30 Juli 2013

Die Bundestagswahl und Europa (2): Haushaltskontrolle, Steuerharmonisierung, Kampf gegen Steuerflucht

Bei der Bundestagswahl im kommenden September wählen die Deutschen nicht nur ihre nationalen Abgeordneten, sondern auch ihre Vertreter in den intergouvernementalen EU-Organen. Welche Alternativen stehen dabei zur Auswahl? In einer Sommerserie vergleicht dieses Blog die europapolitischen Vorschläge in den Wahlprogrammen der Bundestagsparteien – CDU/CSU (EVP), SPD (SPE), FDP (ALDE), Grüne (EGP) und Linke (EL). Heute: Haushalts- und Steuerpolitik. (Zum Anfang der Serie.)

Fiskalpakt

Steuerdumping und Steuerflucht mag im Bundestag eigentlich niemand.
Zu den großen europapolitischen Neuerungen der letzten Jahre zählt ohne Zweifel der Fiskalpakt, der Ende 2011 vereinbart wurde und die Euro-Mitgliedstaaten zur Einführung strikter nationaler Schuldenbremsen verpflichtete. Obwohl diese Reform damals (auch in diesem Blog) stark umstritten war, wurde ihre Ratifikation im Deutschen Bundestag zuletzt von einem breiten Bündnis unterstützt, dem sich außer CDU/CSU und FDP auch SPD und Grüne anschlossen. Seit 1. Januar 2013 ist der Fiskalpakt nun in Kraft, und Änderungen daran wird es auf absehbare Zeit wohl kaum geben. Doch die Wellen, die er schlug, führen dazu, dass mit Ausnahme der Sozialdemokraten nun noch einmal alle Parteien in ihren Wahlprogrammen dazu Stellung nehmen.


Eindeutig zufrieden mit ihrer Leistung sind dabei die Regierungsparteien. So fordert die CDU/CSU eine „strikte Einhaltung nationaler Schuldenbremsen“, die FDP will den Fiskalpakt „konsequent“ umsetzen. Etwas verlegen wirken hingegen die Grünen, die die Ratifikation des Vertrags als die „[i]n der Gesamtabwägung […] bestmögliche Entscheidung“ rechtfertigen, nun aber seine Ergänzung um ein „Investitions- und Wachstumspaket“ fordern (dazu demnächst mehr). Die Linken schließlich betonen, dass sie den Fiskalpakt „als einzige Partei im Deutschen Bundestag“ abgelehnt haben.

Kontrolle der nationalen Haushalte

Allerdings war der Fiskalpakt nicht die einzige Maßnahme, um die Haushaltsdisziplin die Mitgliedstaaten zu steigern: Durch eine Reihe von Beschlüssen wie das „europäische Semester“, das „Sixpack“ und das „Twopack“ erhielt die Europäische Kommission neue Befugnisse bei der Kontrolle der nationalen Haushalte – ein Verfahren, das bislang allerdings noch an einigen inneren Widersprüchen krankt. Die Positionen zu diesem Thema ähneln jenen zum Fiskalpakt: Während die CDU/CSU die „Möglichkeiten zur Überwachung und Überprüfung der nationalen Haushalte durch die Europäische Kommission“ in Zukunft noch weiter stärken will, wendet sich die Linke „gegen die Pläne aller anderen im Bundestag vertretenen Parteien, die EU-Kommission zu einem sanktionsbewehrten Kontrollinstrument der Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten zu machen“.

Besonders konkret werden die Parteien in dieser Frage jedoch nicht: Die Vorschläge von Wolfgang Schäuble von Oktober 2012 etwa werden auch im CDU/CSU-Programm nicht explizit übernommen. Insgesamt scheint es, als ob eine noch striktere europäische Kontrolle der nationalen Haushaltsausgaben nicht mehr ganz vorne auf der Tagesordnung der Parteien steht. Oder jedenfalls haben sie derzeit keine konkreten Pläne dazu, mit denen sie Wahlkampf führen könnten.

Harmonisierung von Steuern

Weitaus größere Aktivität hingegen zeigen die Parteien, wenn es um die Einnahmeseite der nationalen Haushalte geht. So sind sie sich fast alle darüber einig, dass bestimmte Steuern europaweit harmonisiert werden sollen, um einen Steuerwettbewerb zwischen den EU-Mitgliedstaaten zu vermeiden. Besonders entschlossen sind hier die Grünen, für die die nationale Souveränität in Steuerfragen oft nur noch eine „leere Hülle“ ist. Die FDP hingegen ist die einzige Partei, in deren Programm die europaweite Angleichung von Steuern kein Thema ist.

Die beliebtesten Kandidaten für eine europaweite Angleichung sind die Unternehmenssteuer und die Finanztransaktionssteuer. CDU/CSU, SPD, Grüne und Linke sind sich hier (abgesehen von einigen Unterschieden bei der Umsetzung) weitgehend einig. SPD, Grüne und Linke fordern zudem eine europaweit koordinierte Vermögensabgabe. Darüber hinaus schlagen die Sozialdemokraten einheitliche Mindeststandards für Steuern auf Kapitaleinkommen vor, und die Linken wünschen sich eine Bankenabgabe sowie eine europaweite „Reichensteuer“ von 75 Prozent auf Einkommen, die eine Million Euro im Jahr übersteigen. Die Grünen schließlich wollen noch eine europäische Harmonisierung des Mehrwertsteuerverfahrens und setzen sich für eine „Angleichung der Energie- und Umweltsteuern“ ein, „um beispielsweise Tanktourismus einzudämmen“.

Die Erfolgsaussichten all dieser Pläne sind allerdings ungewiss. Zwar enthält das europäische Primärrecht durchaus Grundlagen für eine Angleichung von Steuersätzen (einschlägig sind Art. 113 AEUV für indirekte und Art. 115 AEUV für direkte Steuern), doch ist dafür auf jeden Fall ein einstimmiger Beschluss im Rat notwendig. Und da nicht jede Regierung bereit ist, ihre niedrigeren Steuersätze auf das deutsche Niveau anzuheben, wird die von den deutschen Parteien gewünschte Harmonisierung wohl nur durch sanften Druck oder gegen Zugeständnisse in anderen Bereichen möglich sein. Immerhin werden sie dabei andere Länder wie Frankreich an ihrer Seite haben, die ebenfalls an dem steuerpolitischen Unterbietungswettbewerb in der EU zu leiden haben.

Kampf gegen Steuerhinterziehung

Ähnliches gilt auch für den europaweiten Kampf gegen Steuerhinterziehung, den sich sämtliche deutschen Parteien als Ziel ins Programm geschrieben haben. Besonders populär ist für diesen Zweck der bessere Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten (etwa durch eine Ausweitung der Zinsertragsrichtlinie, die die Europäische Kommission vor einigen Monaten vorgeschlagen hat) – eine Maßnahme, die SPD, Grüne, Linke und FDP gleichermaßen unterstützen.

Darüber hinaus haben vor allem die Oppositionsparteien noch weitere Ideen, um Steuerflucht zu bekämpfen: Die Grünen etwa wollen die Steuerpflicht von Privatpersonen „wie die USA an die Nationalität koppeln und so Steuervermeidung per Wegzug verhindern“. Außerdem sollen eine „europäische schwarze Liste“ mit Steueroasen eingeführt und Finanztransaktionen in und aus diesen Ländern europaweit mit einer Strafsteuer belegt werden. Transnational aktive Unternehmen sollen bei der Steuererklärung „länderbezogene Offenlegungspflichten“ haben und ihre Gewinne jeweils „in den Ländern versteuern müssen, in denen sie erwirtschaftet werden“. Zudem sollen „kooperationsunwillige Banken“, die „wiederholt und schwerwiegend gegen Steuergesetze verstoßen“, europaweit die Lizenz verlieren. Diesen letzten Vorschlag unterstützt auch die Linke, die außerdem noch „automatische Meldepflichten für Banken“, „die Möglichkeit, verdächtige Guthaben einzufrieren“ sowie die Einführung von „Kapitalverkehrskontrollen“ fordert. Die SPD wiederum macht sich die europaweite Bekämpfung des Betrugs bei der Umsatzsteuer zum Ziel.

Etwas unklar bleibt in all diesen Fällen allerdings, auf welchem Weg diese Ziele erreicht werden sollen. Vertragliche Grundlage wäre auch in diesem Fall Art. 115 AEUV, der einen einstimmigen Beschluss aller nationalen Regierungen im Ministerrat voraussetzt. Dort aber haben sich bislang Österreich und Luxemburg eifrig quergestellt – um ihre Ziele umzusetzen, müsste es der nächsten deutschen Bundesregierung also noch gelingen, diese beiden Länder umzustimmen. Oder sie greift auf den Plan B zurück, den die SPD im Programm hat: Diese nämlich möchte den „Kampf gegen Steuerdumping und Steuerbetrug“ künftig auch zur „Bedingung für Finanzhilfen im Rahmen der Euro-Rettungspakete“ machen. Damit würde man zwar nicht alle Mitgliedstaaten erreichen, aber immerhin einige von denen, die am meisten unter den Folgen von Steuerhinterziehung leiden. (Und die zugleich natürlich am wenigsten Widerstand gegen Vorschläge aus Deutschland leisten können.)

Fazit

Nach dem Inkrafttreten des Fiskalvertrags steht die europäische Kontrolle der nationalen Haushaltsausgaben für die deutschen Parteien nicht mehr im Zentrum der politischen Debatte. Stattdessen richtet sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf die Einführung von Mindeststandards auf der Einnahmeseite. Um die Steuerkonkurrenz zwischen den Mitgliedstaaten zu verringern, wollen sich fast alle Parteien für eine europaweite Harmonisierung bestimmter Steuersätze und für eine effektivere Bekämpfung von Steuerflucht und Steuerhinterziehung einsetzen. Das größere Engagement zeigt dabei allerdings die derzeitige Opposition, besonders die Grünen: Außer für Unternehmensgewinne und Finanztransaktionen wollen sie auch für große Vermögen und Einkommen eine europaweite Mindestbesteuerung festlegen. Am Ende wird es wohl vor allem darauf ankommen, für welche dieser Maßnahmen sich im Ministerrat der nötige Konsens aller Mitgliedstaaten finden lässt.


Bild: By User Exxu on de.wikipedia (Own work) [Public domain], via Wikimedia Commons.

29 Juli 2013

Die Bundestagswahl und Europa (1): Warum wir im nationalen Wahlkampf über Europa reden müssen

Die nationalen Parlamente tragen aktiv zur guten Arbeitsweise der Union bei […].

Ganz so einfach, wie die Inschrift vermuten lässt, ist die Sache nicht: Bei der Bundestagswahl geht es auch um die Zukunft Europas.
In der Frage, wie dem Demokratiedefizit der Europäischen Union am besten abzuhelfen ist, gibt es im Wesentlichen zwei Positionen: Auf der einen Seite stehen die supranationalen Föderalisten, die in erster Linie auf das Europäische Parlament und die Europawahl setzen, Vetorechte der Mitgliedstaaten reduzieren wollen und allgemein eine klarere Aufgabentrennung zwischen der europäischen und der nationalen Ebene anstreben. Den entgegengesetzten Standpunkt vertreten die Intergouvernementalisten. Sie verstehen die Europäische Union weniger als eine eigenständige überstaatliche Ebene, sondern eher als eine Art multilaterales Forum, in dem die Mitgliedstaaten zu einem Meinungsaustausch und Interessenausgleich und schließlich zu gemeinsamen Entscheidungen kommen.

Demokratische Legitimität erwarten sich die Intergouvernementalisten deshalb auch nicht vom Europäischen Parlament (an dessen Wahl sich ein Großteil der Bevölkerung ohnehin nicht beteiligt), sondern vielmehr von den nationalen Parlamenten. Denn schließlich ist an fast allen europäischen Beschlüssen der Ministerrat beteiligt, der sich aus Vertretern der nationalen Regierungen zusammensetzt – und diese Regierungen sind ihren nationalen Parlamenten gegenüber verantwortlich, die ihrerseits direkt von der Bevölkerung gewählt sind. Auf diese Weise lässt sich eine Kette konstruieren, bei der die nationalen Wahlen zugleich auch zur demokratischen Legitimation der Europäischen Union dienen. Indem die Menschen in den Mitgliedstaaten ihr jeweiliges nationales Parlament wählen, geben sie zugleich auch ihr Votum über die Ausrichtung der gesamteuropäischen Politik ab.

Schwächen des europäischen National-Parlamentarismus

Mir persönlich kam dieses intergouvernementalistische Argument (das von Giandomenico Majone bis Richard Bellamy einige prominente Vertreter hat) nie besonders überzeugend vor, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens ist dem Versuch, europäische Politik über die nationalen Parlamente zu legitimieren, immer eine Veto-Logik inhärent, die die EU als Ganzes schwerfällig und oft entscheidungsunfähig macht. Zweitens sind 28 nationale Demokratien nicht dasselbe wie eine europäische: Dass der Parlamentarismus so gut politische Legitimität erzeugen kann, liegt nicht zuletzt daran, dass die Bürger bei den Wahlen einer Partei oder Koalition eine Mehrheit erteilen können, damit diese anschließend ihr Programm umsetzt. Auf europäischer Ebene jedoch funktioniert dieser Mechanismus nicht: Denn auch wenn jede Regierung von ihrem nationalen Parlament kontrolliert wird, ist für die Entscheidungen des Ministerrats vor allem das Kräfteverhältnis zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten entscheidend, auf das die Bürger kaum einen Einfluss haben. Vor allem in der Eurokrise hat der Einfluss des Rates und das Machtungleichgewicht zwischen den Mitgliedstaaten so weit zugenommen, dass für die Bürger vieler südeuropäischer Länder die Wahl zum Deutschen Bundestag wichtiger ist als die zu ihrem eigenen Parlament. Nur dass sie bei der Bundestagswahl eben nicht teilnehmen dürfen.

Die dritte Schwäche des europäischen Nationalparlamentarismus aber besteht darin, dass europäische Themen bei nationalen Wahlen in aller Regel schlicht keine Rolle spielen. So funktioniert etwa das Ernennungsverfahren für die Europäische Kommission (mit Ausnahme des Kommissionspräsidenten) derzeit im Wesentlichen so, dass jede nationale Regierung einen Kommissar vorschlägt, der dann von allen übrigen Beteiligten abgenickt wird. Es ist daher nicht ganz abwegig zu behaupten, dass die demokratische Legitimität des nächsten deutschen Kommissionsmitglieds in erster Linie auf dem Ergebnis der Bundestagswahl im nächsten September beruhen wird. Aber spielt das im Wahlkampf irgendeine Rolle? Gewiss, wer aufgepasst hat, der weiß, dass die SPD (SPE) gern Martin Schulz in der nächsten Kommission sehen will. Aber die CDU (EVP)? Noch einmal Günther Oettinger? Über die Frage wird noch nicht einmal diskutiert.

Europäische Pläne der nationalen Parteien

Dabei ist es durchaus nicht so, dass die deutschen Parteien selbst sich der europäischen Bedeutung der Bundestagswahl nicht bewusst wären. Liest man ihre Wahlprogramme – das der CDU/CSU (EVP), der SPD (SPE), der FDP (ALDE), der Grünen (EGP) und der Linken (EL) –, dann findet man nicht nur in jedem einen Abschnitt zur Europapolitik (der mal mehr, mal weniger ausführlich ausfällt). Auch in den anderen thematischen Abschnitten wimmelt es geradezu von europäischen Bezügen. Ob in der Wirtschafts- und Finanzpolitik, bei Energiewende und Klimaschutz, in der Landwirtschaft, dem Verbraucherschutz oder der Außen- und Verteidigungspolitik: Immer wieder kündigen die Parteien an, dass sie diese oder jene Maßnahme nicht allein auf nationaler Ebene einführen, sondern sich für einen entsprechenden Beschluss im EU-Rahmen einsetzen wollen.

In der Öffentlichkeit aber spielt diese europäische Agenda der deutschen Parteien kaum eine Rolle. Das ist zum einen wenig verwunderlich, denn die Ankündigung, eine Partei werde nach ihrem Wahlsieg auf nationaler Ebene dies und jenes tun, ist für die Medien natürlich ungleich spannender als die, eine Partei werde auf europäischer Ebene dies und jenes anstreben, in der ungewissen Hoffnung, dafür auch unter den anderen Regierungen im Ministerrat eine Mehrheit zu gewinnen. Zum anderen ist es aber auch sehr zu bedauern. Denn noch funktioniert die EU ja tatsächlich in vielen Bereichen vor allem wie ein intergouvernementaler Verbund und ist daher zu ihrer Legitimation auf die nationalen Parlamentswahlen angewiesen. Nicht zuletzt wegen der Eurokrise haben wir in den nächsten Jahren einige große Veränderungen in der europäischen Politik zu erwarten, die vor allem von den nationalen Regierungen und Parlamenten beschlossen werden müssen. Wenn wir als Wahlbürger eine demokratische Debatte darüber führen wollen, dann wäre jetzt also die beste Gelegenheit dafür.

In den nächsten Wochen soll es deshalb in diesem Blog eine Serie über die europäischen Pläne in den Wahlprogrammen der fünf großen deutschen Parteien geben. Dabei wird mehreren großen Themenbereichen in loser Folge jeweils ein Artikel gewidmet sein. Ziel soll es sein, vor allem jene Vorschläge zu vergleichen, mit denen die Parteien ausdrücklich nicht nur nationales, sondern auch gesamteuropäisches Recht setzen wollen. Denn am 22. September werden die Deutschen eben nicht nur die Abgeordneten ihres nationalen Parlaments wählen – sondern indirekt auch ihre Vertreter in allen intergouvernementalen Organen der Europäischen Union.

Die Bundestagswahl und Europa – Überblick:

1: Warum wir im nationalen Wahlkampf über Europa reden müssen
2: Haushaltskontrolle, Steuerharmonisierung, Kampf gegen Steuerflucht
3: Eurobonds, Schuldentilgungsfonds, Staateninsolvenz
4: Wachstum, Beschäftigung, Abbau wirtschaftlicher Ungleichgewichte
5: Soziale Mindeststandards, Mitbestimmung, öffentliche Daseinsvorsorge
6: Finanzmarktregulierung, Ratingagenturen, Bankenunion
7: Klimaziele, Emissionshandel, Energiewende
8: Agrarpolitik, Lebensmittelsicherheit, Umwelt
9: Netzpolitik, Datenschutz, Urheberrecht
10: Gemeinsame Außenpolitik, Rüstungskoordinierung, EU-Armee
11: Entwicklungspolitik, Transatlantische Freihandelszone, Beziehungen zu anderen Staaten
12: Migration, Schengen-Raum, Asylpolitik
13: EU-Konvent, Demokratie, Erweiterung

Bild: By RudolfSimon (Own work) [GFDL or CC-BY-SA-3.0-2.5-2.0-1.0], via Wikimedia Commons.

22 Juli 2013

Kadi II ist nicht Solange II: Die EU-Grundrechte, der UN-Sicherheitsrat und das Weltverfassungsgericht

Von außen sieht der EuGH in Luxemburg dem UN-Gebäude in New York zum Verwechseln ähnlich.
Am vergangenen Donnerstag ist in Luxemburg das jüngste Urteil in der Angelegenheit Kadi gefallen. Dabei handelt es sich ohne Zweifel um eine der interessantesten Rechtssachen überhaupt, die in den letzten Jahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) verhandelt wurden. Schon der Hintergrund des Falls erinnert an einen Hollywood-Thriller: Unter anderem geht es dabei um Al-Qaida, die Taliban, den UN-Sicherheitsrat und um einen Mann, der eines Tages weltweit als Terrorist geächtet war, ohne auch nur die Gründe dafür zu erfahren. Das Urteil selbst wiederum dürfte nicht nur für die Rechtsordnung der EU, sondern auch für die der Vereinten Nationen von bleibender Bedeutung sein.

Der Fall

Die Vorgeschichte des Falls Kadi geht bereits auf das Jahr 1998 zurück, als eine Gruppe Terroristen um Osama bin Laden Bombenanschläge auf die US-amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania verübte und sich anschließend nach Afghanistan flüchtete, wo ihm die Taliban Zuflucht gewährten. Nachdem die USA vergeblich seine Auslieferung gefordert hatten, wandten sie sich an den UN-Sicherheitsrat. Im Oktober 1999 verabschiedete dieser einstimmig eine Resolution, in der er alle Staaten verpflichtete, alle Finanzmittel im Besitz der Taliban einzufrieren. Wessen Vermögen damit genau gemeint war, sollte ein „Sanktionsausschuss“ festlegen. Dieser setzte sich aus Vertretern all jener Staaten zusammen, die auch dem Sicherheitsrat angehören. In nicht-öffentlichen Sitzungen erstellte er eine Liste von Taliban-Mitgliedern, deren Konten alle UN-Mitgliedstaaten sperren mussten.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 weitete der Sicherheitsrat die Zuständigkeiten dieses Sanktionsausschuss in einer neuen Resolution noch einmal aus. Die Liste der Taliban-Mitglieder wurde um etliche Personen ergänzt, die man verdächtigte, mit Al-Qaida zusammenzuarbeiten (ihre aktuelle Fassung findet sich hier). Und neben vielen anderen kam dabei auch der saudi-arabische Geschäftsmann Yassin Kadi auf die Liste, der einen Teil seines Vermögens in der Europäischen Union angelegt hatte.

Die EU selbst hatte sich in der Anti-Terror-Politik eher auf eine passiv-ausführende Rolle verlegt: In mehreren Verordnungen hatte der Ministerrat die einschlägigen UN-Resolutionen samt „Terroristenliste“ in europäisches Recht umgesetzt; die Kommission wurde beauftragt, die Liste zu aktualisieren, wann immer der Sanktionsausschuss einen neuen Namen darauf setzte. Am 20. Oktober 2001 wurden deshalb durch eine Durchführungsverordnung sämtliche Finanzmittel von Yassin Kadi in der EU eingefroren. Zwei Monate später erhob Kadi gegen diese Verordnung Klage vor dem Europäischen Gerichtshof.

Individueller Grundrechtsschutz oder Vorrang des UN-Rechts?

Dabei zielte das Argument, mit dem Kadis Anwälte dem Rat und der Kommission entgegentraten, in den Kern des europäischen Rechtsstaatsverständnisses selbst: Denn offensichtlich war er in die UN-Terroristenliste – und damit auch in die entsprechende Verordnung der EU – ohne irgendeine Form von rechtlichen Verfahren aufgenommen worden. Mit dem Einfrieren seines Vermögens war er bestraft worden, ohne dass man vor einem Gericht seine Schuld bewiesen hätte, ja sogar (da der Sanktionsausschuss für die Aufnahme von Namen in die Liste keine spezifischen Gründe angeben musste) ohne dass ihm einzelne Tatvorwürfe bekannt gewesen wären. Die entsprechenden Verordnungen verstießen daher, so Kadi, gegen sein Grundrecht auf rechtliches Gehör und eine effektive gerichtliche Kontrolle.

Der Rat widersprach dieser Position mit einem eher formellen, aber darum kaum weniger gravierenden Argument: Er verwies darauf, dass die Terroristenliste ja nicht von ihm selbst, sondern vom UN-Sanktionsausschuss im Namen des UN-Sicherheitsrats beschlossen worden war, und dass die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen (und damit auch alle Mitgliedstaaten der EU) gemäß Art. 25 UN-Charta dazu verpflichtet sind, den Beschlüssen des Sicherheitsrates Folge zu leisten. Da die UN-Resolutionen mit der Terroristenliste zudem keinerlei Umsetzungsspielraum ließen, könne die EU sie nur 1:1 übernehmen. Alles andere, so der Rat, würde gegen das Völkerrecht verstoßen, zu dessen Einhaltung sich die EU verpflichtet habe.

Das erste Kadi-Urteil

Für die EU-Richter ergab sich damit ein Dilemma zwischen dem Respekt vor der Rechtsordnung der Vereinten Nationen einerseits und der Verteidigung der individuellen Grundrechte andererseits. In einer ersten Entscheidung (Wortlaut) gab das Europäische Gericht erster Instanz (EuG) 2005 zunächst dem Ministerrat Recht: Für „die Frage, ob eine Person oder eine Organisation eine Bedrohung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit darstellt, wie auch die Frage, welche Maßnahmen gegenüber den Betroffenen zu ergreifen sind, um dieser Bedrohung zu begegnen“, sei allein der UN-Sicherheitsrat zuständig, und es falle nicht in die Zuständigkeit des europäischen Gerichts, „die Vereinbarkeit der fraglichen Resolutionen des Sicherheitsrats selbst mit den durch die Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten [zu] prüfen“.

Dagegen jedoch legte Kadi Rechtsmittel ein. Sein Fall kam deshalb vor den EuGH, der ihm 2008 schließlich Recht gab. In seinem Urteil (Wortlaut) erklärte das höchste EU-Gericht, dass es eine grundsätzlich umfassende“ Grundrechtskontrolle aller EU-Rechtsakte gewährleisten müsse, „und zwar auch in Bezug auf diejenigen Handlungen […], [die] der Umsetzung von Resolutionen des Sicherheitsrats nach Kapitel VII der UN-Charta dienen sollen“. Die umstrittene Verordnung sei daher, wenigstens was Yassin Kadi betraf, für nichtig zu erklären.

Ein europäisches „Solange I“

Unter Völker- und Europarechtlern sorgte dieses erste Kadi-Urteil des EuGH für einige Aufmerksamkeit. Schickte sich der Gerichtshof hier zu einer Art Rebellion gegen den UN-Sicherheitsrat an? Sollte ausgerechnet die Europäische Union, Vorreiter bei der Entwicklung einer supranationalen Verfassungsordnung, der Konstitutionalisierung des Völkerrechts einen solchen Knüppel zwischen die Beine werfen?

Besonders häufig aber wurde das Kadi-Urteil in dieser Debatte mit dem „Solange-I-Beschluss“ (Wortlaut) verglichen, mit dem das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 1974 Rechtsgeschichte schrieb. Damals ging es um einen weniger spektakulären, in der Problematik jedoch ähnlich gelagerten Fall: Ein deutsches Unternehmen hatte geklagt, dass eine EG-Verordnung gegen bestimmte Grundrechte verstoße, die ihm nach dem deutschen Grundgesetz zustünden. In einem Vorlageverfahren hatte der EuGH daraufhin nur auf den Vorrang des Europarechts verwiesen: Die Verordnung könne nicht einfach unter Verweis auf nationale Grundrechte ignoriert werden, da sonst jeder Staat die Möglichkeit hätte, EG-Beschlüsse im Alleingang zu sabotieren. Das BVerfG widersprach dem jedoch: Auch wenn das Europarecht prinzipiell Vorrang habe, könne es nicht einfach den deutschen Grundrechtsschutz aushebeln. Das BVerfG werde daher auch weiterhin europäische Rechtsakte einer Grundrechtskontrolle unterziehen, „solange“ (daher der Name des Urteils) die europäische Integration „nicht so weit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht auch einen […] Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist“.

Mit dem Kadi-Urteil übertrug der EuGH 2008 offenbar das Prinzip, das das BVerfG 1974 für das Verhältnis zwischen deutschem und europäischem Recht aufgestellt hatte, auf das Verhältnis zwischen europäischem und UN-Recht. Tatsächlich wurde dies in einem späteren Verfahren bis in die Formulierungen hinein deutlich: Nachdem der EuGH die erste Verordnung gegen Yassin Kadi für nichtig erklärt hatte, fertigte die Kommission nämlich kurzerhand eine neue an, in der sie sein Vermögen erneut einfrieren ließ (Wortlaut). Kadi zog daraufhin erneut vor Gericht und erhielt diesmal schon in erster Instanz Recht. In seinem Urteil (Wortlaut) erklärte das EuG 2010 noch einmal, dass es auf eine Grundrechtskontrolle nicht verzichten werde – und zwar „solange [!] die vom [UN-]Sanktionsausschuss geschaffenen Überprüfungsverfahren offenkundig nicht die Garantien eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes bieten“.

Solange II: Anerkennung für die Grundrechtssprechung des EuGH

Allerdings war das noch nicht das Ende der Geschichte. Schon 1974 wollte sich der EuGH nämlich nicht einfach damit abfinden, dass das deutsche Bundesverfassungsgericht europäische Rechtsakte einer nationalen Grundrechtskontrolle unterzog. In den folgenden Jahren begannen die europäischen Richter deshalb eine eigene Grundrechtssprechung zu entwickeln – nicht auf Basis eines festen Katalogs (der kam erst 2009 mit der EU-Grundrechtecharta), sondern anhand weitgehend selbst erfundener Grundrechte, die sie aus den „gemeinsamen Verfassungstraditionen“ der Mitgliedstaaten ableiteten.

Damit allerdings waren sie so überzeugend, dass das BVerfG 1986 in dem berühmten „Solange-II-Beschluss“ (Wortlaut) seine Entscheidung von 1974 revidierte. Es erklärte nun, dass es künftig bei europäischen Rechtsakten auf eine eigene nationale Grundrechtskontrolle verzichten werde, „solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des [EuGH] einen wirksamen Schutz der Grundrechte […] gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist“. Wenigstens was Grundrechtsfragen betrifft, sind die Konflikte zwischen europäischer und nationaler Rechtsordnung seitdem weitgehend beigelegt. Die Beziehung zwischen BVerfG und EuGH gilt heute offiziell als „Kooperationsverhältnis“, und beide respektieren die Grundrechtssprechung des jeweils anderen als im Wesentlichen gleichwertig mit ihrer eigenen.

Kadi II: Bietet ein UN-Ombudsmann schon effektiven Rechtsschutz?

Der Vergleich zwischen dem Kadi-Urteil und dem Solange-I-Beschluss ging deshalb bei vielen Beobachtern mit der Hoffnung einher, dass auch der EuGH einmal zu einer Art Solange II gelangen würde: zu einem neuen Urteil, das – nach entsprechenden Verbesserungen des Grundrechtsschutzes auf UN-Ebene – die europäische und die globale Rechtsordnung wieder miteinander versöhnen würde. Und tatsächlich reagierte der UN-Sicherheitsrat auf das Kadi-Urteil, indem er den Schutz für Terrorverdächtige etwas verbesserte. Seit 2006 müssen Staaten, die einen Namen auf die Liste des Sanktionsausschusses setzen wollen, dafür Gründe vorlegen. Seit 2009 werden diese Gründe teilweise veröffentlicht; außerdem wurde das neue Amt eines Ombudsmanns geschaffen, an den sich Menschen wenden können, die zu Unrecht auf der Liste stehen. Der Ombudsmann erstellt dann einen Bericht und gibt eine Empfehlung ab. Ob der Name wirklich von der Liste gestrichen wird, entscheidet aber weiterhin allein der Sanktionsausschuss.

Ist dies nun schon eine Garantie auf rechtliches Gehör und effektive gerichtliche Kontrolle? Die Europäische Kommission und der Ministerrat jedenfalls legten nach dem EuG-Urteil im zweiten Kadi-Verfahren 2010 Rechtsmittel vor dem EuGH ein und stützen sich dabei auf das Argument, dass die Vereinten Nationen inzwischen mit dem Ombudsmann ja selbst eine Art Rechtsschutz gegen Beschlüsse des Sanktionsausschusses böten. Auch der Generalanwalt des EuGH, Yves Bot, schloss sich dieser Sichtweise an. In seinem Schlussantrag (Wortlaut) betonte er das „gegenseitige Vertrauen“, das zwischen EU und UN herrschen sollte, und verwies darauf, dass „die Achtung der Grundrechte ein gemeinsamer Wert dieser beiden Organisationen“ sei. Scheinbar gestärkt wurde diese Position noch dadurch, dass Yassin Kadi selbst im Oktober 2012 nach einem Ombudsmann-Antrag vom UN-Sanktionsausschuss aus der Terroristenliste gestrichen und sein eingefrorenes Vermögen wieder freigegeben wurde. Würde der EuGH also zurückrudern?

Er tat es nicht. In dem Urteil von letztem Donnerstag, das den Schlusspunkt unter das Kadi-II-Verfahren setzte (Wortlaut), bekräftigte er nachdrücklich, dass „die auf Ebene der UNO eingeführten Verfahren […] – trotz der daran […] vorgenommenen Verbesserungen – der Person, deren Name in der [Terroristenliste] aufgeführt ist, nicht die Gewähr eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes bieten“. Ein Ombudsmann könne eben kein Gericht ersetzen. Und daher werde der EuGH auch künftig nicht auf eine eigene europäische Grundrechtskontrolle von UN-Beschlüssen verzichten.

Argument für ein Weltverfassungsgericht

Anders als mancher Freund der Vereinten Nationen hoffte, ist Kadi II also nicht zu einem europäischen Solange II geworden. Weiterhin erkennt der EuGH die UN-Rechtsordnung gewissermaßen nur unter Vorbehalt an; weiterhin behält er sich vor, die Umsetzung von völkerrechtlich verpflichtenden Resolutionen des UN-Sicherheitsrats unter Verweis auf europäische Grundrechte zu verweigern. Aber was bedeutet das nun für die Konstitutionalisierung des Völkerrechts, von der sich so viele von uns eine bessere, gerechtere und demokratischere Weltordnung erhoffen?

In meinen Augen ist in dieser Sache noch nicht das letzte Wort gesprochen. Denn so sehr ich die Skepsis des EuGH gegenüber dem UN-Sanktionsausschuss und seinem Ombudsmann teile: Langfristig kann es nicht unser Ziel sein, die EU von einem immer weiter ausgreifenden Völkerrecht abzuschotten. Vielmehr müssen wir die Völkerrechtsordnung selbst demokratischer und rechtsstaatlicher machen. Ein erster wichtiger Schritt auf diesem Weg wäre die Einrichtung eines Weltverfassungsgerichts, das künftig das Handeln der übrigen UN-Organe an einer neuen Grundrechtecharta messen könnte. Ausgangspunkt für diese globale Charta könnten etwa die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte oder die beiden Internationalen Pakte über bürgerliche und politische sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sein. Auf dieser Basis könnte das Weltverfassungsgericht in Fällen wie dem von Yassin Kadi zu einem globalen Grundrechtsgaranten werden – und zu einem wichtigen Gegengewicht für den UN-Sicherheitsrat, der nach dem heutigen Völkerrecht nahezu unumschränkt schalten und walten kann, ohne dabei auf die Rechte des Einzelnen Rücksicht zu nehmen.

Natürlich würde die Einrichtung eines Weltverfassungsgerichts eine Reform der UN-Charta erfordern. Natürlich wird es Widerstände dagegen geben. Und natürlich ist ein Erfolg nicht in den nächsten paar Jahren zu erwarten. Trotzdem stünde es der EU gut an, dieses Ziel so bald wie möglich auf die globale Agenda zu setzen. Denn wie es so treffend im Kadi-II-Urteil heißt:
Eine solche gerichtliche Kontrolle ist unerlässlich, um einen gerechten Ausgleich zwischen der Erhaltung des internationalen Friedens und der internationalen Sicherheit und dem Schutz der Grundfreiheiten und -rechte der betroffenen Person, die gemeinsame Werte der UNO und der Union darstellen, zu gewährleisten.

Bild: Gwenaël Piaser [CC BY-NC-SA-2.0], via Flickr.

14 Juli 2013

Europawahl 2014: Wie die europäischen Parteien ihre Spitzenkandidaten wählen

Präsidentschaftskandidaten brauchen in den USA oft schon für den Vorwahlkampf ein Stadion. In Europa genügte dafür bislang ein Hinterzimmer. Aber das soll sich ändern.
Wenn es nach dem Europäischen Parlament geht, dann soll die nächste Europawahl – und besonders der nächste Europawahlkampf – etwas ganz Besonderes werden. In der Entschließung „über verbesserte praktische Vorkehrungen für die Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahre 2014“, die sie vor einigen Tagen verabschiedeten, appellieren die Europaabgeordneten jedenfalls eindringlich an alle beteiligten Akteure, diesmal doch bitte endlich die europäische Dimension der Wahl in den Vordergrund zu stellen: Unter anderem fordern sie die nationalen Parteien auf, „die Bürgerinnen und Bürger vor und während der Wahlkampagne über ihre Zugehörigkeit zu einer europäischen Partei sowie über […] deren politisches Programm zu informieren“. Außerdem werden die Mitgliedstaaten gebeten, „politische Werbesendungen der europäischen Parteien zuzulassen“ und „dafür Sorge zu tragen, dass die Namen – und gegebenenfalls die Embleme – der europäischen Parteien auf dem Stimmzettel abgedruckt sind“. Klingt banal? Bemerkenswerterweise würde es sich bei all diesen Maßnahmen um Neuheiten in der Geschichte der Europawahlen handeln.

Die eigentliche Besonderheit aber werden die Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten sein, die die europäischen Parteien 2014 erstmals schon vor der Wahl nominieren werden. Grundlage dafür ist Art. 17 Abs. 7 EU-Vertrag, wo es zur Wahl des Kommissionspräsidenten heißt:
Der Europäische Rat schlägt dem Europäischen Parlament nach entsprechenden Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor; dabei berücksichtigt er das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder.
In der Vergangenheit wurde dieses Verfahren meist so umgesetzt, dass die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat weitgehend freihändig einen Kandidaten aussuchten, den das neu gewählte Parlament dann abnickte, um keine institutionelle Krise auszulösen. Demgegenüber setzte sich in den letzten Jahren jedoch die Überzeugung durch, dass das Vorschlagsrecht des Europäischen Rates eher als ein formeller Akt zu verstehen sein sollte, ähnlich wie das des deutschen Bundespräsidenten bei der Wahl des Bundeskanzlers nach Art. 63 GG. Die eigentliche Entscheidung hingegen sollen die Bürger selbst treffen, indem sie bei der Europawahl einer Partei und einem Spitzenkandidaten zu einer Mehrheit im Parlament verhelfen. Die Europaabgeordneten jedenfalls erwarten in ihrer Entschließung, dass bei der Ernennung des Kommissionspräsidenten „der Kandidat [...], der von der europäischen Partei unterstützt wurde, die die meisten Sitze im Parlament errang, als Erster den Versuch unternehmen darf, sich die Unterstützung der benötigten absoluten Mehrheit im Parlament zu sichern“.

Die Kandidatenfrage

Es braucht hier wohl nicht eigens betont zu werden, welche demokratischen Vorteile dieses neue Verfahren mit sich bringt. Zum einen gibt es den Bürgern bei der Besetzung eines der wichtigsten Ämter der EU einen viel direkteren Einfluss; zum anderen wird es zu einer Personalisierung und damit zu einer größeren Medienpräsenz der Europapolitik führen. Außerdem wahrt es das institutionelle Gleichgewicht zwischen Parlament und Kommission und vermeidet dadurch eine Reihe von Problemen, die mit einer Direktwahl des Kommissionspräsidenten verbunden wären.

Zugleich jedoch bringt das neue Verfahren auch eine Herausforderung für die europäischen Parteien mit sich, die die Kommissionspräsidentschaftskandidaten nominieren müssen. Schon auf nationaler Ebene sind Kandidatenfragen oft hart zwischen den verschiedenen Flügeln einer Partei umstritten – um wie viel größer ist erst das Konfliktpotenzial für die heterogeneren und weniger vernetzten europäischen Parteien. Wie einigt man sich auf einen Kandidaten, der in den nationalen Öffentlichkeiten von 28 Mitgliedstaaten gleichermaßen Zugkraft entwickeln kann? Wie geht man dabei mit den Befindlichkeiten der nationalen Mitgliedsparteien um, welche Rolle gibt man im Nominierungsverfahren den einzelnen Parteimitgliedern? Und vor allem: Wie kann man sicherstellen, dass bei der Nominierung tatsächlich ein transnationaler Meinungsbildungsprozess stattfindet – und nicht nur jede nationale Mitgliedspartei einen Kandidaten aus dem eigenen Land zu puschen versucht?

Zwei Parteien haben bereits eine Antwort auf diese Fragen gegeben, nämlich die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) und die Europäische Grüne Partei (EGP). Beide haben auf Kongressen in den vergangenen Jahren ein mehrstufiges Verfahren und einen Zeitplan für die Nominierung ihrer Spitzenkandidaten beschlossen.

Die primaries der SPE

Bei der SPE stehen während des gesamten Verfahrens die 38 Mitgliedsverbände (33 nationale Mitgliedsparteien sowie fünf Mitgliedsorganisationen, etwa der SPE-Jugendverband YES) im Mittelpunkt. Ein Kandidat, der sich für das Amt des Kommissionspräsidenten aufstellen lassen will, muss dafür zunächst bis Ende Oktober 2013 die schriftliche Unterstützung von seiner eigenen nationalen Partei sowie von mindestens fünf weiteren Mitgliedsverbänden einwerben. Dabei kann jeder Verband nur einen Kandidaten unterstützen, sodass es insgesamt maximal sechs Kandidaten geben kann, die alle aus unterschiedlichen Ländern kommen.

Die endgültige Entscheidung zwischen diesen bis zu sechs Kandidaten fällt schließlich im Februar 2014 auf einem SPE-Parteikongress, zu dem jeder der 38 Mitgliedsverbände eine bestimmte Anzahl von Delegierten entsendet. Die Zahl der Delegierten jeder nationalen Mitgliedspartei orientiert sich dabei grob an der Einwohnerzahl ihres Landes sowie an der Zahl der Sitze, die sie bei der letzten Europawahl gewonnen hat. (Bei dem letzten Parteikongress 2012 etwa waren es 345 Delegierte, darunter 28 der deutschen SPD, 9 der österreichischen SPÖ und 4 der luxemburgischen LSAP.)

Allerdings sind die Delegierten in ihrer Wahl nicht frei. Vielmehr führt jeder der 38 Mitgliedsverbände zuvor zwischen Dezember 2013 und Januar 2014 eine interne Abstimmung durch, für wen seine Delegierten auf dem Kongress stimmen müssen. Deren genauer Ablauf ist den Verbänden selbst überlassen; Voraussetzung ist nur eine „direkte oder indirekte Konsultation der Mitglieder“. Die Ergebnisse werden dann proportional auf die Delegierten übertragen: Wenn sich also zum Beispiel drei Viertel der SPD-Mitglieder für Kandidat A und ein Viertel für Kandidat B aussprechen, so müssten auf dem Parteikongress 21 der 28 SPD-Delegierten für A und 7 für B stimmen. Wer auf dem Kongress die Mehrheit der Delegiertenstimmen auf sich vereinigt, wird schließlich zum Spitzenkandidaten der SPE erklärt.

Insgesamt erinnert dieses Verfahren stark an die primaries, mit denen die US-amerikanischen Parteien ihre Präsidentschaftskandidaten nominieren. Wie partizipatorisch es letztlich wird, ist allerdings noch nicht sicher vorauszusagen. So könnte es sein, dass schon in der ersten Phase zu viele potenzielle Kandidaten an den erforderlichen sechs Unterstützungserklärungen scheitern, sodass die Auswahl zuletzt sehr begrenzt ist. Oder die Konsultationen der nationalen Parteimitglieder könnten allzu „indirekt“ ausfallen, sodass der Spitzenkandidat letztlich hinter weitgehend geschlossenen Türen von den nationalen Parteienführungen ausgeklüngelt wird.

Die Online-Vorwahl der EGP

Offener ist demgegenüber das Verfahren der EGP. Hier können die nationalen Parteien zunächst bis zum 19. Oktober 2013 einen oder mehrere Kandidaten nominieren. Diese müssen dann bis zum 7. November Unterstützungserklärungen von mindestens fünf nationalen Mitgliedsparteien vorlegen, wobei diesmal jede Partei nur einen Kandidaten unterstützen kann. Insgesamt wird so auch bei der EGP das Tableau auf maximal sechs Kandidaten reduziert; anders als bei den Sozialdemokraten können dabei aber mehrere Kandidaten aus demselben Land kommen.

Der größte Unterschied allerdings betrifft die zweite Phase des Nominierungsverfahrens. Hier nämlich planen die Grünen im Gegensatz zur SPE keine nationalen Vorwahlen, sondern eine gesamteuropäische – und zwar in Form einer Online-Abstimmung, an der sich alle Unionsbürger über 16 Jahren beteiligen können, die sich zu „den Grundwerten, den politischen Zielen und der politischen Arbeit“ der EGP bekennen. Bei dieser Abstimmung sollen dann zwei Spitzenkandidaten gewählt werden, wobei entsprechend der Parteitradition wohl mindestens einer dieser Kandidaten eine Frau sein soll. Allerdings gibt es dafür bislang noch keine expliziten Verfahrensmechanismen: Wie genau die Online-Abstimmung funktionieren wird, soll erst ein EGP-Parteitag im Herbst 2013 beschließen.

Alles in allem könnte das Auswahlverfahren bei den Grünen also deutlich partizipatorischer werden als bei der SPE. Zwar ist die Online-Abstimmung auch mit einigen technologischen Fallstricken verbunden: Wie kann man im Internet eine sichere und anonyme Wahl organisieren? Und grenzt man damit nicht die weniger internetaffinen Wähler, etwa Ältere oder sozial Schwache aus? Vor allem aber wird sie die erste genuin transnationale Abstimmung in der europäischen Geschichte sein: Erstmals werden Bürger in allen Mitgliedstaaten zur selben Zeit eine Auswahl zwischen denselben Kandidaten treffen – und allein das verspricht schon ein demokratiepolitischer Höhepunkt zu werden.

Und die EVP?

Weniger vielversprechend sind hingegen die Pläne der übrigen europäischen Parteien. Zwar haben auch die christdemokratische EVP und die liberale ALDE angekündigt, dass sie zur Europawahl mit eigenen Spitzenkandidaten antreten werden, doch bislang hat keine von ihnen dafür ein Verfahren beschlossen. Die ALDE will sich mit dieser Frage erst auf ihrem Kongress Ende November befassen und dann gegebenenfalls Anfang Februar 2014 einen speziellen Nominierungsparteitag einberufen. Die EVP, die sich neben der SPE die besten Hoffnungen auf den Wahlsieg machen kann, hat hingegen noch gar keinen Zeitplan. Zu der Nominierungsfrage war von ihr zuletzt nur zu hören, dass der polnische Premierminister Donald Tusk (PO/EVP), der immer wieder als möglicher Favorit der Partei genannt worden war, Mitte Juni sein Desinteresse an einer Kandidatur erklärte.

Das ist in mehrerer Hinsicht bedauerlich. Denn natürlich ist es noch immer möglich, dass auch die EVP zuletzt einen spannenden Vorwahlkampf hinlegen wird. Doch je knapper die Zeit wird, desto unwahrscheinlicher wird es, dass dieser transparent und unter breiter Beteiligung von Parteimitgliedern und Sympathisanten abläuft. Es steigt die Gefahr, dass die Christdemokraten zuletzt in aller Eile einen Kandidaten aus dem Hut zaubern, der ebenso uncharismatisch ist und für die europäische Öffentlichkeit ebenso unbekannt bleibt wie all die anderen Kommissionspräsidenten in den letzten zwanzig Jahren. Das aber könnte den demokratischen Impuls dieses Europawahlkampfes insgesamt beschädigen: Denn an wem soll der mühevoll ausgesuchte Spitzenkandidat der SPE sich denn messen, wenn nicht an einem leidenschaftlichen und überzeugten Kandidaten der EVP?

Gemeinsames Interesse an einem spannenden Wahlkampf

Und wir sollten uns nicht täuschen: Noch ist es keineswegs ausgemacht, ob sich die politische Initiative bei der Ernennung des Kommissionspräsidenten tatsächlich dauerhaft vom Europäischen Rat zum Europäischen Parlament verschoben hat. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) jedenfalls äußerte erst vor einigen Wochen ihre Ansicht, „dass es dem Gleichgewicht aller Institutionen guttut, wenn die Staats- und Regierungschefs bei dieser Entscheidung auch gefragt sind“. Und die Süddeutsche Zeitung berichtete kürzlich über die 2014 anstehende Neubesetzung der Spitzenämter in EU und NATO, ohne die europäischen Parteien in dem Artikel auch nur zu erwähnen.

Die Entscheidung über die wichtigsten politischen Ämter der EU in die Hände des Europäischen Parlaments – und damit in die Hände der europäischen Wähler – zu legen, ist ein zentraler Schritt bei der Demokratisierung der Europäischen Union. Mit einem transparenten und partizipatorischen Vorwahlverfahren können die europäischen Parteien jetzt ihren Beitrag dazu leisten. Am Ende haben sie schließlich ein gemeinsames Interesse daran, dass es 2014 einen spannenden Wahlkampf gibt: Ihr Ziel muss es sein, dabei so viel öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen, dass es zuletzt auch die europäischen Bürger für eine Selbstverständlichkeit halten, dass der Kommissionspräsident bei der Europawahl gewählt wird und nicht im Nachhinein unter den Staats- und Regierungschefs ausgeknobelt.

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Umfragen zur Europawahl 2014: Eine Prognose für das nächste Europäische Parlament (2)
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Krisenstaaten wählen links, kleine Länder liberal, und die Christdemokraten sind vor allem in der Eurozone stark: Zur Wahlgeografie der Europäischen Union
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Juncker, Schulz – oder doch ein ganz anderer? Die Chancen im Wettstreit um die Kommissionspräsidentschaft
Nach der Europawahl

Bild: By Bill Morgan [CC BY-NC-ND-2.0], via Flickr.

03 Juli 2013

Warum wir einen Europäischen Konvent brauchen – und wann er kommen könnte

Die Europäische Union wirkte zuletzt etwas derangiert – eine Erneuerung könnte ihr nicht schaden.
Als 1992 mit dem Vertrag von Maastricht die Europäische Union gegründet wurde, da wussten die Unterzeichner, dass die Einigung nicht für ewig gelten würde. In den Schlussbestimmungen des Abkommens war nämlich ausdrücklich ein Artikel eingefügt worden, der vorsah, vier Jahre später eine Konferenz für eine neue Vertragsreform einzuberufen. Das Ergebnis dieser Konferenz war der 1997 verabschiedete Vertrag von Amsterdam. Auch dieser enthielt in einem Protokoll eine solche Revisionsklausel, die die nächste Reform auf „[s]pätestens ein Jahr vor dem Zeitpunkt, zu dem die Zahl der Mitgliedstaaten der Europäischen Union 20 überschreiten wird“, datierte. Es folgte der Vertrag von Nizza 2001, dem eine „Erklärung zur Zukunft der Union“ angehängt war, die ebenfalls schon den Weg für die nächste Vertragsreform festlegte.

Erst im Vertrag von Lissabon wurde mit dieser Tradition gebrochen: In dessen Präambel hieß es nun ausdrücklich, das Abkommen folge „dem Wunsch, den […] Prozess, mit dem die Effizienz und die demokratische Legitimität der Union erhöht und die Kohärenz ihres Handelns verbessert werden sollen, abzuschließen“. Zahlreiche Beobachter werteten das damals als einen klaren Schlusspunkt. Wenige Wochen vor Inkrafttreten des Vertrags stellte der Brüssel-Korrespondent der Zeit, Jochen Bittner, in seinem Europa-Blog fest:
Das Wichtigste am Lissabon-Vertrag dürfte letztlich nicht das sein, was er Europa bringt. Sondern das, was Europa durch ihn verliert. Es verliert die Ausrede, sich zunächst einmal an Haupt und Gliedern straffen zu müssen, bevor es schlagkräftiger in der Welt wirken kann. Die Zeit der Vertragsdebatten ist endgültig vorüber.
Das war Anfang November 2009. Fast auf den Tag genau ein halbes Jahr später beschloss der Europäische Rat an einem abenteuerlichen Wochenende die ersten Notkredite für Griechenland. Es folgten weitere Rettungsaktionen für Irland und Portugal, die Gründung des ersten „Euro-Rettungsschirms“ EFSF als privatrechtliche Aktiengesellschaft, dann der Euro-plus-Pakt, der Fiskalpakt und der ESM als eigenständige völkerrechtliche Abkommen. 2012 erklärte die Gesellschaft für deutsche Sprache „Rettungsroutine“ zum Wort des Jahres. Doch während die Eurokrise immer weiter eskalierte, blieben die EU-Verträge (bis auf eine kleine Ergänzung in Art. 136 AEUV) unangetastet. Statt dass ein Europäischer Konvent, wie im „ordentlichen Änderungsverfahren“ nach Art. 48 EUV vorgesehen, eine umfassende Vertragsreform ausgearbeitet hätte, übten sich die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat in der Kunst der Improvisation. Und die Krise ging weiter und weiter und weiter …

Ein „neuer europäischer Realismus“?

Was lässt sich daraus lernen? Der Brüssel-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, Martin Winter, bot am vergangenen Wochenende seine eigene Interpretation für die ausbleibende Vertragsreform. Die Eurokrise, so schreibt er, habe die „zentrale Gewissheit“ erschüttert, „wonach sich Europa […] unausweichlich immer weiter in Richtung eines Bundesstaates entwickelt“. Sie führe zu einem „neuen europäischen Realismus“ unter den nationalen Regierungen, die erkannt hätten, dass „ihre gemeinschaftliche Basis dünn ist“ und nur „für Notoperationen am Währungssystem“, aber nicht „für den großen politischen Sprung“ ausreiche. Die Krise habe gezeigt, dass die Bindung der Bürger an die EU gering sei und nur die Nationalstaaten die notwendigen „Rettungsmilliarden“ mobilisieren könnten.

Entsprechend sei es auch ganz in Ordnung, dass der Europäische Rat im Institutionengefüge der EU immer mehr Macht gewinne; schließlich seien auch die Kommission und das Europäische Parlament kein „Hort höherer europäischer Weisheit“. Eine Vertragsreform aber sei „in dieser von Ängsten, Unsicherheit und einer wachsenden Euroskepsis geprägten Zeit“ nicht nur riskant, sondern auch unnötig: „Der Vertrag von Lissabon mag nicht perfekt sein, aber die Geschäfte der EU lassen sich mit ihm regeln.“ Wünschenswert sei allenfalls ein „allgemeiner europäischer Kongress“, um „über das Wünschbare im Lichte des Möglichen“ zu reden – wobei Winter offen lässt, wie sich dieser Kongress zusammensetzen und was seine genaue Aufgabe sein sollte.

Ich möchte da, bei allem Respekt, in ungefähr jedem einzelnen Punkt widersprechen. Erstens sind die EU-Verträge in der Fassung von Lissabon eben nicht ausreichend, um die Eurokrise zu überwinden und ihre Wiederholung in Zukunft zu vermeiden. Zweitens ist die Machtverschiebung in Richtung des Europäischen Rates unter einer demokratischen Perspektive alles andere als banal. Drittens gibt es auch unter den Regierungen der Mitgliedstaaten starke Fürsprecher einer Vertragsreform. Und viertens ist die Integrationsmüdigkeit in der europäischen Bevölkerung keineswegs ein unabänderliches Faktum, gegenüber dem die Politik nur resignieren kann. Im Folgenden also in aller Kürze meine Einschätzung, weshalb ein Europäischer Konvent notwendig ist, wann er wahrscheinlich kommen wird und warum er ein Erfolg werden könnte.

Erstens: Die Eurozone braucht ein Transfersystem

Der wichtigste Anlass, sich ausgerechnet jetzt Gedanken um eine große neue Vertragsreform zu machen, sind natürlich die anhaltenden Kalamitäten der Währungsunion. Die Eurokrise hat uns eindrücklich vor Augen geführt, dass das im Vertrag von Maastricht vorgesehene System, bei dem jeder Mitgliedstaat seine eigene Wirtschafts- und Sozialpolitik betreibt und nur durch eine Budgetdefizit-Grenze und eine Nichtbeistandsklausel diszipliniert werden soll, nicht funktionieren kann.

Auch dass die akuten Ängste vor einem Staatsbankrott in den letzten Monaten etwas seltener geworden sind, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Eurozone kein optimaler Währungsraum ist. Tatsächlich ist die Mäßigung der Eurokrise vor allem ein Verdienst der EZB, die mit ihrem OMT-Programm den massiven Aufkauf von Staatsanleihen der Krisenstaaten in Aussicht gestellt hat. Doch dieses Programm kann keine dauerhafte Lösung sein, sondern hat uns allenfalls ein wenig Zeit verschafft, um die nötigen grundsätzlichen Reformen anzugehen. Diese sind in erster Linie institutioneller Art: Bis heute fehlen der Eurozone die interregionalen Stabilisatoren, die sie bräuchte, um asymmetrische Schocks zu bewältigen. Möglichkeiten für solche Stabilisatoren gibt es zuhauf: von der europäischen Arbeitslosenversicherung über einen Konjunkturausgleichsfonds bis zu einem größeren EU-Budget und europäischen Staatsanleihen. Sie alle haben ihre Vor- und Nachteile, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden sollen. Auf jeden Fall aber werden sie zu mehr finanziellen Transfers zwischen den Mitgliedstaaten führen – genau darin besteht ihre Stabilisierungsfunktion, ohne die die Eurozone auf die Dauer nicht überlebensfähig ist.

Nicht jeder dieser Stabilisatoren macht gleich eine Vertragsreform notwendig. So wäre eine Ausweitung des EU-Budgets ohne Weiteres im Rahmen des nächsten mehrjährigen Finanzrahmens möglich, und eine europäische Arbeitslosenversicherung ließe sich wohl notfalls auf Art. 153 AEUV stützen. Doch wenn künftig mehr Geld auf europäischer Ebene umverteilt wird, dann wird zunehmend auch eine europäische Kontrolle über die Verwendung dieser Mittel notwendig. Anstelle der schwachen und weitgehend wirkungslosen Koordinierung der nationalen Wirtschaftspolitiken müsste eine gemeinsame europäische Strategie treten, die von den EU-Organen auch tatsächlich durchgesetzt werden kann.

Und damit stellt sich zuletzt auch die Frage der Machtverteilung und der Demokratie: Wer soll künftig über die Höhe und Ausgestaltung der finanziellen Transfers, wer über die Ausrichtung der europäischen Wirtschaftspolitik entscheiden?

Zweitens: Dem Europäischen Rat fehlt die Legitimation

In den Jahren der Eurokrise ließ sich, wie Martin Winter zu Recht feststellt, eine Machtverschiebung vom Europäischen Parlament und der Europäischen Kommission zu den nationalen Regierungen beobachten. In den bereits vergemeinschafteten Bereichen, etwa der Umwelt- oder Wettbewerbspolitik, leisteten die supranationalen Organe zwar weiterhin gute Arbeit. Doch für die wirtschafts-, finanz- und steuerpolitischen Fragen, die im Mittelpunkt der Krise stehen, fehten ihnen schlicht die Kompetenzen. Insofern ist es nicht überraschend, dass die zentralen Rettungsmaßnahmen alle im Europäischen Rat beschlossen wurden. Aber beweist das schon, dass die Eurozone auch in Zukunft intergouvernemental regiert werden sollte?

Um diese Frage zu beantworten, braucht man nicht einmal darauf zu verweisen, wie schlecht die Erfolgsbilanz der Staats- und Regierungschefs in der Krise bislang ausgefallen ist: Wieder und wieder kamen ihre Maßnahmen zu spät und waren zu schwach, um das Krisenfeuer dauerhaft auszulöschen. Noch gravierender als die Ineffizienz des Europäischen Rates ist seine schwache Legitimation. Denn auch wenn jeder der Staats- und Regierungschefs von seiner nationalen Wählerschaft gewählt worden ist und von seinem nationalen Parlament kontrolliert wird, machen 28 einzelstaatliche Demokratien noch keine europäische: Am Ende ist für die Beschlüsse des Europäischen Rates nämlich vor allem das Kräfteverhältnis zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten entscheidend, und auf dieses haben die Bürger kaum einen Einfluss.

Wenn man europäische Finanztransfers und eine größere wirtschaftspolitische Kontrolle der EU demokratisch legitimieren will, so führt zuletzt kein Weg am Europäischen Parlament vorbei. Hier ist es, wo künftig die wirtschafts- und sozialpolitischen Strategieentscheidungen fallen müssen – unterstützt von einer Europäischen Kommission, deren Wahl künftig nicht mehr den nationalen Regierungen, sondern der Parlamentsmehrheit überlassen sein müsste. Diese Parlamentarisierung der EU aber ist ohne eine große Vertragsreform unmöglich. Und darum brauchen wir so bald wie möglich einen Europäischen Konvent.

Drittens: Auch viele Regierungen fordern Reformen

Dass wir einen Konvent brauchen, ist natürlich noch keine Garantie dafür, dass wir ihn auch bekommen werden: Schließlich müsste seine Einsetzung nach Art. 48 EUV von den Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat selbst beschlossen werden. Aber stimmt die Vermutung Martin Winters, dass sich unter den nationalen Regierungen eine allgemeine Verweigerungshaltung ausgebreitet habe? Ich habe einen anderen Eindruck.

Gewiss, von Seiten der deutschen Bundesregierung sind die Rufe nach einer Vertragsreform in den letzten Monaten etwas leiser geworden. Die „Zukunftsgruppe“, die Guido Westerwelle (FDP/ALDE) einberufen hatte, um über die Vollendung der Politischen Union zu diskutieren, hat sich im September 2012 zum vorläufig letzten Mal getroffen. Aber das beweist nicht mehr, als dass wir uns mitten im Bundestagswahlkampf befinden – und die Spitzen der deutschen Regierungsparteien offensichtlich beschlossen haben, in dieser Zeit die Thematisierung brisanter europapolitischer Fragen fürs Erste lieber zu vermeiden.

Blickt man hingegen ein wenig über den nationalen Tellerrand hinaus, so lassen sich eine ganze Reihe von Aktivitäten beobachten, die alle auf die Vorbereitung einer größeren Vertragsreform hindeuten. So stellte der Präsident des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy (CD&V/EVP) im Dezember 2012 einen dreistufigen Plan zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion vor, der für die Zeit nach 2014 explizit die Einführung einer interregionalen Schockabfederungsfunktion“ sowie eine „verstärkte Bündelung von Zuständigkeiten auf europäischer Ebene zuallererst mit einer entsprechenden Einbeziehung des Europäischen Parlament“ vorsieht. Vor wenigen Tagen kündigte Kommissionspräsident José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) die Einrichtung einer Arbeitsgruppe an, die ökonomische und rechtliche Bedingungen für gemeinsame Staatsanleihen und einen europäischen Schuldentilgungsfonds prüfen soll. Der französische Finanzminister Pierre Moscovici (PS/SPE) wiederum setzt sich schon länger für eine europäische Arbeitslosenversicherung ein. Und die italienische Außenministerin Emma Bonino (RI/ALDE) forderte erst vor wenigen Wochen in einem Interview einen umfassenden Schritt zu einem föderalen Europa, übrigens ganz im Sinne ihres Premierministers Enrico Letta (PD/SPE-nah), der in seiner Antrittsrede die „Vereinigten Staaten von Europa“ zu seinem Ziel erklärte.

Natürlich gibt es auch andere Stimmen, etwa aus Irland und den Niederlanden, wo sich seit diversen gescheiterten Referenden die Begeisterung für neue Vertragsreformen allgemein in Grenzen hält. Aber letztlich scheint mir doch, dass sich auch im Europäischen Rat allmählich die Einsicht ausbreitet, dass die europäische Währungsunion nicht dauerhaft so weitermachen kann wie in den letzten Jahren. Ich gehe deshalb davon aus, dass die Diskussion über die Zukunft der EU zwischen den deutschen Bundestagswahlen im September 2013 und der Europawahl im Mai 2014 deutlich an Fahrt gewinnen wird. In der zweiten Jahreshälfte 2014, wenn Italien die Präsidentschaft im Ministerrat innehat, könnte dann ein neuer Anlauf zur Einberufung eines Europäischen Konvents erfolgen, der 2015 seine Arbeit aufnehmen würde.

Viertens: Und die Bürger?

Und die Europaskepsis der Bevölkerung? Auch hier scheint mir die Deutung falsch, dass sich die Menschen in großer Zahl nach einer Rückkehr zum Nationalstaat oder nach mehr Intergouvernementalismus sehnen würden. Im Gegenteil, der dramatische Vertrauensverlust, den die Europäische Union in den letzten Jahren durchmachte, dürfte gerade eine Folge des improvisierten Krisenmanagements des Europäischen Rates sein, der sich ohne Gesamtkonzept von einer Ad-hoc-Entscheidung zur nächsten hangelte. Bei seinen immer neuen, häufig über Nacht beschlossenen und für „alternativlos“ erklärten Rettungs- und Sparpaketen verband er eine intransparente Entscheidungsfindung mit unnötig drastischen Maßnahmen. Kein Wunder, wenn viele Bürger sich da frustriert abwandten!

Doch diese Entwicklung ist nicht unumkehrbar. Eine große Mehrheit der Europäer steht bis heute hinter der Einheitswährung und unterstützt eine Demokratisierung der EU. Und auch die Bereitschaft zu transnationalen Finanztransfers dürfte größer sein, wenn deutlich würde, dass ihre Empfänger bedürftige europäische Mitbürger sind und nicht nur Banken und ausländische Finanzminister. Ein Europäischer Konvent könnte diese Wünsche aufgreifen, die öffentliche Debatte anregen und eine breite gesellschaftliche Partizipation ermöglichen. Wenn dann zuletzt auch noch die Bevölkerung selbst in einem gemeinsamen gesamteuropäischen Referendum (für das Mehr Demokratie e.V. vor einiger Zeit ein sehr vernünftiges Modell präsentiert hat) über den neuen Vertrag entscheiden kann, scheint mir persönlich ein Erfolg wahrscheinlicher als ein Scheitern.

Einen Automatismus, nach dem sich Europa „unausweichlich immer weiter in Richtung eines Bundesstaates entwickelt“, gibt es nicht und hat es nie gegeben. Was es aber gibt, sind gute Gründe, die wirtschaftspolitischen Kompetenzen der Europäischen Union zu stärken und das Europäische Parlament zum zentralen Entscheidungsorgan zu machen. Und darum wird die Debatte über eine europäische Vertragsreform auch in den nächsten Jahren nicht von der politischen Agenda verschwinden.

Bild: Eigenes Werk.