 die Regierung unter Romano Prodi (parteilos), die sich auf mehr als ein Dutzend verschiedener Parteien stützte und schließlich fiel, weil eine einzige von ihnen aus der Koalition ausscherte. Aber auch sonst beträgt die durchschnittliche Amtszeit italienischer Regierungschefs seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs weniger als zwei Jahre.
Die
Personalisierung könnte Renzis größter Fehler sein
Schon in den 1980er und 90er Jahren gab es deshalb verschiedene
Reformversuche, um den Einfluss des Senats auf die Wahl der Regierung
und die Gesetzgebung zu reduzieren. Italien ist damit Teil eines
europaweiten
Trends zur Schwächung der zweiten Kammern, in den sich zum
Beispiel auch die deutsche
Föderalismusreform von 2006 einfügt. Allerdings war noch keiner
der bisherigen italienischen Ansätze zur Überwindung des perfekten
Bikameralismus so weit gekommen wie der aktuelle Versuch der
Regierung Renzi.
Dass Renzi den Erfolg des Referendums so stark mit seiner eigenen
politischen Zukunft verbunden hat, könnte nun allerdings nicht nur
für ihn, sondern auch für die Reform selbst zum Verhängnis werden.
Denn je stärker die Reform mit Renzis Person verknüpft wurde, desto
vehementer wurde der Widerstand der Opposition und seiner
parteiinternen Gegner. Und auch in der Bevölkerung genießen
die Reforminhalte größeren Rückhalt als Renzi selbst. Im
Augenblick scheint deshalb ein Scheitern des Referendums
wahrscheinlicher als ein Erfolg – was nicht nur für das politische
System Italiens ein Rückschlag wäre, sondern auch für die EU, die
sich auf einen neuen Krisenherd im Süden des Kontinents einstellen
müsste.
Auch
die EU hat einen fast „perfekten“ Bikameralismus
Die italienische Verfassungsdebatte ist für die EU allerdings auch
noch aus einem anderen Grund von Interesse. Denn tatsächlich ist
Italien nicht der einzige Fall von „perfektem Bikameralismus“ in
Europa. Auch das politische System der EU selbst besteht aus zwei
Kammern (dem Europäischen Parlament und dem Rat), die wenigstens im
ordentlichen
Gesetzgebungsverfahren nahezu identische Mitspracherechte haben.
Und auch im politischen System der EU kann die „Regierung“ (die
Europäische Kommission) ihr Amt nur antreten, wenn sie sowohl vom
Rat als auch vom Europäischen Parlament gewählt worden ist.
Sicher, das Verhältnis zwischen Europäischem Parlament und Rat ist
nicht ganz so exakt symmetrisch wie das zwischen den beiden
italienischen Kammern. So gibt es bis heute einige Politikbereiche
wie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, in denen der Rat
alleine die Richtung vorgibt. Und auch im ordentlichen
Gesetzgebungsverfahren gibt es kleine Asymmetrien: Beispielsweise
muss der Rat Änderungsvorschläge des Parlaments explizit billigen;
Änderungen des Rates können hingegen auch dann in Kraft treten,
wenn das Parlament sich dazu nur nicht äußert. Trotzdem: Insgesamt
hat die EU in Sachen Bikameralismus einige Ähnlichkeiten mit Italien
– sodass sich aus dem Vergleich der beiden Systeme einige Lektionen
ziehen lassen.
Schwerfälligkeit
der Gesetzgebung
Was etwa die Schwerfälligkeit der Gesetzgebung betrifft, leiden
beide Systeme an ähnlichen Problemen. Sowohl in Italien als auch auf
europäischer Ebene dauern Gesetzgebungsverfahren oft recht lange und
können von einem großen Teil der Bevölkerung nicht oder nur mit
großer Mühe nachvollzogen werden.
Ein gewisser Unterschied besteht dabei allerdings in der politischen
Kultur: Während in Italien der Umgang der Parteien miteinander eher
konfrontativ ist, dominiert auf EU-Ebene meist das
Ziel des Kompromisses. In Italien nutzen die politischen Akteure
deshalb immer wieder Verfahrensfallstricke
zur Obstruktion von Gesetzgebungsvorhaben. In der EU hingegen
wird das komplexe Ping-Pong-Verfahren zwischen den beiden Kammern
meistens durch informelle
Methoden abgekürzt – was die Gesetzgebung beschleunigt, aber
auch weniger transparent macht.
Die
Stabilität der EU-Kommission
Ein auffälliger Unterschied zwischen Italien und der EU zeigt sich
darüber hinaus bei der Stabilität der Regierungen. In beiden
Systemen braucht der Regierungschef (bzw. Kommissionspräsident) die
Zustimmung beider Kammern, um sein Amt antreten zu können – ein
Modell, das es so kaum irgendwo sonst gibt. Doch während dies in
Italien traditionell zu instabilen und kurzlebigen Regierungen
geführt hat, sitzt die Europäische Kommission in der Regel sehr
fest im Sattel.
Der Grund dafür ist, dass die Kommission, sobald sie erst einmal
gewählt ist, bis zum Ablauf ihrer fünfjährigen Amtsperiode kaum
abgesetzt werden kann. Während in Italien das Misstrauen einer
einfachen Mehrheit in einer der beiden Kammern genügt, um die
Regierung zu stürzen, kann die Kommission nur nach Art.
234 AEUV durch eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Europäischen
Parlament zum Rücktritt gezwungen werden. Die Kommission könnte
also sogar dann im Amt bleiben, wenn sie eine absolute Mehrheit in
Parlament und Rat gegen sich hätte.
Stabilität
um den Preis demokratischer Legitimität
Hinzu kommt, dass das italienische Parlament recht leicht durch den
Staatspräsidenten aufgelöst werden kann. Die Wahlperiode des
Europäischen Parlaments hingegen beträgt unabänderlich fünf
Jahre. Während in der italienischen Politik deshalb zur Überwindung
verfahrener Situationen häufig vorgezogene Neuwahlen angesetzt
werden, ist die EU gezwungen, politische Krisen innerhalb der
Institutionen zu lösen. Auch dies fördert letztlich eine höhere
Stabilität.
Doch diese höhere Stabilität der EU-Institutionen ist – gerade im
Fall der Kommission – um den Preis einer niedrigeren demokratischen
Legitimität erkauft. Dass sich die Kommission, einmal im Amt, bis zum
Ende der Wahlperiode kaum zur Verantwortung ziehen lässt,
bedeutet eben auch, dass sie sich bei der Umsetzung ihrer Agenda nur
schwer auf ein politisches Mandat durch die Wahlbürger berufen kann.
Letztlich ist die Europäische Kommission deshalb als Institution
nicht weniger schwach als die italienische Regierung. Sie ist es nur
auf eine andere Weise.
Die
Alternative der USA
Gäbe es Alternativen? Ein interessantes Modell für einen weitgehend
symmetrischen (wenn auch nicht „perfekten“) Bikameralismus bieten
die USA. Auch hier müssen Gesetze immer durch beide Kammern
verabschiedet werden, was vor allem in jüngerer Zeit oft zu
parteipolitischen Blockaden geführt hat. Doch ähnlich wie die EU
ist das US-System recht stabil, da die Regierung kaum vom Parlament
abhängig ist: Der Präsident hat zahlreiche eigene Befugnisse, die
er auch ohne Zustimmung des Parlaments ausüben kann, und für seine
Amtsenthebung
gibt es hohe Hürden, unter anderem eine Zwei-Drittel-Mehrheit im
Senat.
Auch der US-Präsident kann also gegen parlamentarische Mehrheiten
regieren – so wie es derzeit Barack Obama tut, dessen Demokratische
Partei weder im Abgeordnetenhaus noch im Senat eine Mehrheit hat.
Trotzdem leidet der US-Präsident nicht an demselben
Legitimitätsdefizit wie die Europäische Kommission: Er wird direkt
gewählt und kann sich deshalb unabhängig von den
Parlamentsmehrheiten auf ein eigenes demokratisches Mandat berufen.
Eine
Direktwahl des Kommissionschefs hätte wenig Sinn
Tatsächlich wurde die Einführung eines Präsidentialsystems mit
einem direkt gewählten Regierungschef nach US-Vorbild
auch in Italien in der Vergangenheit immer wieder diskutiert. Unter
anderem strebte Silvio Berlusconi (FI/EVP) während seiner Amtszeit
als Ministerpräsident ein
derartiges Modell an. Und auch in der EU wurde verschiedentlich
vorgeschlagen, den Kommissionschef künftig direkt von der
Bevölkerung wählen zu lassen; insbesondere Wolfgang Schäuble
(CDU/EVP) machte sich immer wieder für
diesen Vorschlag stark.
Warum das in meinen Augen keine gute Idee wäre, habe ich auf
diesem Blog bereits vor einigen Jahren dargelegt. Der
Kommissionschef hat bis heute viel weniger Kompetenzen als etwa der
US-Präsident. Ihn mit der Legitimität einer Direktwahl
auszustatten, ist nur dann sinnvoll, wenn man auch den Rest des
politischen Systems der EU auf eine starke, hierarchische Exekutive
hin umkrempelt – was viele der existierenden Ansätze zu einer
parlamentarischen Demokratie, die sich vor allem auf die europäischen
Parteien stützt, wieder zerstören würde.
Den
„perfekten Bikameralismus“ überwinden
Die beste Lösung ist deshalb wohl für die EU wie für Italien, den
„perfekten Bikameralismus“ zu überwinden. Dafür müsste die
zweite Kammer – der italienische Senat bzw. der Rat der EU – ihre
Blockademacht bei der Gesetzgebung verlieren und die Regierung bzw.
die Kommission künftig nur noch der direkt gewählten ersten
Kammer – dem italienischen Abgeordnetenhaus bzw. dem Europäischen
Parlament – gegenüber verantwortlich sein.
Dieses Ziel bleibt die Mühe wert. Selbst wenn das Referendum am 4. Dezember scheitert und wir dann, in
Italien wie in der EU, erst einmal ganz andere Sorgen haben werden.