Als im Dezember 2010 die
tunesische Revolution ausbrach, setzte das nicht nur die despotisch
herrschenden Präsidenten der arabischen Welt unter Druck, sondern
auch die Sozialistische Internationale (SI): Der sozialdemokratische
Weltverband musste nämlich bestürzt feststellen, dass sie die
Parteien der nordafrikanischen Diktatoren, die da von ihrer
Bevölkerung gestürzt wurden, auf ihrer Mitgliederliste führte.
Etwas überstürzt machte man sich deshalb daran, die tunesische RCD
und die ägyptische NDP, später auch die ivorische FPI
auszuschließen. Doch einigen Mitgliedsparteien ging das nicht weit
genug: Insbesondere der Vorsitzende der deutschen SPD (SPE), Sigmar Gabriel, machte sich im März 2011
für eine grundlegende
Reform stark, um die SI ein für alle Mal von ihren autoritären
Mitgliedern zu befreien und wieder „politisch relevant“ zu
machen. Diese Forderung zog jedoch offenbar nicht die gewünschten
Folgen nach sich, sodass die SPD ab 2012 die Gründung eines neuen
globalen Bündnisses vorantrieb. Am vergangenen Mittwoch
schließlich war es so weit: Auf einem Kongress in Leipzig wurde die
„Progressive Allianz“ (PA) aus der Taufe gehoben.
Die PA: neue
Mitglieder, aber kein Unterbau
Vergleicht man die
Mitgliedschaft der
PA und der
SI, dann stellt man zunächst eine recht große Übereinstimmung
fest: Die meisten prominenten sozialdemokratischen Parteien sind in
beiden Organisationen vertreten. Dass die Mitgliederliste der PA nur
knapp halb so lang ist, liegt in erster Linie daran, dass viele
Parteien aus kleineren Staaten, besonders aus Entwicklungsländern
fehlten. Für Außenstehende ist dabei nicht immer zu erkennen, ob
diese Parteien gezielt nicht eingeladen wurden oder nur zufällig
nicht nach Leipzig kamen. Mit dem
nicaraguanischen FSLN und dem angolanischen MPLA waren zwei bekannte
SI-Problemmitglieder jedenfalls abwesend; mit der palästinensischen
Fatah und dem Gerechten Russland allerdings zwei andere, ebenfalls nicht
unumstrittene Parteien weiterhin dabei.
Vor allem jedoch nehmen an
der PA auch einige einflussreiche Parteien teil, die nicht der SI
angehören – insbesondere die US-amerikanischen Demokraten.
Offensichtlich spielte hier der neue Name eine gewisse Rolle: Obwohl
die Partei Barack Obamas in ihrer politischen Ausrichtung klare
Überschneidungen mit den europäischen Mitte-links-Parteien zeigt,
wäre für sie schon wegen des Reizworts „sozialistisch“ eine
SI-Mitgliedschaft wohl auf absehbare Zeit nicht in Frage gekommen,
wogegen die Selbstbezeichnung als „progressiv“ auf beiden Seiten
des Atlantiks salonfähig ist.
Diese Beteiligung der
US-Demokraten, aber auch des indischen INC oder der italienischen PD,
ist bislang wohl der wichtigste Trumpf der PA bei dem Ziel,
„politisch relevant“ zu werden. Ihre größte Schwäche hingegen
dürfte (wie
auch Matthias Ecke feststellt) der fehlende organisatorische
Unterbau sein. Wohl um nicht zu sehr in Konkurrenz zur alten SI zu
treten, hat die PA keinen eigenen Präsidenten, kein Sekretariat und
keine Postadresse: Sie versteht sich nicht als supranationale
Organisation, sondern lediglich als „Netzwerk“ ihrer
Mitgliedsparteien. Einmal im Jahr zu einer gemeinsamen Konferenz
zusammenzukommen, wird jedoch kaum genügen, um der PA zu dauerhafter
Präsenz und Einfluss auf der politischen Weltbühne zu verhelfen.
Die
selbstverständliche Bedeutungslosigkeit der globalen Parteien
Andererseits: Welche
globale Partei kann derzeit überhaupt von sich behaupten, dauerhafte
Präsenz und Einfluss auf der politischen Weltbühne zu haben? Denn
es ist ja nicht so, dass sich nur die Sozialdemokraten in einem
weltweiten Verband organisiert hätten. Vielmehr kann man inzwischen
geradezu von einem globalen Parteiensystem sprechen: Neben SI und PA
gibt es noch die Liberale
Internationale (LI, gegründet 1947), die Christlich
Demokratische Internationale (CDI, 1961), die Internationale
Demokratische Union (IDU, 1983), die Globalen
Grünen (GG, 2001), die Internationale
der Piratenparteien (PPI, 2010) sowie weitere
kleinere Bündnisse. (Mit CDI und IDU gibt es übrigens im
konservativen Spektrum eine ähnliche Dopplung wie mit SI und PA im
sozialdemokratischen: Die Europäische Volkspartei und zahlreiche
andere Mitglieder sind in beiden Organisationen vertreten; die IDU
umfasst allerdings auch die US-Republikaner und ist
insgesamt etwas weiter rechts positioniert.)
Auf den ersten Blick
haben diese Vereinigungen alles, was eine Partei so braucht: Jede von
ihnen (mit Ausnahme der PA) hat einen Vorstand mit einem Präsidenten
und vielen Vizepräsidenten; jede von ihnen hält alle ein bis zwei
Jahre einen Parteitag ab, der als wichtigstes Beschlussorgan fungiert
und bei dem sich Delegierte der nationalen Mitgliedsorganisationen
versammeln; und vor allem hat jede von ihnen ein mehr oder weniger
detailliertes politisches Programm, in dem sie ihre Visionen und
Ziele für die Welt formuliert hat.
Dennoch sind die globalen
Parteien den allermeisten Menschen vollkommen unbekannt, und in der
öffentlichen Debatte über weltpolitische Fragen spielen sie fast
keine Rolle. Stattdessen haben wir uns angewöhnt, allein die
nationalen Regierungen als die entscheidenden Akteure der globalen
Politik zu verstehen. So war in den letzten Monaten zum Beispiel viel
davon die Rede, dass die EU, die USA, die Staatengemeinschaft dem
syrischen Bürgerkrieg ratlos gegenübersteht. Dass sich bis
jetzt auch keine einzige globale Partei in dieser aktuellen Frage zu
einer Positionierung durchgerungen hat, war in den Medien hingegen
nicht zu lesen. Es kommt uns einfach selbstverständlich vor. Aber
warum eigentlich?
Gesellschaftliche
Gegensätze verlaufen quer zu nationalen Grenzen
Eine ebenso einfache wie
falsche Erklärung scheint mir zu sein, dass es in der Weltpolitik
eben nur auf nationale Interessen ankommt und dass weltanschauliche
Unterschiede, wie sie die Parteien repräsentieren, auf
überstaatlicher Ebene schlicht keine Rolle spielen. Tatsächlich ist
dies eine der traditionellen Grundannahmen der „realistischen“
Schule in den Internationalen Beziehungen, doch bei näherer
Betrachtung wirkt sie mehr als unplausibel. Die sozialen Gegensätze
etwa zwischen Stadt- und Landbevölkerung, zwischen Religion und
Laizismus oder zwischen Kapitalbesitzern und Arbeitnehmern, die die
politischen Konflikte der Moderne prägten und die Parteiensysteme
formten, endeten noch niemals an nationalen Grenzen; und je mehr sich
die Gesellschaften im Zuge der Globalisierung transnational
verflechten, desto weniger.
Anders formuliert: Ein
wohlhabender, atheistischer Apotheker in München teilt in der Regel
deutlich mehr politische Interessen mit einem wohlhabenden,
atheistischen Apotheker in Buenos Aires als mit einem katholischen
Landwirt in Niederbayern oder einem arbeitslosen Augsburger
Fabrikarbeiter. Unter dem Slogan „Proletarier aller Länder,
vereinigt euch!“ lag dieser Gedanke bereits der Gründung der
ersten Internationalen, der kommunistischen IAA
von 1864, zugrunde. Und auch wenn die heutigen globalen Parteien
natürlich nicht mehr der Idee eines revolutionären Klassenkampfes,
sondern eher der eines friedlichen demokratischen Wettbewerbs
anhängen, bleibt das Argument berechtigt, dass die politisch
relevanten Gegensätze in den modernen Gesellschaften quer zu
territorialen Grenzen liegen und es nur angemessen wäre, wenn sich
dies auch in den Formen politischer Repräsentation niederschlagen
würde.
Dass die nationalen
Regierungen im Mittelpunkt der internationalen Politik stehen, ist
also keineswegs zwingend; mehr noch: Aller Wahrscheinlichkeit nach
wären wir Bürger und unsere verschiedenen Interessen dort durch die
globalen Parteien weitaus besser vertreten. Worin also liegt der
entscheidende Unterschied, durch den Parteien auf nationalstaatlicher
Ebene so erfolgreich sind und auf globaler Ebene so irrelevant?
Parteien brauchen
Parlamente
Eine Antwort auf diese
Frage scheint mir im institutionellen Kontext zu liegen: Was die
nationalen Parteien für das demokratische Leben so bedeutend macht,
ist ihre Rolle in den nationalen Parlamenten. Tatsächlich war schon
die Entstehung der modernen Parteien im 18./19. Jahrhundert eine
Folge der Parlamentarisierung. Sowohl in den USA als auch in Europa
bildeten sie sich aus parlamentarischen Klubs heraus, in denen
ähnlich gesinnte Abgeordnete zunächst nur lose zusammenarbeiteten,
um bestimmte gemeinsame Ziele zu erreichen. Für die einzelnen
Abgeordneten war dies mit Einschränkungen ihrer persönlichen
Überzeugungen verbunden, brachte aber zugleich den Vorteil, sich bei
Abstimmungen öfter in der Mehrheit zu befinden. Und da mit
zunehmender Macht der Parlamente stabile Mehrheiten immer wichtiger
wurden, gewannen auch die Parteien an Bedeutung.
Zum eigentlichen
Machtfaktor wurden die Parteien dann im Wahlkampf, wo sie ihren
Abgeordneten durch die Bereitstellung finanzieller und
organisatorischer Unterstützung entscheidende Vorteile bieten
konnten, diese zugleich aber auch immer mehr von sich abhängig
machten. Spätestens Ende des 19. Jahrhunderts waren die Parteien
schließlich zur zentralen Vermittlungsinstanz zwischen Bürgern und
Politikern geworden. Indem sie die Abgeordneten der
Fraktionsdisziplin unterwarfen, reduzierten sie die Komplexität des
politischen Systems – und erleichterten dadurch letztlich auch dem
Wähler die Entscheidung.
Kaum Anreize, auf die
globalen Parteien zu achten
Jenseits des
Nationalstaats jedoch fehlen diese Mechanismen weitgehend: Lediglich
in der EU gibt es mit dem Europäischen Parlament ein direkt
gewähltes supranationales Organ, das in parteipolitisch
ausgerichtete Fraktionen gegliedert ist und über echte
Gesetzgebungsmacht verfügt; und es ist deshalb nicht besonders
überraschend, dass mit seinem institutionellen Aufstieg seit den
1990er Jahren auch die europäischen Parteien immer wichtiger wurden.
Auf globaler Ebene jedoch werden die wichtigsten Entscheidungen nicht
von Parlamenten, sondern von intergouvernementalen Gremien getroffen,
die sich aus den Vertretern nationaler Regierungen zusammensetzen. Wo
es aber kein einflussreiches Parlament gibt, entfällt die
Notwendigkeit, stabile parlamentarische Mehrheiten zu sichern; und wo
keine Wahllisten aufgestellt werden, haben die Parteien auch keine
Sanktionsmöglichkeit, um ihre Mitglieder auf eine gemeinsame Linie
zu verpflichten.
Für Politiker, die im
NATO-Rat, auf der WTO-Konferenz oder in der Generalversammlung der
Vereinten Nationen Beschlüsse fassen, gibt es deshalb kaum einen
Anreiz, sich bei ihrem Handeln an den Positionen der globalen
Parteien zu orientieren. Ihre Loyalität wird vielmehr vor allem
denjenigen gelten, denen sie auch durch institutionelle Mechanismen
Rechenschaft ablegen müssen: eben den nationalen Regierungen, den
nationalen Parteien, die diese Regierungen bilden, und letztlich der
nationalen Wählerschaft, der sich die nationalen Parteien stellen
müssen. Und darum ist der Maßstab in der Weltpolitik am Ende
meistens das nationale Interesse – und nicht jene anderen sozialen
Gegensätze in der transnationalen Gesellschaft, die die globalen
Parteien repräsentieren.
Was globale Parteien
tun können
Wie können die globalen
Parteien darauf reagieren? Eine Möglichkeit besteht sicher darin,
sich in die Verhältnisse zu fügen, die internationalen
Organisationen den nationalen Regierungen zu überlassen und sich
stattdessen auf jene Bereiche der globalen Politik zu konzentrieren,
die außerhalb formeller Institutionen stattfinden. Das
Gründungsdokument
der Progressiven Allianz etwa spricht zwar vage davon, zur
„Entstehung einer kooperativen
Weltordnung“ beitragen
zu wollen, doch konkrete Hinweise auf deren institutionelle
Ausgestaltung sucht man vergeblich. Stattdessen beschränken sich die
Pläne der PA im Wesentlichen auf Aktivitäten, wie man sie auch von
politischen Stiftungen kennt: etwa den Austausch von best
practices zur
Parteiorganisation, die Veranstaltung von Diskussionsveranstaltungen
oder (immerhin!) die Unterstützung der Mitgliedsparteien bei nationalen
Wahlkämpfen.
Nun sind das alles
natürlich honorige Vorhaben, mit denen man gewiss auch einiges Gutes
bewirken kann. Ein wenig scheint es mir dennoch, dass die PA damit
hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. Wer als globale Partei
„politisch relevant“ sein will, der sollte wenigstens den Anspruch aufrechterhalten, auch einmal auf globaler Ebene die
Funktion einer Partei zu erfüllen und bei globalen Wahlen in ein
globales Parlament einzuziehen – auch wenn dieses globale Parlament
erst noch geschaffen werden muss. Die Liberalen,
die Grünen,
die Piraten und
die SI
haben es schon einmal vorgemacht.
Bild: By Kentin [Public Domain], via Wikimedia Commons.