„Jetzt
ist nicht die Zeit für Vorsicht. Wir
haben damit begonnen, das europäische Dach zu reparieren. […]
Wir müssen
das europäische Haus jetzt fertigstellen, da die Sonne scheint –
und solange sie scheint.“
Jean-Claude
Juncker, Rede
zur Lage der Europäischen Union, 13. September 2017
Ende
2016 war die Stimmung in der Europäischen Union auf dem Tiefpunkt
angekommen. Zwei Jahre lang war stets ein Problem zum anderen
gekommen – die Angriffe auf den Rechtsstaat in Polen, der Streit um
die Flüchtlinge, das Brexit-Referendum, die Wahl von Donald Trump in
den USA. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) sprach
von einer
„Polykrise“, in der es „an allen Ecken und Enden brennt“.
Ein
Jahr später sind viele dieser Probleme zwar noch immer nicht gelöst,
doch die Stimmung hat sich deutlich gebessert. Das liegt zum einen am
wirtschaftlichen
Aufschwung, der die Union nach und nach erfasst. Zum anderen
erzielten nationalistisch-europaskeptische Parteien 2017 zwar bei
mehreren nationalen Parlamentswahlen recht gute Wahlergebnisse, doch
der befürchtete große Rechtsrutsch blieb aus. Bei der französischen
Präsidentschaftswahl gewann mit Emmanuel Macron (LREM/–) sogar ein
Politiker, der im Wahlkampf explizit
auf Weltoffenheit gesetzt hatte und nun pro-europäische
Reformen fordert.
Dass
die EU wieder vom Krisen- in den Gestaltungsmodus umzuschalten
versucht, liegt aber nicht nur am Drängen Macrons. Das Jahr 2018 ist
auch das letzte volle Amtsjahr von Jean-Claude Juncker, der bereits
angekündigt hat, zur nächsten Europawahl nicht noch einmal
anzutreten. In den europäischen Institutionen sehen deshalb viele
ein Gelegenheitsfenster für zukunftsweisende Reformen. Die
Europäische Kommission hat deshalb neben ihrem konkreten
Arbeitsprogramm für 2018
auch einen langfristigen „Fahrplan für
eine enger vereinte, stärkere und demokratischere Union“
bis zur Europawahl 2019 vorgelegt. Und der Präsident des
Europäischen Rates, Donald Tusk (PO/EVP), präsentierte eine
„Leadersʼ
Agenda“ mit den Vorhaben der Staats- und Regierungschefs
für denselben Zeitraum.
Reform
der Währungsunion
Die
erste große Reform, die die europäischen Institutionen in dieser
Zeit anpacken wollen, betrifft die Währungsunion. Die Europäische
Kommission hat dazu vor drei Wochen konkrete
Vorschläge vorgelegt: Angestrebt wird unter anderem die
Umwandlung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) in einen
„Europäischen Währungsfonds“ mit zusätzlichen Aufgaben, die
Einführung einer speziellen Budgetlinie für die Eurozone im
EU-Haushalt sowie eine Zusammenlegung der Ämter des
Währungskommissars und des Eurogruppen-Vorsitzenden zu einem
„europäischen Wirtschafts- und Finanzminister“.
Auch
wenn die Kommission in diesem Vorschlag auf einige ambitioniertere
Projekte wie eine europäische Arbeitslosenversicherung
verzichtet hat, dürfte das Reformpaket für einige Diskussionen
sorgen. Viel hängt dabei von der Position der neuen deutschen
Bundesregierung ab: In der Großen Koalition steht
die SPD (SPE) den Vorschlägen der Kommission offen
gegenüber, während die CDU/CSU (EVP) bremst. Bis März wollen
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) und Emmanuel Macron nun einen
gemeinsamen
deutsch-französischen Vorschlag vorlegen; im Juni steht die
Euro-Reform auf der Agenda des Europäischen Rates.
Migrationspolitik
Noch
konfliktreicher als die Debatte über die Reform der Währungsunion
ist jene über die europäische Migrations- und Asylpolitik.
Spätestens in der Flüchtlingskrise wurde deutlich, wie untauglich
das derzeitige „Dublin-System“ ist, in dem – wenigstens der
Theorie nach – die Grenzstaaten für fast alle Asylanträge
zuständig wären. 2015 wurde deshalb eine einmalige Umverteilung von
Asylbewerbern zwischen den Mitgliedstaaten beschlossen. Diese
Quotenregelung wurde
jedoch kaum umgesetzt.
Ein wichtiger Grund dafür war die Blockadehaltung der
Visegrád-Staaten Ungarn, Polen und Tschechien, gegen die die
Kommission deshalb inzwischen
ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat.
Im
September präsentierte die Kommission nun Vorschläge
für eine Reform der EU-Flüchtlingspolitik, die unter anderem
auf eine stärker gemeinschaftliche Finanzierung hinauslaufen. Mitten
in die Diskussion über diese Vorschläge legte wiederum
Ratspräsident Tusk ein Papier vor, in dem er massive
Kritik an dem „hochgradig entzweienden“ und
„ineffektiven“ Ansatz verbindlicher nationaler Asylbewerberquoten übte. Dieses
Papier wiederum wiesen verschiedene
west- und südeuropäische Regierungen scharf zurück,
Innenkommissar Dimitris Avramopoulos (ND/EVP) bezeichnete
Tusks Sichtweise gar als „anti-europäisch“.
In
den kommenden Monaten sind hier also noch einige kontroverse Debatten
zu erwarten. Besonders pikant dürfte dabei werden, dass der
rotierende Vorsitz im EU-Ministerrat im zweiten Halbjahr 2018
ausgerechnet an Österreich geht, das flüchtlingspolitisch schon
bisher eine eher harte Linie fuhr und nun mit
der neuen Regierung aus ÖVP (EVP) und FPÖ (BENF) noch weiter nach
rechts rückt.
Mehrjähriger
Finanzrahmen
Außerdem
werden 2018 die Verhandlungen über den nächsten mehrjährigen
Finanzrahmen beginnen, in dem das EU-Budget für die Zeit ab 2020
festgelegt wird. Im Mai will die Kommission dazu ihren ersten
Vorschlag veröffentlichen, der dann die Grundlage für langwierige
Diskussionen zwischen den Regierungen im Europäischen Rat und dem
Europäischen Parlament sein wird.
In
diesen Diskussionen wird es vor allem um zwei Hauptfragen gehen:
Welchen Umfang soll der EU-Haushalt künftig haben? Und aus welchen
Quellen soll er finanziert werden? Eine kurze Kontroverse zwischen
dem EU-Parlamentspräsidenten Antonio Tajani (FI/EVP) und dem
deutschen Politiker Christian Lindner (FDP/ALDE) machte vor einigen
Wochen bereits
deutlich, wie umstritten allein diese beiden Fragen sind.
Darüber
hinaus werden im mehrjährigen Finanzrahmen aber auch schon die
wichtigsten Einzeltöpfe des EU-Haushalts festgelegt, was für
weitere Auseinandersetzungen sorgen dürfte: Werden die Mittel für
die umstrittene EU-Agrarpolitik reduziert? Und werden die
Strukturfonds zur Förderung wirtschaftsschwacher Regionen künftig
an politische Bedingungen wie das demokratische Wohlbetragen der
nationalen Regierungen geknüpft?
Weitere
Reformvorschläge
Und
noch in weiteren Bereichen will die Kommission in den nächsten
Monaten Reformvorschläge vorlegen. Unter anderem strebt sie eine
Einschränkung der nationalen Vetorechte bei der gemeinsamen
EU-Außenpolitik, aber auch im
steuer- und sozialpolitischen Bereich an. Außerdem soll die
europäische Staatsanwaltschaft neue Kompetenzen zur
Terrorismusbekämpfung erhalten.
Und
auch die Annäherung der Staaten auf dem westlichen Balkan will
die Kommission wieder intensivieren. Im Blickpunkt stehen dabei
vor allem Serbien und Montenegro, für die Juncker bereits 2025
als mögliches Jahr eines EU-Beitritts genannt hat.
Brexit-Verhandlungen
Aber
nicht alles wird Aufbruch und Gestaltung sein in der EU des Jahres
2018. Einige alte Probleme warten noch auf ihre Lösung und könnten
zu neuen Krisen führen. Das betrifft zum Beispiel die Verhandlungen
über den britischen EU-Austritt, die im nächsten Jahr entweder
erfolgreich beendet werden – oder vollständig scheitern könnten.
Als
Datum für den Brexit ist derzeit der 29. März 2019 vorgesehen, doch
da das Austrittsabkommen zuvor von allen Mitgliedstaaten und dem
Europäischen Parlament ratifiziert werden muss, muss der Vertrag
bereits etwa ein halbes Jahr früher stehen. In zähen Gesprächen
wurde bislang eine
Einigung über drei prioritäre Themen erzielt. In der nächsten
Phase soll es nun um die künftigen Handelsbeziehungen gehen – was
angesichts zahlreicher britischer „roter Linien“ mit
komplexen Verhandlungen verbunden sein wird.
Es
ist deshalb gut möglich, dass im Austrittsvertrag zunächst nur eine
Übergangslösung vereinbart wird. Großbritannien könnte dann für
einige Jahre im europäischen Binnenmarkt verbleiben (und wäre
weiterhin an EU-Recht gebunden), um Zeit für die Verhandlung eines
neuen Handelsabkommens zu gewinnen. Angesichts heftiger
Streitigkeiten innerhalb der britischen Regierung wird
aber auch eine solche Übergangslösung noch schwer genug zu
erreichen sein.
Artikel-7-Verfahren
gegen Polen
Eine
Eskalation steht auch im Streit
über die Rechtsstaatlichkeit in Polen bevor, der die EU nun
schon seit
rund zwei Jahren in Atem hält. Bereits vor einigen Wochen hat
das Europäische Parlament beschlossen, ein Verfahren nach
Artikel 7 Absatz 1
EU-Vertrag gegen die polnische Regierung vorzubereiten. Am
morgigen Mittwoch könnte die Europäische Kommission denselben
Schritt ergreifen.
Wenn
es dazu kommt, muss der Ministerrat 2018 darüber abstimmen, ob
in Polen „die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“
von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit besteht. Notwendig für diese
Feststellung ist eine Vier-Fünftel-Mehrheit der nationalen
Regierungen, das heißt 22 der 27 Regierungen (Polen selbst stimmt
nicht mit ab). Rechtliche Folgen hat das Votum zwar nicht: Für
Sanktionen wie den Stimmrechtsentzug wäre ein
Artikel-7-Absatz-2-Verfahren
mit Einstimmigkeit im Europäischen Rat erforderlich. Doch jedenfalls
wird es jede nationale Regierung zwingen, sich eindeutig zu den
Vorgängen in Polen zu positionieren, und den Konflikt damit auf
eine neue politische Ebene heben.
Die
spannendste Frage wird dabei sein, ob die polnische Regierung eine
Chance hat, die Sperrminorität von fünf Staaten zusammenzubringen.
Die ungarische Regierung unter Viktor Orbán (Fidesz/EVP) unterstützt
Polen ausdrücklich, die in Großbritannien regierende
Conservative Party ist mit der polnischen Regierungspartei PiS über
die Allianz
der Konservativen und Reformer in Europa verbündet. In Rumänien
hat die Regierung unter Mihai Tudose (PSD/SPE) jüngst eine
Justizreform beschlossen, die mit jener in Polen gewisse
Ähnlichkeiten besitzt. Und auch Polens Visegrád-Partnerländer
Tschechien und Slowakei sowie das nach rechts gerückte Österreich
könnten im Verfahren gegen die polnische Regierung Wackelkandidaten
sein.
Wahl
in Italien
Neue
Unruhe für die EU könnte sich schließlich auch durch die nationale
Parlamentswahl in Italien ergeben, die Anfang März 2018
stattfinden wird. Unter Paolo Gentiloni (PD/SPE) zählte die
italienische Regierung zuletzt zu den integrationsfreundlichsten in
der EU und setzte sich unter anderem nachdrücklich
für Spitzenkandidaten und gesamteuropäische
Listen bei der Europawahl ein. Allerdings wird die Regierung nun
aller Voraussicht nach ihre Mehrheit verlieren.
Bei
der Wahl treten drei große Lager an: der bisher regierende Partito
Democratico um Matteo Renzi (PD/SPE), das populistische Movimento
Cinque Stelle (M5S) sowie ein Mitte-rechts-Bündnis aus der
liberalkonservativen Forza Italia (FI/EVP) und der rechtsextremen
Lega Nord (LN/BENF). Da voraussichtlich keines dieser Lager eine
absolute Mehrheit gewinnt, dürfte es zu einer schwierigen
Regierungsbildung kommen. Dabei sind vor allem zwei Szenarien
plausibel: Zum einen ist es möglich, dass das Mitte-rechts-Lager
nach der Wahl zerbricht und PD und FI eine Koalition bilden, die dann
europapolitisch wohl im Wesentlichen den Kurs der alten Regierung
fortsetzen würde. Zum anderen könnte es aber auch zu einer
Koalition aus M5S und Lega (oder zu einer von der Lega tolerierten
M5S-Minderheitsregierung) kommen – mit schwer einzuschätzenden
Folgen.
Das
ursprünglich europaskeptisch-nationalpopulistische M5S sitzt im
Europäischen Parlament mit der britischen UKIP und der deutschen AfD
in der EFDD-Fraktion. Angesichts der Chance auf eine baldige
Regierungsbeteiligung bewegt es sich nun zu gemäßigteren,
vereinzelt auch ausdrücklich europafreundlichen Positionen.
Allerdings will die Partei ein Referendum über den Euro-Austritt
weiterhin
nicht vollständig ausschließen. Und da allein der Gedanke daran
Kapitalanleger bereits nervös machen dürfte, besteht angesichts des
ohnehin notorisch
instabilen italienischen Bankensystems die Gefahr, dass die EU
das Gespenst einer neuen Eurokrise auch 2018 nicht ganz loswird.
Nominierung
der Europawahl-Spitzenkandidaten
Und
schließlich laufen 2018 auch die Vorbereitungen für die nächste
Europawahl an, die im Mai 2019 stattfinden wird. In den letzten Tagen
fassten beide großen europäischen Parteien – die
sozialdemokratische SPE und die christdemokratische EVP –
Beschlüsse, wie sie im kommenden Jahr ihre Spitzenkandidaten
nominieren wollen. Die SPE plant dazu von Herbst 2018 bis Frühjahr
2019 eine
parteiinterne Vorwahl, deren genaues Verfahren noch festgelegt wird.
Als mögliche Kandidaten gelten unter anderem die EU-Außenbeauftragte
Federica Mogherini (PD/SPE), der Kommissions-Vizepräsident Frans
Timmermans (PvdA/SPE) sowie der Währungskommissar Pierre Moscovici
(PS/SPE).
Die
EVP wiederum will ihren Spitzenkandidaten im
November 2018 durch Delegierte auf einem Parteitag in Helsinki
ernennen. Favorit ist hier der Brexit-Chefverhandler und frühere
Binnenmarktkommissar Michel Barnier (UMP/EVP), aber auch der
Kommissar für Wachstum Jyrki Katainen (Kok./EVP), der Kommissar für
den Euro Valdis Dombrovskis (V/EVP) und der Fraktionschef im
Europäischen Parlament Manfred Weber (CSU/EVP) kommen als Kandidaten
in Frage.
Angesichts
des hohen
Vorsprungs, den die EVP in den Wahlumfragen genießt, dürfte die
Entscheidung über den EVP-Spitzenkandidaten zugleich auch schon die
Entscheidung über den Nachfolger von Jean-Claude Juncker als
Kommissionspräsident vorwegnehmen. Es ist deshalb damit zu rechnen,
dass die EVP-Regierungschefs – insbesondere Angela Merkel, die das
Spitzenkandidaten-Verfahren bei
der letzten Europawahl 2014 nicht unterstützte, aber eben auch
nicht verhindern konnte – sich hier besonders einbringen.
Letzte
Gelegenheit zur Wahlrechtsreform
Und
schließlich ist 2018 wohl auch die letzte Gelegenheit, um vor der
Europawahl 2019 noch das europäische Wahlrecht zu reformieren. Ein
entsprechender Vorschlag wurde vom Europäischen Parlament bereits
vor zwei Jahren verabschiedet und liegt
seitdem im Ministerrat auf Eis. In der Zwischenzeit hat zudem die
Idee gesamteuropäischer Listen wieder an Fahrt aufgenommen und
wird inzwischen unter anderem von Macron, Gentiloni und Juncker
offensiv vertreten.
Im
Februar will nun der Europäische Rat bei einem informellen Treffen
über das Thema diskutieren, im Juni soll gegebenenfalls ein
Beschluss gefasst werden. Da dabei jede nationale Regierung ein
Vetorecht hat, steht zu erwarten, dass es wieder einmal nur zu einer
Minimalreform kommt. Aber vielleicht überraschen uns die Staats- und
Regierungschefs ja auch.
Und damit geht dieses Blog in seine alljährliche Winterpause. Allen
Leserinnen und Lesern frohe Feiertage und ein
gutes neues Jahr!
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Bild: Nigel Howe [CC BY 2.0 de], via Flickr.