- Streit um die nationalen Europawahl-Kontingente könnte zum Problem für die EU-Erweiterung werden. Wie lässt sich das verhindern?
Die Verteilung der nationalen Sitzkontingente im Europäischen Parlament ist seit langem ein haariges Thema. Da ist zum einen die Sache mit der „degressiven Proportionalität“: Nach Art. 14 (2) EUV setzt sich das Parlament „aus Vertretern der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger zusammen“, wobei die Bürger:innen allerdings „degressiv proportional, mindestens jedoch mit sechs Mitgliedern je Mitgliedstaat vertreten“ sind. In der Praxis bedeutet das, dass größere Mitgliedstaaten mehr Sitze haben als kleinere, kleinere aber mehr Sitze pro Einwohner:in – was ein offensichtliches Problem für die europaweite demokratische Gleichheit der Wahl darstellt. An den beiden Extremen kann sich eine in Malta abgegebene Stimme (6 Sitze auf 0,4 Millionen Einwohner:innen) rund 13 Mal so stark auf das Gesamtergebnis der Wahl auswirken wie eine in Deutschland (96 Sitze auf 83,2 Millionen Einwohner:innen). Die Ungleichheit des Stimmgewichts der verschiedenen Wahlkreise ist damit im Europäischen Parlament eine der höchsten unter den demokratischen Parlamenten weltweit.
Alle fünf Jahre Feilschen um Sitzkontingente
Zum anderen kommt hinzu, dass es unendlich viele Möglichkeiten gibt, eine degressiv-proportionale Sitzverteilung auszugestalten – je nachdem, wie dick der „Bauch“ in der Kurve von den kleinsten zu den größten Staaten ausfällt. Allerdings haben sich die Mitgliedstaaten niemals auf eine feste mathematische Formel einigen könne, um die Vorgabe des Vertragstexts zu operationalisieren.
Stattdessen wird im Licht der sich verändernden Bevölkerungszahlen alle fünf Jahre politisch ausverhandelt, welchem Land bei der Europawahl wie viele Sitze zustehen sollen. Das führt regelmäßig zu einem monatelangen Gefeilsche. Und da natürlich kein Land Sitze einbüßen möchte, wird als Ergebnis gern die Gesamtsitzzahl des Parlament erhöht – bei der jetzt anstehenden Wahl von 705 auf 720 Abgeordnete.
Mit der EU-Erweiterung müssen Länder auf Sitze verzichten
Möglich war das zuletzt, da durch den britischen EU-Austritt Sitze frei wurden, die sich auf die anderen Länder umverteilen ließen. Doch diese Vorgehensweise ist auf die Dauer nicht nachhaltig: Denn zum einen nähert sich das Parlament schon jetzt wieder der im EU-Vertrag vorgesehenen Maximalgröße von 751 Sitzen an – zumal das Parlament ja gern auch 28 Sitze für gesamteuropäische Listen nutzen würde.
Und zum anderen will sich die EU in den nächsten Jahren ja um mehrere neue Mitgliedstaaten erweitern. Statt 27 könnten es bald 30, 35 oder 40 Länder sein. Selbst ohne gesamteuropäische Listen wird das nur möglich sein, wenn die bisherigen Mitgliedstaaten auf einige ihrer Sitze im Europäischen Parlament verzichten.
Auf der Suche nach einer mathematischen Formel
Um das politisch durchsetzbar zu machen, liegt es nahe, eine feste mathematische Formel zu entwickeln, die die Verteilung der nationalen Europawahl-Sitzkontingente auf nachvollziehbare und möglichst faire Weise dauerhaft regelt. Tatsächlich liegen mehrere Expertenvorschläge für eine solche Formel bereits seit Jahren auf dem Tisch. Am bekanntesten ist der Cambridge Compromise von 2011: Etwas vereinfacht sollte demnach jeder Mitgliedstaat ein festes Basiskontingent von fünf Sitzen erhalten und die übrigen Sitze proportional nach der Einwohnerzahl verteilt werden (mit Aufrundung, sodass die kleinsten Länder auf sechs Sitze kommen).
Allerdings würde der Cambridge Compromise dazu führen, dass wenige große Länder gegenüber dem Status quo Sitze gewinnen, während viele mittelgroße Staaten Sitze verlieren. Damit erwies sich der Vorschlag politisch als nicht durchsetzbar. In der Folge wurde deshalb eine Vielzahl von Ansätzen vorgeschlagen, um den Cambridge Compromise zu modifizieren oder Alternativformeln zu entwickeln – etwa indem statt der Bevölkerungszahlen der Mitgliedstaaten deren Quadratwurzeln genutzt werden. In einem neuen Gesetzgebungsverfahren arbeitet das Europäische Parlament derzeit daran, eine auch politisch konsensfähige Formel für die degressive Proportionalität zu finden.
Warum überhaupt degressive Proportionalität?
Aber wie lässt sich die degressive Proportionalität eigentlich überhaupt rechtfertigen, wenn damit doch offensichtlich ein Verstoß gegen die demokratische Wahlgleichheit einhergeht? Häufig wird als Rechtfertigung angeführt, dass es sich bei der degressiven Proportionalität um einen Kompromiss zwischen der „Bürgergleichheit“ und der „Staatengleichheit“ handle, die für die EU nun einmal beide konstitutiv seien.
Dieses Argument ist jedoch wenig überzeugend. Denn zum einen sollen die Europaabgeordneten laut dem Vertragstext ja gerade nicht die Mitgliedstaaten repräsentieren (dafür gibt es den Rat der EU), sondern die Unionsbürger:innen. Und zum anderen wird im Parlament auch in der Praxis nicht entlang nationaler Linien abgestimmt, sondern vor allem entlang transnationaler Partei- bzw. Fraktionsgrenzen.
Kommunikation in nationale Parteien- und Medienöffentlichkeiten
Allerdings lässt sich die degressive Proportionalität auch funktional im Sinne einer europäischen Parteiendemokratie begründen. Europaabgeordnete haben nicht nur eine Repräsentations-, sondern auch eine Kommunikationsfunktion: Sie dienen als Transmissionsriemen zwischen europäischen und nationalen Parteien, zwischen europäischer Parlaments- und nationaler Medienöffentlichkeit.
Abgeordnete aus kleineren Mitgliedstaaten stehen dabei vor besonderen Herausforderungen. So haben zum Beispiel die nationalen Medien in größeren Mitgliedstaaten eine höhere Reichweite, sodass es einfacher ist, viele Bürger:innen auf einmal zu erreichen. Und auch was die innerparteiliche Öffentlichkeit betrifft, haben Europaabgeordnete aus kleinen Ländern einen schwereren Stand: So kommen etwa in Deutschland 96 europäische auf 630 nationale Abgeordnete (ein Verhältnis von ca. 1:6,5), in Malta hingegen 6 auf 65 (ca. 1:11), in Estland 8 auf 101 (ca. 1:12,5).
Europaabgeordneten in großen Mitgliedstaaten fällt es deshalb a priori leichter, innerhalb ihrer nationalen Parteinetzwerke und Öffentlichkeiten Wirkung zu entfalten und europäischen Perspektiven Sichtbarkeit zu geben. Die degressive Proportionalität lässt sich damit als Kompromiss verstehen zwischen dem demokratischen Prinzip der Wahlgleichheit und den besonderen Herausforderungen, die durch die national fragmentierten Parteien- und Medienöffentlichkeiten in der EU entstehen.
Mit der Erweiterung wird die Ungleichheit weiter wachsen
Doch dieser Kompromiss ist immer prekär und stößt mit Blick auf die anstehenden Erweiterungen an die Grenzen seiner Tragfähigkeit. Unter den EU-Beitrittskandidaten gibt es wenige große Länder (die Ukraine, perspektivisch vielleicht die Türkei), ein mittelgroßes (Serbien) und viele kleine (Georgien, Bosnien, Albanien, Moldau, Nordmazedonien, Montenegro, perspektivisch Kosovo).
Gleichzeitig soll weiterhin die Gesamtsitzzahl nicht höher als 751 sein; schließlich ist das Europäische Parlament schon jetzt eines der größten Parlamente der Welt. Das lässt sich logischerweise nur auf zwei Weisen erreichen: Entweder wird die Mindestsitzzahl der kleinsten Länder reduziert, was aus den oben genannten Gründen nicht wünschenswert ist. Oder die großen Länder müssen auf mehr Sitze verzichten, womit aber die Degressivität steiler wird und sich das Problem der fehlenden transnationalen Wahlgleichheit verschärft.
Das wiederum gefährdet insbesondere die Akzeptanz des Europäischen Parlaments in den größeren Mitgliedstaaten. Schon jetzt wird in der deutschen Öffentlichkeit regelmäßig über die fehlende Wahlgleichheit gemurrt und zuweilen dem Europäischen Parlament die demokratische Legitimität abgesprochen. Eine noch weitere Verzerrung könnte hier leicht den Bogen überspannen und damit zu einer Gefahr für den supranationalen Parlamentarismus an sich werden.
Repräsentation der Mitgliedstaaten und Repräsentation der Parteien
Auf den ersten Blick sieht dieses Legitimitätsdilemma wie ein unlösbares Problem aus, und tatsächlich wird es sich allein mit einer mathematischen Formel für die degressive Proportionalität kaum überwinden lassen. Doch ganz unmöglich ist eine Lösung nicht. Blickt man genauer hin, geht es bei den Bedürfnissen der kleinen und der großen Mitgliedstaaten eigentlich um zwei unterschiedliche Größen: nämlich in einem Fall um die Repräsentation der Mitgliedstaaten, im anderen um die Repräsentation der europäischen Parteien (bzw. Fraktionen) im Europäischen Parlament.
Die Repräsentation der Mitgliedstaaten in Form der nationalen Sitzkontingente muss degressiv-proportional sein, um auch den kleinen Ländern eine Mindestanzahl an Abgeordneten zu garantieren. In dieser Hinsicht gibt es also notwendigerweise eine Ungleichheit im Wahlsystem. Doch angesichts der Arbeitsweise des Parlaments – das eben nicht nach nationalen Delegationen, sondern nach transnationalen Fraktionen strukturiert ist – kommt es darauf für die demokratische Legitimität gar nicht maßgeblich an. Entscheidend ist vielmehr die Repräsentation der Parteien: Entspricht der Sitzanteil der Fraktionen im Europäischen Parlament (näherungsweise) dem Stimmenanteil der entsprechenden Parteienfamilien bei der Europawahl?
Staaten- und Parteienrepräsentation entkoppeln
Im derzeitigen Modell sind Staaten- und Parteienrepräsentation strukturell miteinander verbunden: Fraktionen, deren Mitgliedsparteien vor allem in kleinen Mitgliedstaaten (und in Mitgliedstaaten mit niedriger Wahlbeteiligung) gewählt werden, sind im Parlament überrepräsentiert; Fraktionen, deren Mitgliedsparteien vor allem in großen Mitgliedstaaten (und in Staaten mit hoher Wahlbeteiligung) gewählt werden, sind unterrepräsentiert.
Da die meisten Fraktionen Mitgliedsparteien sowohl aus großen als auch aus kleinen Ländern haben, wird dieser Effekt teilweise wieder ausgeglichen. Trotzdem kann es zu nennenswerten Verzerrungen kommen: Bei der Europawahl 2019 benötigte die Fraktion mit den „teuersten“ Sitzen (die Linke) rund 1,35 Mal so viele Stimmen pro Sitz wie die Fraktion mit den „billigsten“ (die EVP). 2014 führten die Verzerrungen sogar dazu, dass die EVP die stärkste Fraktion wurde (und den Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker stellte), obwohl eigentlich die Sozialdemokrat:innen europaweit mehr Stimmen gewonnen hatten.
Diese Wahlgleichheitsprobleme wären lösbar, indem man die Staaten- und Parteienrepräsentation voneinander entkoppelt – also ein Wahlsystem entwickelt, das die degressive Proportionalität für die nationalen Sitzkontingente bestehen lässt, aber Verzerrungen zwischen den Sitz- und Stimmanteilen der europäischen Fraktionen beseitigt.
Modell 1: Das „Tandem-System“
Für ein solches Wahlsystem gibt es in der aktuellen Debatte zwei Modelle. Das erste davon ist das sogenannte „Tandem-System“, das von dem Mathematiker Friedrich Pukelsheim und dem ehemaligen Europaabgeordneten Jo Leinen (SPD/SPE) entwickelt wurde und auf dem „biproportionalen Divisorverfahren“ beruht, das etwa im Schweizer Kanton Zürich angewandt wird.
Im Tandemsystem würde zunächst mit einem gewöhnlichen Proportionalverfahren die Sitzzahl ermittelt, die jeder europäischen Partei (bzw. Fraktion) aufgrund der europaweit für ihre Mitgliedsparteien abgegebenen Stimmen zusteht. Anschließend wird sowohl für jedes Land als auch für jede europäische Partei ein jeweils individueller Divisor festgelegt. Etwas vereinfacht ist dabei der Länderdivisor umso höher, je größer der Mitgliedstaat ist; der Parteiendivisor ist umso höher, je eher die Partei in kleineren Ländern gewählt wird. Abschließend wird die Stimmenzahl jeder nationalen Einzelpartei sowohl durch ihren Länder- als auch durch ihren Parteiendivisor geteilt, um ihre Sitzzahl zu ermitteln.
Nebenwirkung: Starke Verzerrungen auf nationaler Ebene
Mit den richtigen Divisoren lässt sich so gewährleisten, dass im Ergebnis jede europäische Partei (bzw. Fraktion) die ihr zustehende Sitzzahl erhält, aber auch die nationalen Sitzkontingente gewahrt werden. Das Tandemsystem verbindet also auf raffinierte Weise die degressiv-proportionale Repräsentation der Mitgliedstaaten mit einer direkt-proportionalen Repräsentation der europäischen Parteien.
Der Preis dafür sind allerdings teils starke Verzerrungen zwischen den Stimm- und Sitzanteilen der Parteien auf nationaler Ebene: Etwas überspitzt gesagt würde das Tandemsystem dazu führen, dass die Wähler:innen der großen Länder entscheiden, welche Parteien aus den kleinen Ländern im Europäischen Parlament Sitze gewinnen. Das allerdings widerspricht einem zentralen Zweck der degressiven Proportionalität, nämlich dass im Europäischen Parlament auch die nationalen Parteiensysteme der kleineren Mitgliedstaaten angemessen abgebildet sein sollen.
Modell 2: Verhältnisausgleich über europäische Listen
Das zweite Modell, über das ich selbst verschiedentlich geschrieben habe, lässt deshalb die nationalen Sitzkontingente unangetastet und setzt stattdessen auf einen europäischen Verhältnisausgleich über gesamteuropäische („transnationale“) Listen. Grundlage dafür ist die Einführung eines zusätzlichen, gesamteuropäischen Sitzkontingents, wie sie seit langem diskutiert und 2022 vom Europäischen Parlament formell vorgeschlagen wurde.
Allerdings würde die Zuteilung dieser gesamteuropäischen Sitze nicht getrennt von den nationalen Kontingenten erfolgen. Stattdessen würden jeder gesamteuropäischen Liste genau so viele Sitze zugeteilt, dass zuletzt der Sitzanteil jeder Fraktion (also die Sitze aus den nationalen Kontingenten plus die Sitze aus dem europäischen Kontingent) genau dem Stimmenanteil entspricht, den diese Fraktion europaweit für ihre transnationale Liste erhalten hat. Ein ähnliches System mit bundesweitem Verhältnisausgleich gibt es heute schon zum Beispiel bei den österreichischen Nationalratswahlen.
Beträchtliches europäisches Sitzkontingent notwendig
Auch das Verhältnisausgleich-Modell verbindet also degressive Proportionalität der Mitgliedstaaten mit europaweiter Wahlgleichheit in Bezug auf das Kräfteverhältnis zwischen den europäischen Fraktionen. Da es die nationalen Sitzkontingente intakt lässt, hat es im Vergleich zum Tandem-System weniger Nebenwirkungen auf die Repräsentation der nationalen Parteiensysteme.
Allerdings funktioniert ein voller Verhältnisausgleich über gesamteuropäische Listen nur, wenn das europäische Sitzkontingent auch einen beträchtlichen Anteil der Gesamtsitze ausmacht. Statt der derzeit vom Europäischen Parlament vorgeschlagenen 28 wären eher 75 bis 100 europäische Sitze notwendig – was natürlich wiederum den Spielraum für die nationalen Sitzkontingente verkleinert. Ob das Parlament und die Mitgliedstaaten bereit sind, ein so großes gesamteuropäisches Kontingent einzuführen, ist letztlich aber nur eine Frage des politischen Willens.
Degressive Proportionalität und Wahlgleichheit versöhnen
Klar ist: Mit der anstehenden EU-Erweiterung gewinnt das Problem der degressiven Proportionalität zusätzliche Brisanz. Eine weiter wachsende Ungleichheit der Bürger:innen bei der Europawahl würde die demokratische Legitimität und Akzeptanz des Parlaments gefährden. Gleichzeitig verlieren die Argumente für eine Mindestsitzzahl für kleine Länder dadurch aber nicht ihre Gültigkeit – sie zu reduzieren, wäre die falsche Antwort auf das Problem.
Bei der Entwicklung einer dauerhaften Formel für die nationalen Sitzkontingente dürfen die Abgeordneten und die nationalen Regierungen es sich deshalb nicht zu bequem machen, sondern müssen Wege finden, um degressive Proportionalität und Wahlgleichheit zu versöhnen. Das Tandemsystem und der europäische Verhältnisausgleich können das leisten und bieten damit Möglichkeiten für eine nachhaltige Lösung.
Am kommenden 14. Februar organisiert der Verfassungsausschuss des Europäischen Parlaments einen Expertenworkshop über das geplante dauerhafte System für die Sitzverteilung im Europäischen Parlament, an dem auch ich teilnehmen werde. Die Veranstaltung wird wie alle öffentlichen Ausschusssitzungen per Webstream übertragen. |
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