Am heutigen Mittwoch ist
es noch genau ein Jahr bis zur nächsten Europawahl: Vom 22. bis 25.
Mai 2014 werden dann die Bürger der EU zum achten Mal das Europäische
Parlament direkt wählen. Und auch wenn die meisten Europäer dem
Urnengang bislang eher gelassen bis gleichgültig entgegensehen, kann
es nicht schaden, schon einmal einen Blick auf die Fragen zu werfen,
um die es in den nächsten Monaten gehen wird. Hier deshalb zum Einstimmen ein kleines Was ist Was zur Europawahl 2014.
Wer tritt an?
- Die Sitzordnung im Europaparlament: 34 Linke, 190 Sozialdemokraten, 58 Grüne, 85 Liberale, 269 Christdemokraten, 55 Konservative, 35 Rechtspopulisten und ein paar Fraktionslose in den hinteren Reihen.
Die
entscheidenden Kräfte im Europäischen Parlament sind die
europäischen Parteien, die sich zunächst aus informellen Parteibündnissen
entwickelten, heute aber in
Art. 10 EU-Vertrag auch eine vertragsrechtliche Grundlage haben. Inzwischen gibt es dreizehn solche Parteien,
die sich auf sieben Fraktionen im Parlament verteilen. Fünf von
ihnen – die christdemokratische EVP, die sozialdemokratische SPE,
die liberale ALDE, die grüne EGP und die linke EL – entsprechen im
Wesentlichen ihren Pendants im Deutschen Bundestag. Hinzu kommen die
von den britischen Konservativen ins Leben gerufene AECR, die beiden
rechtspopulistisch-europaskeptischen Gruppierungen MELD und EAF, die eine gemeinsame
Fraktion bilden, einige Kleinparteien, die sich jeweils einer der
größeren Fraktionen angeschlossen haben, sowie die fraktionslose
rechtsextreme AENM. Wikipedia weiß die Details.
Allerdings
ist die Mitgliedschaft in einer dieser Parteien keine Voraussetzung,
um bei der Wahl anzutreten: Etwa ein Zehntel der Europaabgeordneten
gehört rein nationalen Parteien ohne europäischen Dachverband an,
die sich teilweise einer der sieben Fraktionen angeschlossen haben,
teilweise aber auch fraktionslos sind. Die daraus entstehende Zersplitterung ist einer
der Gründe, dass es im Parlament keinen klaren Gegensatz zwischen
verschiedenen politischen Lagern gibt: Da weder die Parteien links
noch die Parteien rechts der Mitte eine klare Mehrheit haben, kommen
die meisten Entscheidungen durch eine informelle „große Koalition“
aus EVP, SPE und ALDE zustande.
Wie wird gewählt?
Wie
immer. Vor gut einem Jahr scheiterte der Versuch des britischen
Abgeordneten Andrew Duff (LibDem/ALDE) zu einer umfassenden
Wahlrechtsreform, die unter anderem europaweite Wahllisten einführen sollte.
Stattdessen wird nun erneut jeder Staat ein festes Sitzkontingent haben, und auch an dem umstrittenen Prinzip
der „degressiven Proportionalität“ (größere
Länder bekommen mehr Sitze, kleinere aber mehr Sitze pro
Einwohner) hat sich nichts geändert.
Die
genaue Ausgestaltung des Wahlverfahrens ist, von ein paar allgemeinen
Vorgaben abgesehen, Sache der einzelnen Mitgliedstaaten; einen Überblick bietet wiederum Wikipedia. In Deutschland besonders
umstritten ist dabei die Anwendung der Sperrklausel: Genauso wie
für den Bundestag galt bis zur Europawahl 2009 jeweils eine
Fünf-Prozent-Hürde, die aber Ende 2011 vom Bundesverfassungsgericht in
einem umstrittenen Urteil gekippt wurde. Die Europaabgeordneten selbst befürworteten hingegen Ende 2012
in einer Resolution nationale Sperrklauseln, um dadurch
der Zersplitterung des Parlaments Einhalt zu gebieten. Und da zuletzt
auch aus dem Bundestag Pläne zur Wiedereinführung einer
Drei-Prozent-Hürde bekannt wurden, wird es mit einiger Sicherheit
vor der Europawahl noch einige verfassungsrechtliche Debatten geben.
Wie wird sich die
Wahlbeteiligung entwickeln?
Für
viele Medien ist das Interessanteste an der Europawahl die Frage, wie
viele Bürger überhaupt zum Wählen gehen. Tatsächlich sank die
Wahlbeteiligung im Lauf der Zeit immer weiter ab –
von erst 63 auf zuletzt 43 Prozent. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens spielten wohl die EU-Erweiterungen eine Rolle: Die Wahlbeteiligung unterscheidet sich je nach Land und ist in den
neuen Mitgliedstaaten meist niedriger als in den alten (2009
waren die Extreme 19,6 % in der Slowakei und 90,8 % in
Luxemburg). Doch auch in den
Gründungsländern ging die Beteiligung zurück, was, zweitens, mit enttäuschten
Erwartungen zu tun haben mag: Bei der ersten Wahl, die 1979 in teils euphorischer Stimmung stattfand, besaß das
Parlament noch kaum Kompetenzen – und als es diese seit den 1990er
Jahren schrittweise erhielt, stand es bei vielen schon im Ruf
einer bedeutungslosen Quasselbude.
Drittens
und vor allem aber gelang es dem Parlament bis heute nicht, die
europapolitische Debatte entlang der Unterschiede zwischen den
verschiedenen europäischen Parteien zu strukturieren. Stattdessen
herrschen in den Medien etwa in der Diskussion über die Eurokrise
meist nationale Gegensätze vor: Die Antagonisten sind nicht
EVP und SPE, sondern Deutschland und Griechenland. Für die Wähler
bleibt daher unklar, wofür die verschiedenen parteipolitischen
Optionen eigentlich stehen, zwischen denen sie sich bei der
Europawahl entscheiden können; und immer öfter entscheiden sie sich
deshalb gar nicht, sondern bleiben gleich zu Hause.
Diese
unzureichende parteipolitische Debatte hat selbst wiederum
verschiedene Ursachen (mehr dazu hier). Ein wichtiger Faktor dürfte allerdings die fehlende
Personalisierung sein: Wegen der nur nationalen Wahllisten hatten die
europäischen Parteien bislang niemanden, der ihre Positionen für
ein europaweites Publikum verkörpert hätte. Das jedoch wird
nächstes Jahr anders sein.
Wer wird
Spitzenkandidat?
Die
große Neuigkeit der Europawahl 2014 werden die Spitzenkandidaten für
das Amt des EU-Kommissionspräsidenten sein, die die großen
europäischen Parteien erstmals nominieren wollen. Bereits seit dem
Vertrag von Maastricht 1992 wird der Kommissionspräsident nicht mehr
allein von den nationalen Staats- und Regierungschefs ernannt,
sondern vom Europäischen Rat vorgeschlagen und anschließend vom
Europäischen Parlament bestätigt. Schon in der Vergangenheit kam
deshalb immer wieder die Forderung auf, dass die europäischen
Parteien bereits vor der
Wahl ihre Wunschkandidaten benennen und dadurch die Staats- und
Regierungschefs unter Druck setzen sollten. Weiter verstärkt wurde
dies durch eine neue Formulierung im Vertrag von Lissabon, derzufolge
der Europäische Rat bei seinem Vorschlag für den
Kommissionspräsidenten das Ergebnis der Europawahl „berücksichtigt“
(Art. 17 EU-Vertrag). Im Dezember 2009 fasste daraufhin die SPE als
erste europäische Partei den Beschluss, vor der Europawahl 2014 einen eigenen Kandidaten zu benennen.
Inzwischen
ist klar, dass alle größeren europäischen Parteien auf die ein
oder andere Weise Spitzenkandidaten aufstellen werden. Allerdings
haben nur SPE und EGP bislang ein formelles Verfahren dafür
beschlossen: Bei den Sozialdemokraten wird im Oktober eine Vorauswahl von bis zu
sechs Kandidaten erfolgen; im Dezember und Januar werden dann (nach
Vorbild der US-amerikanischen primaries) innerhalb der
nationalen Mitgliedsparteien Delegierte für einen Parteikongress
gewählt, der schließlich im Februar den Spitzenkandidaten kürt.
Bei den Grünen hingegen soll ein Spitzenkandidaten-Duo gewählt
werden, und zwar durch eine offene Online-Abstimmung, an der sich
alle Mitglieder und Sympathisanten ab 16 Jahren beteiligen können.
Spekulationen,
wer als Kandidat in Frage käme, gibt es schon heute zuhauf. Der
Europablogger Jon Worth hat vor einigen Tagen gute Übersichten zu
den verschiedenen Parteien zusammengestellt: SPE und
EVP, die realistische Chancen auf einen Wahlsieg haben, sowie ALDE und EGP, deren Kandidaten als Kompromisslösung zum Zuge kommen könnten.
Klarer Favorit bei der SPE ist Martin Schulz, ehemaliger
sozialdemokratischer Fraktionschef und derzeit Präsident des
Europäischen Parlaments; mögliche Konkurrenten könnten die dänische Premierministerin Helle
Thorning-Schmidt, der SPE-Parteivorsitzende und ehemalige bulgarische
Ministerpräsident Sergej Stanishev oder der frühere belgische
Wirtschaftsminister Paul Magnette sein. Bei der EVP ist das Tableau
weniger eindeutig: Als mögliche Kandidaten gelten unter anderem der
polnische Premierminister Donald Tusk, die litauische Präsidentin
Dalia Grybauskaitė
und die derzeitige EU-Justizkommissarin Viviane Reding.
Wie
wird sich das auf das institutionelle Gleichgewicht auswirken?
Die
wichtigste Hoffnung, die mit der Ernennung der Spitzenkandidaten
einhergeht, ist natürlich die größere Medienpräsenz und damit ein
höheres Interesse der Bevölkerung an der Europawahl, das möglichst
auch zu einer stärkeren Wahlbeteiligung führen sollte. Doch nicht nur diese stärkere Wahlbeteiligung an sich ist von Bedeutung, sondern auch die Auswirkungen, die sie auf das Gleichgewicht zwischen dem
Europäischen Parlament und den anderen EU-Organen haben wird. Denn
bei politischen Konflikten etwa mit dem Europäischen Rat können sich die Abgeordneten vor allem
dann Gehör verschaffen, wenn sie auf eine klare Legitimation durch
die Bürger verweisen können. Je niedriger die Wahlbeteiligung hingegen ist,
desto leichter fällt es den übrigen Institutionen, über die Position des
Parlaments einfach hinwegzugehen.
Von einem
personalisierten Wahlkampf mit klar benannten Spitzenkandidaten könnte aber nicht nur das Parlament, sondern auch die Kommission profitieren. Schon seit längerem leidet diese an einer zunehmenden Profillosigkeit. Seit Jacques Delors (PS/SPE),
der von 1985 bis 1995 im Amt war, verfolgte kein Kommissionspräsident
mehr eine klare politische Linie, und der 2004 ernannte José Manuel
Durão Barroso (PSD/EVP) galt schon bei seiner Ernennung als
langweilig und ideenlos. Die Folge davon war in den letzten Jahren ein ungeahnter Machtgewinn des intergouvernementalen Europäischen
Rates: Während Delors etwa in den Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht eine Führungsrolle übernahm, blieb Barroso in der Eurokrise weitgehend passiv und
folgte lediglich den Vorgaben der nationalen Staats- und Regierungschefs (die sich dafür bedankten, indem sie ihn 2009 noch einmal nominierten).
Mit
der Europawahl 2014 dürfte sich dies ändern: Zum einen
werden sich die europäischen Parteien hüten, im Wahlkampf mit einem
solch uncharismatischen Kandidaten wie Barroso anzutreten. Zum
anderen wird Barrosos Nachfolger sich auch nach seiner Ernennung
besser gegenüber den nationalen Regierungschefs behaupten können,
weil er durch einen personalisierten Wahlkampf bereits einer breiten
Öffentlichkeit bekannt sein wird. Insgesamt kann das der
europäischen Demokratie nur nutzen – wenngleich die Wahl der
übrigen Kommissionsmitglieder wohl auch weiterhin eher nach nationalen als nach parteipolitischen Kriterien erfolgen wird.
Was
werden die Wahlkampfthemen sein?
Neben
der niedrigen Beteiligung litten die bisherigen Europawahlen noch an
einem zweiten großen Problem: Obwohl ein europäisches Organ gewählt
wird, sind die Wahlkampfthemen in allen Mitgliedstaaten meist
nationale Fragen, und häufig sind die Sympathiewerte der nationalen
Regierung für das Wahlergebnis wichtiger als alles, was in Brüssel
geschieht. Auch hier gibt es allerdings die Hoffnung, dass die
Spitzenkandidaten 2014 die Aufmerksamkeit
im Wahlkampf auf die echten europapolitischen Entscheidungen lenken
werden: Als gesamteuropäische Kandidaten werden sie schließlich nur mit einer gesamteuropäischen Agenda antreten können.
Und
tatsächlich sollte man meinen, dass an europapolitischen Themen
derzeit kein Mangel besteht; schließlich könnte die seit Jahren
wütende Eurokrise in den nächsten Jahren große institutionelle
Änderungen erforderlich machen. Problematisch ist allerdings, dass
in diesen Fragen nichts ohne die nationalen Regierungen geht: Welche
Partei auch immer die Europawahl gewinnt, zuletzt wird das Parlament
doch auf eine Zusammenarbeit mit dem Europäischen Rat angewiesen
sein. Dieser Zwang zum Kompromiss könnte dazu führen, dass allzu
weitgehende Reformvorschläge schon im Wahlkampf unglaubwürdig
wirken – jedenfalls sofern die Kandidaten nicht auch die
Unterstützung wichtiger nationaler Regierungen haben. Wenn sich
hingegen auch nationale Staats- und Regierungschefs auf
der Seite ihres jeweiligen Spitzenkandidaten aktiv
an einer transnationalen Debatte über die Zukunft der EU beteiligen,
könnte die Wahl im besten Fall zur Richtungsentscheidung für die weiteren
Entwicklungen werden.
Und
schließlich: Wer wird gewinnen?
Diese Frage ist von allen wohl am schwersten zu beantworten: Es gibt bis heute keine europaweiten Wahlumfragen, und auch die naheliegende
zweitbeste Lösung, die Werte nationaler Umfragen zusammenzuzählen,
wird meines Wissens von keiner Institution systematisch durchgeführt.
Betrachtet man nur die größeren Mitgliedstaaten, so könnte die EVP
– derzeit mit 269 Abgeordneten die stärkste Fraktion – in
Frankreich und Italien leichte, in Spanien und Polen deutliche
Verluste erleiden. Doch auch die bislang mit 190 Mandaten zweitplatzierte SPE würde nach heutigem Stand wohl allenfalls stagnieren: Gegenüber 2009 hat sie
nur in Großbritannien klar zugelegt, in Spanien hingegen stark
verloren.
Gut
sehen die Umfragen hingegen für verschiedene kleinere Parteien aus:
UKIP (EAF) in Großbritannien, IU (EL) in Spanien, PiS (AECR) in
Polen sowie die spanische UPyD und das italienische M5S, die beide
keiner europäischen Partei angehören. Vor allem in
Spanien und Italien dürfte der Aufstieg der kleinen Parteien allerdings vor
allem den Frust der Wähler über die anhaltende Eurokrise
widerspiegeln, für die es innerhalb der nationalen politischen
Systeme schlicht keinen Ausweg gibt. Sofern es den Spitzenkandidaten
von EVP und SPE gelingt, im Wahlkampf plausible
gesamteuropäische Lösungen vorzuschlagen, könnte auch das
Vertrauen in die großen Parteien wieder zurückkehren.
Es
bleibt jedenfalls spannend. Und für alle, die bereits die Tage
zählen, findet sich in der rechten Spalte dieses Blogs ab heute ein
kleiner Countdown.
Weitere Artikel zur Europawahl in diesem Blog:
● Noch 365 Tage bis zur Europawahl 2014!
● Europawahl 2014: Wie die europäischen Parteien ihre Spitzenkandidaten wählen
● Nach der Wahl ist vor der Wahl: Zwischenstand auf dem Weg zur Europawahl 2014
● Parlamentarismus wagen: Die Spitzenkandidaten zur Europawahl schwächen den Europäischen Rat und stärken die Demokratie
● Martin Schulz, Alexis Tsipras und noch immer kein Christdemokrat: erste Vorentscheidungen im Europawahlkampf
● Umfragen zur Europawahl 2014: Eine Prognose für das nächste Europäische Parlament (1)
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● Grüne Enttäuschungen, liberale Kompromisse – und immer noch kein Christdemokrat: Neues aus dem Europawahlkampf
● Krisenstaaten wählen links, kleine Länder liberal, und die Christdemokraten sind vor allem in der Eurozone stark: Zur Wahlgeografie der Europäischen Union
● Die AfD und ihre Partner: Wie sich die europäische Rechte nach der Europawahl verändern wird
● Nach der Europawahl
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Bilder: By Glentamara (Own work) [CC-BY-SA-3.0 or GFDL], via Wikimedia Commons; eigene Grafik (Quelle: Europäisches Parlament); European Union 2013 - European Parliament [CC-BY-NC-ND-2.0], via Flickr.
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