- Jean-Claude Juncker will, dass seine Kommission künftig noch politischer wird. Aber was heißt das eigentlich?
„Die
Kommission ist politisch. Und ich will, dass sie noch politischer
wird. Tatsächlich wird sie sehr politisch sein.“
Mit
diesen Worten wandte sich Jean-Claude Juncker (CSV/EVP)
am vergangenen 15. Juli in seiner Bewerbungsrede
an das Europäische Parlament, das ihn wenig später zum
Kommissionspräsidenten wählte. Seitdem gehört die „politische
Kommission“ zu den beliebtesten Brüsseler Schlagwörtern,
gleichermaßen populär bei Unterstützern
wie Gegnern
Junckers.
Und wie das mit
Schlagwörtern so ist – schon nach kurzer Zeit versteht darunter
jeder das, was er selbst will. Manchmal scheint es lediglich ein
Synonym für eine bessere Medienstrategie zu sein: In einer
„politischen Kommission“, so war in den letzten Monaten zum
Beispiel zu lesen, begründen die
Kommissare ihre Vorschläge in Pressekonferenzen selbst, statt
das ihren Sprechern zu überlassen. Eine „politische Kommission“
muss Vorwürfe, die
sie für unbegründet hält, nicht einfach hinnehmen. Eine
„politische Kommission“ darf sich
aber auch nicht wegducken, wenn an einem Vorwurf vielleicht mal etwas
dran ist. Andere Male hingegen erweckt der Begriff spezifische
inhaltliche Erwartungen – und bisweilen komplett gegensätzlicher
Natur: Für die einen etwa soll eine „politische Kommission“ bei
der Durchsetzung der Euro-Defizitregeln gefälligst
eine harte Gangart einschlagen. Für die anderen wäre die
Kommission hingegen gerade dann „politisch“, wenn sie den
Mitgliedstaaten in
der Haushaltspolitik einen
größeren Gestaltungsspielraum einräumt.
Einigkeit scheint nur
darin zu bestehen, dass man mit einer „politischen Kommission“
hohe Ansprüche an Juncker und sein Team verbindet. Aber hat der
Ausdruck darüber hinaus auch noch eine konkrete Bedeutung? Wie
lässt sich Junckers Ankündigung vom 15. Juli wirklich verstehen?
Und was hat er bis jetzt getan, um sie in die Tat umzusetzen?
Binnenhierarchisierung
durch die Vizepräsidenten
Blickt man zurück, wie
die Popularisierung des Begriffs nach der Europawahl ihren Anfang
nahm, so stößt man auf eine Rede
von Pierre Moscovici (PS/SPE) von Mitte Juni. Moscovici, der
damals kurz davor war, von der französischen Regierung als
Kommissionsmitglied nominiert zu werden, sprach sich darin für die
Bildung von „Clustern“ in der Kommission aus – also für jene
Binnenhierarchisierung, die Juncker später mit dem Modell
der starken Vizepräsidenten umsetzte.
Nachdem zuvor jedes
Kommissionsmitglied weitgehend selbstständig seine eigenen Pläne
verfolgt hat, nehmen nun die Vizepräsidenten eine Art
Türwächter-Funktion ein: Neue Vorhaben kommen nun nur noch dann auf
die Kommissionsagenda, wenn sie auch von mindestens einem der sieben
Vizepräsidenten unterstützt werden. Das soll zum einen das
Auftreten der Kommission kohärenter machen. Zum anderen erlaubte es
Juncker aber auch, schon bei der Aufstellung der Kommission klare
Prioritäten zu setzen: Indem er die Bereiche „Wachstum und
Beschäftigung“, „Energieunion“ und „Digitaler Binnenmarkt“
jeweils mit einem eigenen Vizepräsidenten ausstattete, machte er
deutlich, wo die inhaltlichen Schwerpunkte der nächsten Jahre liegen
sollen.
Eine straffere
Gesetzgebungsagenda
In die gleiche Richtung
weist auch eine andere Entscheidung, die Juncker und sein Erster
Vizepräsident Frans Timmermans (PvdA/SPE) vor wenigen Tagen
ankündigten: die Streichung
von rund 80 Gesetzgebungsvorhaben, die noch die alte Kommission
unter José Manuel Durão
Barroso (PSD/EVP) auf den Weg gebracht hatte und die Juncker nun
zurückzieht. Man kann hinter dieser Aktion einen bloßen
Publicity-Stunt vermuten, ganz im Sinne der Subsidiaritätsoffensive,
die Timmermans 2013 – noch als niederländischer Außenminister –
gestartet hatte. Die Kommission leidet am Image einer allzu
großen Regulierungsfreude: Warum also nicht ein paar öffentliche
Pluspunkte sammeln, indem man zum Einstieg der Wahlperiode mal den
entgegengesetzten Weg einschlägt?
Darüber hinaus könnte
diese Agendakürzung aber auch zu einer Stärkung der Kommission
gegenüber den anderen EU-Institutionen führen. Durch die Vielzahl
an Gesetzgebungsvorhaben haben der Rat und das Europäische Parlament
bislang leichtes Spiel, wenn sie unliebsame Pläne der Kommission auf
die lange Bank schieben wollen: Sie beschäftigen sich dann einfach
zuerst mit anderen Vorschlägen, auch wenn diese aus Sicht der
Kommission vielleicht weniger wichtig sind. Indem Juncker und
Timmermans nun selbst entscheiden, eine Reihe von Vorhaben nicht
weiterzuverfolgen, verleihen sie den übriggebliebenen Vorschlägen
mehr Nachdruck und verbessern damit ihre Chancen, diese erfolgreich
durch das Gesetzgebungsverfahren zu bringen.
Eine „politische
Kommission“ setzt Prioritäten – und wird angreifbar
Eine „politische
Kommission“, so ließe sich also festhalten, ist eine Kommission,
die sich nicht in einer Vielzahl von Projekten verzettelt, sondern
eigene inhaltliche Prioritäten setzt und diese dann auch konsequent
durchzusetzen versucht. Die gewählten Kommissare emanzipieren sich
dadurch zum einen von ihrem Verwaltungsunterbau, zum anderen stärken
sie aber auch ihre Position gegenüber dem Europäischen Parlament
und den nationalen Regierungen im Rat. Dazu passen auch zwei andere
Formulierungen, die Juncker in den letzten Monaten immer wieder
gebraucht hat: nämlich zum einen die Feststellung, die Kommission
sei „nicht
das Generalsekretariat des Rates“, zum anderen die Forderung,
die EU solle „in
großen Dingen groß und in kleinen Dingen klein sein“.
Mit dieser
Prioritätensetzung macht sich die Kommission allerdings auch
angreifbar – denn natürlich wird die Frage, was eigentlich die
„großen“ und was die „kleinen Dinge“ sind, nicht von jedem
gleich beantwortet. Dass die Streichungen, die Juncker und Timmermans
zuletzt ankündigten, auch umwelt- und sozialpolitische Vorhaben
betreffen, stieß etwa bei
den europäischen Grünen auf heftige Kritik. Diese
Angreifbarkeit aber
ist das eigentlich
„Politische“ an der
Kommission: Anders als in der
Vergangenheit wird sie sich
künftig nicht
mehr hinter den Gestus des Technokraten zurückziehen
können, sondern
muss in der Öffentlichkeit
dazu stehen, dass man
die Schwerpunkte ihrer
Politik auch ganz anders
setzen könnte.
Nicht nur politisch,
sondern parteipolitisch
Diese
Bereitschaft Junckers, die Kommission aus der Region des
pseudo-objektiven Expertentums in das Feld der politischen
Auseinandersetzung zu führen, zeigte
sich jüngst auch
noch in einem ganz
anderen Zusammenhang: nämlich
der Wahl des neuen griechischen Staatspräsidenten.
Nachdem die griechische
Koalitionsregierung aus
ND (EVP) und PASOK (SPE) in letzter Zeit ihren
Rückhalt in der Bevölkerung schwinden sah, entschied sie sich,
diese
Wahl auf Ende Dezember vorzuziehen. Sie
benötigt dafür eine Drei-Fünftel-Mehrheit
im griechischen Parlament, die sie ohne
Unterstützung wenigstens einzelner
Oppositionsparteien nicht
hat. Sollte
die nötige Mehrheit nicht zustande kommen, so
wird es Anfang 2015 eine
Neuwahl des Parlaments geben. Favorit
wäre dabei die
Linkspartei Syriza (EL), die
die Politik der Europäischen
Kommission in der Eurokrise
massiv ablehnt.
In
dieser Situation erklärte
Juncker jüngst öffentlich
seine
Unterstützung für den von
der griechischen Regierung vorgeschlagenen Präsidentschaftskandidaten
Stavros Dimas (ND/EVP).
Nur leicht verkleidet wurde
dies
dadurch, dass Junckers
Sprecherin zunächst
vor allem auf die
reichhaltige europäische
Erfahrung Dimasʼ
verwies, der
von 2004
bis 2010 EU-Umweltkommissar war. Denn
nur einen Tag später legte
Juncker
in
einem Interview nach
und warnte vor
den verheerenden Folgen, die ein
„falsches Wahlergebnis“ in Griechenland haben könnte.
Es
braucht nicht viel, um darin um
eine klare Parteinahme zugunsten der
griechischen
Regierung
und
gegen die Syriza-Opposition zu
erkennen:
ein völlig
neuer
Schritt für
den
Präsidenten einer Kommission,
die
bisher
stets davon abgesehen
hatte,
zu
nationalen Wahlkämpfen offen Stellung zu beziehen.
Juncker
setzt damit freilich
nur
eine
Tendenz
fort,
die schon
2012 deutlich
wurde,
als sich
die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) zugunsten
von
Nicolas
Sarkozy (UMP/EVP) in
den französischen Präsidentschaftswahlkampf einmischte.
Europaweit
bekannte Spitzenpolitiker
–
ob nationale Regierungschefs oder
eben der Kommissionspräsident – treten
immer offener auch in
nationalen
Wahlkämpfen anderer Länder auf, um ihre dortigen Parteifreunde zu
unterstützen. Es
ist nur folgerichtig, wenn
auch Juncker sich nun
an
dieser Entwicklung beteiligt. Zugleich
aber
macht es
deutlich,
dass
er seine Rolle als Kommissionspräsident nicht
nur „politisch“, sondern auch
parteipolitisch
versteht.
Juncker
ist durch die Europawahl legitimiert
Eine
Europäische Kommission, die ihre eigenen Prioritäten setzt,
die
klare
Richtungsentscheidungen
trifft,
die
sich
angreifbar
macht und
die ihrerseits in
Wahlkämpfen Position bezieht:
Das
dürfte wohl der Maßstab sein, an
dem man
eine „politische Kommission“ erkennt. Dass
ausgerechnet Jean-Claude Juncker diese
Entwicklungen
vorantreibt, ist
kaum verwunderlich –
schließlich ist er der erste Kommissionspräsident, der zuvor bei
der Europawahl als europäischer Spitzenkandidat seiner Partei
angetreten war.
Durch
seinen Wahlsieg besitzt
er
die demokratische Legitimität, um
seine politische
Agenda
auch
gegen Widerstände aus
den
Mitgliedstaaten voranzutreiben.
Und
dennoch bleibt ein Wermutstropfen: Denn
natürlich
ist
es kein Zufall, dass Juncker
seinen
konservativen
Parteifreunden
ausgerechnet
im
griechischen
Wahlkampf den
Rücken stärkte. Anders als in den meisten anderen Mitgliedstaaten
sind
in Griechenland eben nicht die Sozialdemokraten der
wichtigste Konkurrent
der christdemokratischen
EVP,
sondern die Syriza
als
Vertreterin der Europäischen Linkspartei. Und
anders
als die
Sozialdemokraten ist
die
EL kein
Teil
der „übergroßen
Koalition“ (aus
EVP, SPE, ALDE und AECR),
aus
der sich die Kommission
Juncker
zusammensetzt.
Eine
politische Kommission braucht eine wirksame Opposition
Das
führt dazu, dass die
Griechen bei ihrer nationalen Wahl eine
reale Möglichkeit haben, eine
Partei an die Regierung zu wählen, die
offen gegen die
Politik der
Kommission ist. Auf
gesamteuropäischer Ebene gibt
es diese Möglichkeit jedoch faktisch nicht: Juncker
selbst
ist
als
Kommissionspräsident
zwar
demokratisch gewählt und
könnte bei der nächsten Europawahl auch wieder abgewählt werden.
Die
übrigen
Kommissionsmitglieder aber verdanken
ihre Ernennung in
erster Linie den nationalen Regierungen, die sie nominiert haben;
ein
Versuch der
Parlamentsmehrheit,
auch
hier
das
Vorschlagsrecht an sich zu reißen, scheiterte im Oktober. Und
auch sonst zwingt eine Vielzahl
von institutionellen
Mechanismen
die
großen europäischen Parteien
in
den EU-Institutionen zur Kooperation und verhindert dadurch,
dass es
in
absehbarer Zeit einmal
eine Kommission
geben
könnte, an der EVP,
SPE oder
ALDE
nicht
beteiligt sind.
Die
Europäische
Union
greift
längst viel zu tief in unser Leben ein, um sie technokratisch zu
legitimieren
–
insofern führt an einer politischen
Schwerpunktsetzung, wie
Jean-Claude Juncker sie sich vorgenommen hat,
kein Weg vorbei. Ohne
eine wirksame Opposition aber kann eine
„politische
Kommission“ nicht
funktionieren.
Die
Kommission muss Entscheidungen treffen, sie
muss sich angreifbar machen,
und
sie
muss
die
Möglichkeit haben, diese
Entscheidungen in
der öffentlichen
Debatte zu
rechtfertigen.
Aber
erst wenn
die europäischen
Verfahren
es
den Bürgern erlauben,
bei
der Europawahl eine
andere Parteienkonstellation als die übergroße
Koalition in
die Kommission zu wählen, wird
aus der „politischen Kommission“ auch eine wirklich
demokratische.
Und damit geht dieses
Blog wie jedes Jahr für eine Weile in die Winterpause. Allen Leserinnen und Lesern
frohe Feiertage und ein glückliches 2015!
|
Bild: By European People's Party (EPP Dublin Congress, 2014) [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons.