19 Dezember 2017

Was die EU im Jahr 2018 erwartet

„Jetzt ist nicht die Zeit für Vorsicht. Wir haben damit begonnen, das europäische Dach zu reparieren. […] Wir müssen das europäische Haus jetzt fertigstellen, da die Sonne scheint – und solange sie scheint.“
Jean-Claude Juncker, Rede zur Lage der Europäischen Union, 13. September 2017

Gibt es zum neuen Jahr ein europäisches Reformfeuerwerk?
Ende 2016 war die Stimmung in der Europäischen Union auf dem Tiefpunkt angekommen. Zwei Jahre lang war stets ein Problem zum anderen gekommen – die Angriffe auf den Rechtsstaat in Polen, der Streit um die Flüchtlinge, das Brexit-Referendum, die Wahl von Donald Trump in den USA. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) sprach von einer „Polykrise“, in der es „an allen Ecken und Enden brennt“.

Ein Jahr später sind viele dieser Probleme zwar noch immer nicht gelöst, doch die Stimmung hat sich deutlich gebessert. Das liegt zum einen am wirtschaftlichen Aufschwung, der die Union nach und nach erfasst. Zum anderen erzielten nationalistisch-europaskeptische Parteien 2017 zwar bei mehreren nationalen Parlamentswahlen recht gute Wahlergebnisse, doch der befürchtete große Rechtsrutsch blieb aus. Bei der französischen Präsidentschaftswahl gewann mit Emmanuel Macron (LREM/–) sogar ein Politiker, der im Wahlkampf explizit auf Weltoffenheit gesetzt hatte und nun pro-europäische Reformen fordert.

Dass die EU wieder vom Krisen- in den Gestaltungsmodus umzuschalten versucht, liegt aber nicht nur am Drängen Macrons. Das Jahr 2018 ist auch das letzte volle Amtsjahr von Jean-Claude Juncker, der bereits angekündigt hat, zur nächsten Europawahl nicht noch einmal anzutreten. In den europäischen Institutionen sehen deshalb viele ein Gelegenheitsfenster für zukunftsweisende Reformen. Die Europäische Kommission hat deshalb neben ihrem konkreten Arbeitsprogramm für 2018 auch einen langfristigen „Fahrplan für eine enger vereinte, stärkere und demokratischere Union“ bis zur Europawahl 2019 vorgelegt. Und der Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk (PO/EVP), präsentierte eine „Leadersʼ Agenda“ mit den Vorhaben der Staats- und Regierungschefs für denselben Zeitraum.

Reform der Währungsunion

Die erste große Reform, die die europäischen Institutionen in dieser Zeit anpacken wollen, betrifft die Währungsunion. Die Europäische Kommission hat dazu vor drei Wochen konkrete Vorschläge vorgelegt: Angestrebt wird unter anderem die Umwandlung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) in einen „Europäischen Währungsfonds“ mit zusätzlichen Aufgaben, die Einführung einer speziellen Budgetlinie für die Eurozone im EU-Haushalt sowie eine Zusammenlegung der Ämter des Währungskommissars und des Eurogruppen-Vorsitzenden zu einem „europäischen Wirtschafts- und Finanzminister“.

Auch wenn die Kommission in diesem Vorschlag auf einige ambitioniertere Projekte wie eine europäische Arbeitslosenversicherung verzichtet hat, dürfte das Reformpaket für einige Diskussionen sorgen. Viel hängt dabei von der Position der neuen deutschen Bundesregierung ab: In der Großen Koalition steht die SPD (SPE) den Vorschlägen der Kommission offen gegenüber, während die CDU/CSU (EVP) bremst. Bis März wollen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) und Emmanuel Macron nun einen gemeinsamen deutsch-französischen Vorschlag vorlegen; im Juni steht die Euro-Reform auf der Agenda des Europäischen Rates.

Migrationspolitik

Noch konfliktreicher als die Debatte über die Reform der Währungsunion ist jene über die europäische Migrations- und Asylpolitik. Spätestens in der Flüchtlingskrise wurde deutlich, wie untauglich das derzeitige „Dublin-System“ ist, in dem – wenigstens der Theorie nach – die Grenzstaaten für fast alle Asylanträge zuständig wären. 2015 wurde deshalb eine einmalige Umverteilung von Asylbewerbern zwischen den Mitgliedstaaten beschlossen. Diese Quotenregelung wurde jedoch kaum umgesetzt. Ein wichtiger Grund dafür war die Blockadehaltung der Visegrád-Staaten Ungarn, Polen und Tschechien, gegen die die Kommission deshalb inzwischen ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat.

Im September präsentierte die Kommission nun Vorschläge für eine Reform der EU-Flüchtlingspolitik, die unter anderem auf eine stärker gemeinschaftliche Finanzierung hinauslaufen. Mitten in die Diskussion über diese Vorschläge legte wiederum Ratspräsident Tusk ein Papier vor, in dem er massive Kritik an dem „hochgradig entzweienden“ und „ineffektiven“ Ansatz verbindlicher nationaler Asylbewerberquoten übte. Dieses Papier wiederum wiesen verschiedene west- und südeuropäische Regierungen scharf zurück, Innenkommissar Dimitris Avramopoulos (ND/EVP) bezeichnete Tusks Sichtweise gar als „anti-europäisch“.

In den kommenden Monaten sind hier also noch einige kontroverse Debatten zu erwarten. Besonders pikant dürfte dabei werden, dass der rotierende Vorsitz im EU-Ministerrat im zweiten Halbjahr 2018 ausgerechnet an Österreich geht, das flüchtlingspolitisch schon bisher eine eher harte Linie fuhr und nun mit der neuen Regierung aus ÖVP (EVP) und FPÖ (BENF) noch weiter nach rechts rückt.

Mehrjähriger Finanzrahmen

Außerdem werden 2018 die Verhandlungen über den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen beginnen, in dem das EU-Budget für die Zeit ab 2020 festgelegt wird. Im Mai will die Kommission dazu ihren ersten Vorschlag veröffentlichen, der dann die Grundlage für langwierige Diskussionen zwischen den Regierungen im Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament sein wird.

In diesen Diskussionen wird es vor allem um zwei Hauptfragen gehen: Welchen Umfang soll der EU-Haushalt künftig haben? Und aus welchen Quellen soll er finanziert werden? Eine kurze Kontroverse zwischen dem EU-Parlamentspräsidenten Antonio Tajani (FI/EVP) und dem deutschen Politiker Christian Lindner (FDP/ALDE) machte vor einigen Wochen bereits deutlich, wie umstritten allein diese beiden Fragen sind.

Darüber hinaus werden im mehrjährigen Finanzrahmen aber auch schon die wichtigsten Einzeltöpfe des EU-Haushalts festgelegt, was für weitere Auseinandersetzungen sorgen dürfte: Werden die Mittel für die umstrittene EU-Agrarpolitik reduziert? Und werden die Strukturfonds zur Förderung wirtschaftsschwacher Regionen künftig an politische Bedingungen wie das demokratische Wohlbetragen der nationalen Regierungen geknüpft?

Weitere Reformvorschläge

Und noch in weiteren Bereichen will die Kommission in den nächsten Monaten Reformvorschläge vorlegen. Unter anderem strebt sie eine Einschränkung der nationalen Vetorechte bei der gemeinsamen EU-Außenpolitik, aber auch im steuer- und sozialpolitischen Bereich an. Außerdem soll die europäische Staatsanwaltschaft neue Kompetenzen zur Terrorismusbekämpfung erhalten.

Und auch die Annäherung der Staaten auf dem westlichen Balkan will die Kommission wieder intensivieren. Im Blickpunkt stehen dabei vor allem Serbien und Montenegro, für die Juncker bereits 2025 als mögliches Jahr eines EU-Beitritts genannt hat.

Brexit-Verhandlungen

Aber nicht alles wird Aufbruch und Gestaltung sein in der EU des Jahres 2018. Einige alte Probleme warten noch auf ihre Lösung und könnten zu neuen Krisen führen. Das betrifft zum Beispiel die Verhandlungen über den britischen EU-Austritt, die im nächsten Jahr entweder erfolgreich beendet werden – oder vollständig scheitern könnten.

Als Datum für den Brexit ist derzeit der 29. März 2019 vorgesehen, doch da das Austrittsabkommen zuvor von allen Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament ratifiziert werden muss, muss der Vertrag bereits etwa ein halbes Jahr früher stehen. In zähen Gesprächen wurde bislang eine Einigung über drei prioritäre Themen erzielt. In der nächsten Phase soll es nun um die künftigen Handelsbeziehungen gehen – was angesichts zahlreicher britischer „roter Linien“ mit komplexen Verhandlungen verbunden sein wird.

Es ist deshalb gut möglich, dass im Austrittsvertrag zunächst nur eine Übergangslösung vereinbart wird. Großbritannien könnte dann für einige Jahre im europäischen Binnenmarkt verbleiben (und wäre weiterhin an EU-Recht gebunden), um Zeit für die Verhandlung eines neuen Handelsabkommens zu gewinnen. Angesichts heftiger Streitigkeiten innerhalb der britischen Regierung wird aber auch eine solche Übergangslösung noch schwer genug zu erreichen sein.

Artikel-7-Verfahren gegen Polen

Eine Eskalation steht auch im Streit über die Rechtsstaatlichkeit in Polen bevor, der die EU nun schon seit rund zwei Jahren in Atem hält. Bereits vor einigen Wochen hat das Europäische Parlament beschlossen, ein Verfahren nach Artikel 7 Absatz 1 EU-Vertrag gegen die polnische Regierung vorzubereiten. Am morgigen Mittwoch könnte die Europäische Kommission denselben Schritt ergreifen.

Wenn es dazu kommt, muss der Ministerrat 2018 darüber abstimmen, ob in Polen „die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit besteht. Notwendig für diese Feststellung ist eine Vier-Fünftel-Mehrheit der nationalen Regierungen, das heißt 22 der 27 Regierungen (Polen selbst stimmt nicht mit ab). Rechtliche Folgen hat das Votum zwar nicht: Für Sanktionen wie den Stimmrechtsentzug wäre ein Artikel-7-Absatz-2-Verfahren mit Einstimmigkeit im Europäischen Rat erforderlich. Doch jedenfalls wird es jede nationale Regierung zwingen, sich eindeutig zu den Vorgängen in Polen zu positionieren, und den Konflikt damit auf eine neue politische Ebene heben.

Die spannendste Frage wird dabei sein, ob die polnische Regierung eine Chance hat, die Sperrminorität von fünf Staaten zusammenzubringen. Die ungarische Regierung unter Viktor Orbán (Fidesz/EVP) unterstützt Polen ausdrücklich, die in Großbritannien regierende Conservative Party ist mit der polnischen Regierungspartei PiS über die Allianz der Konservativen und Reformer in Europa verbündet. In Rumänien hat die Regierung unter Mihai Tudose (PSD/SPE) jüngst eine Justizreform beschlossen, die mit jener in Polen gewisse Ähnlichkeiten besitzt. Und auch Polens Visegrád-Partnerländer Tschechien und Slowakei sowie das nach rechts gerückte Österreich könnten im Verfahren gegen die polnische Regierung Wackelkandidaten sein.

Wahl in Italien

Neue Unruhe für die EU könnte sich schließlich auch durch die nationale Parlamentswahl in Italien ergeben, die Anfang März 2018 stattfinden wird. Unter Paolo Gentiloni (PD/SPE) zählte die italienische Regierung zuletzt zu den integrationsfreundlichsten in der EU und setzte sich unter anderem nachdrücklich für Spitzenkandidaten und gesamteuropäische Listen bei der Europawahl ein. Allerdings wird die Regierung nun aller Voraussicht nach ihre Mehrheit verlieren.

Bei der Wahl treten drei große Lager an: der bisher regierende Partito Democratico um Matteo Renzi (PD/SPE), das populistische Movimento Cinque Stelle (M5S) sowie ein Mitte-rechts-Bündnis aus der liberalkonservativen Forza Italia (FI/EVP) und der rechtsextremen Lega Nord (LN/BENF). Da voraussichtlich keines dieser Lager eine absolute Mehrheit gewinnt, dürfte es zu einer schwierigen Regierungsbildung kommen. Dabei sind vor allem zwei Szenarien plausibel: Zum einen ist es möglich, dass das Mitte-rechts-Lager nach der Wahl zerbricht und PD und FI eine Koalition bilden, die dann europapolitisch wohl im Wesentlichen den Kurs der alten Regierung fortsetzen würde. Zum anderen könnte es aber auch zu einer Koalition aus M5S und Lega (oder zu einer von der Lega tolerierten M5S-Minderheitsregierung) kommen – mit schwer einzuschätzenden Folgen.

Das ursprünglich europaskeptisch-nationalpopulistische M5S sitzt im Europäischen Parlament mit der britischen UKIP und der deutschen AfD in der EFDD-Fraktion. Angesichts der Chance auf eine baldige Regierungsbeteiligung bewegt es sich nun zu gemäßigteren, vereinzelt auch ausdrücklich europafreundlichen Positionen. Allerdings will die Partei ein Referendum über den Euro-Austritt weiterhin nicht vollständig ausschließen. Und da allein der Gedanke daran Kapitalanleger bereits nervös machen dürfte, besteht angesichts des ohnehin notorisch instabilen italienischen Bankensystems die Gefahr, dass die EU das Gespenst einer neuen Eurokrise auch 2018 nicht ganz loswird.

Nominierung der Europawahl-Spitzenkandidaten

Und schließlich laufen 2018 auch die Vorbereitungen für die nächste Europawahl an, die im Mai 2019 stattfinden wird. In den letzten Tagen fassten beide großen europäischen Parteien – die sozialdemokratische SPE und die christdemokratische EVP – Beschlüsse, wie sie im kommenden Jahr ihre Spitzenkandidaten nominieren wollen. Die SPE plant dazu von Herbst 2018 bis Frühjahr 2019 eine parteiinterne Vorwahl, deren genaues Verfahren noch festgelegt wird. Als mögliche Kandidaten gelten unter anderem die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini (PD/SPE), der Kommissions-Vizepräsident Frans Timmermans (PvdA/SPE) sowie der Währungskommissar Pierre Moscovici (PS/SPE).

Die EVP wiederum will ihren Spitzenkandidaten im November 2018 durch Delegierte auf einem Parteitag in Helsinki ernennen. Favorit ist hier der Brexit-Chefverhandler und frühere Binnenmarktkommissar Michel Barnier (UMP/EVP), aber auch der Kommissar für Wachstum Jyrki Katainen (Kok./EVP), der Kommissar für den Euro Valdis Dombrovskis (V/EVP) und der Fraktionschef im Europäischen Parlament Manfred Weber (CSU/EVP) kommen als Kandidaten in Frage.

Angesichts des hohen Vorsprungs, den die EVP in den Wahlumfragen genießt, dürfte die Entscheidung über den EVP-Spitzenkandidaten zugleich auch schon die Entscheidung über den Nachfolger von Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsident vorwegnehmen. Es ist deshalb damit zu rechnen, dass die EVP-Regierungschefs – insbesondere Angela Merkel, die das Spitzenkandidaten-Verfahren bei der letzten Europawahl 2014 nicht unterstützte, aber eben auch nicht verhindern konnte – sich hier besonders einbringen.

Letzte Gelegenheit zur Wahlrechtsreform

Und schließlich ist 2018 wohl auch die letzte Gelegenheit, um vor der Europawahl 2019 noch das europäische Wahlrecht zu reformieren. Ein entsprechender Vorschlag wurde vom Europäischen Parlament bereits vor zwei Jahren verabschiedet und liegt seitdem im Ministerrat auf Eis. In der Zwischenzeit hat zudem die Idee gesamteuropäischer Listen wieder an Fahrt aufgenommen und wird inzwischen unter anderem von Macron, Gentiloni und Juncker offensiv vertreten.

Im Februar will nun der Europäische Rat bei einem informellen Treffen über das Thema diskutieren, im Juni soll gegebenenfalls ein Beschluss gefasst werden. Da dabei jede nationale Regierung ein Vetorecht hat, steht zu erwarten, dass es wieder einmal nur zu einer Minimalreform kommt. Aber vielleicht überraschen uns die Staats- und Regierungschefs ja auch.

Und damit geht dieses Blog in seine alljährliche Winterpause. Allen Leserinnen und Lesern frohe Feiertage und ein gutes neues Jahr!

Bild: Nigel Howe [CC BY 2.0 de], via Flickr.

15 Dezember 2017

Wenn am nächsten Sonntag Europawahl wäre (Dezember 2017): Sozialdemokraten stürzen ab, Rekord-Vorsprung der EVP


GUE/
NGL
Grüne/
EFA
S&D ALDE EVP EKR EFDD ENF fʼlos Weitere
EP heute 52 51 189 68 217 74 45 37 18
Okt. 17 55 28 150 106 192 45 38* 37 12 15
Dez. 17 56 30 142 109 196 45 37* 36 9 18

Stand: 13.12.2017.
Die Europawahl 2019 wirft ihre Schatten voraus: In den letzten Tagen fassten sowohl die europäischen Sozialdemokraten als auch die christdemokratische Europäische Volkspartei Beschlüsse, wie sie im kommenden Jahr ihre Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten nominieren wollen. Die Sozialdemokraten wollen dazu von Herbst 2018 bis Frühjahr 2019 eine parteiinterne Vorwahl abhalten, deren genaues Verfahren noch festgelegt wird. Die Christdemokraten wiederum wollen ihren Spitzenkandidaten im November 2018 durch Delegierte auf einem Parteitag in Helsinki ernennen.

Dass beide großen europäischen Parteien sich eindeutig auf die Nominierung von Spitzenkandidaten festgelegt haben, ist einerseits ein gutes Zeichen für die europäische Demokratie – immerhin ist es noch nicht allzu lange her, dass die nationalen Regierungen mit dem Gedanken spielten, den nächsten Kommissionspräsidenten wieder ganz allein zu ernennen. Andererseits sieht es derzeit allerdings nicht danach aus, als ob es zu einem besonders spektakulären Rennen zwischen den beiden Kandidaten kommen würde. In der permanenten Großen Koalition, die die europäische Politik dominiert, wird traditionsgemäß jeweils der Kandidat der stärksten Fraktion im Europäischen Parlament Kommissionspräsident. Und die Europäische Volkspartei genießt in den jüngsten Umfragen einen Vorsprung von 54 Sitzen auf die Sozialdemokraten: der höchste Wert in der ganzen Wahlperiode – und bis zur Europawahl wohl kaum noch aufzuholen.

Desaströses Jahr der S&D

Für die gebeutelten Sozialdemokraten ist das das desaströse Ende eines ohnehin desaströsen Jahres. Zu nationalen Wahldebakeln in den Niederlanden, in Frankreich und in Tschechien (sowie, etwas weniger dramatisch, in Deutschland) kam auch der „Brexit-Effekt“ hinzu: Mit dem britischen EU-Austritt wird die sozialdemokratische S&D-Fraktion ihre Mitglieder von der Labour Party verlieren – während die EVP in Großbritannien niemals nennenswert vertreten war und deshalb auch durch den Brexit keinen Schaden nimmt.

Gegenüber der letzten Projektion von Oktober 2017 gibt die S&D nun noch einmal in mehreren Ländern Sitze ab. Der italienische PD leidet an neuer Konkurrenz von links, der rumänische PSD an anhaltenden Skandalen und einer umstrittenen Justizreform. Nur vereinzelt gibt es für die Sozialdemokraten auch gute Nachrichten, etwa in Spanien, wo der PSOE sich etwas verbessern kann. Insgesamt stürzt die S&D auf einen neuen Tiefstwert ab und würde nun nur noch 142 Sitze erreichen (–8).

EVP stabil

Die Europäische Volkspartei legt hingegen leicht zu und käme nun auf 196 Sitze (+4). Diese Zugewinne fanden vor allem in Ländern statt, in denen die Konservativen sich in der Opposition befinden: in Rumänien, Griechenland und Polen. Insgesamt hält sich die EVP nun bereits seit rund zwei Jahren recht stabil auf einem Niveau von 190 bis 200 Sitzen.

Angesichts der Schwäche der Sozialdemokraten würde ein solches Ergebnis wohl genügen, um bei der Wahl 2019 wieder die stärkste Fraktion zu stellen. Doch sollte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch die EVP in den Umfragen deutlich unterhalb ihres Ergebnisses von 2014 liegt – das seinerseits bereits ein drastischer Absturz gegenüber dem Ergebnis von 2009 war.

Große Koalition ohne Mehrheit

Verglichen mit der Zeit vor der Eurokrise befinden sich beide großen europäischen Parteien demoskopisch in schwacher Form. Als besonders auffällige Folge kämen sie in den jüngsten Umfragen auch nicht mehr auf eine absolute Mehrheit der Sitze: Nach der Projektion würde die Große Koalition aus EVP und S&D künftig nur noch 338 von 678 Abgeordneten stellen.

Der Gewinner bei diesem Niedergang der beiden großen Parteien sind die europäischen Liberalen. Deren Fraktion ALDE befindet sich schon heute in einer strategisch wichtigen Mittelposition zwischen dem Mitte-Links- und dem Mitte-Rechts-Block im Europäischen Parlament. Wenn künftig auch die Große Koalition auf Unterstützung von weiteren Parteien angewiesen ist, könnten die Liberalen künftig als „Zünglein an der Waage“ größte Bedeutung gewinnen.

ALDE wirbt weiter um Macron

Aber auch sonst profitiert die ALDE von der Schwäche der großen Parteien: Die Liberalen haben viele der Wählerstimmen gewonnen, die EVP und Sozialdemokraten verloren haben, und kommen in der Projektion seit der Frankreich-Wahl im Juni konstant auf über 100 Sitze (derzeit 109 / +3). Entsprechend selbstbewusst präsentierte sich die ALDE auch auf ihrem Kongress Anfang Dezember.

Die entscheidende Frage für die europäischen Liberalen bleibt allerdings, ob sich La République en Marche, die 2016 gegründete Partei des neuen französischen Präsidenten Emmanuel Macron, nach der Europawahl der ALDE-Fraktion anschließen wird oder nicht. Die Signale dazu sind bislang etwas widersprüchlich: LREM vermeidet bis jetzt jede öffentliche Festlegung – und ein Macron-naher sozialistischer Europaabgeordneter präsentierte jüngst sogar ein fraktionenübergreifendes Bündnis, das die von Macron geforderte „Neugründung Europas“ unterstützt und keinerlei formalen Bezug zur ALDE-Fraktion besitzt.

Allerdings ist dieses Pro-Macron-Bündnis explizit als „informelle Gruppe“ angelegt, nicht als Kern einer möglichen neuen Fraktion. Auf dem ALDE-Parteitag gab sich Parteichef Hans van Baalen deshalb trotz allem sehr zuversichtlich, dass sich LREM nach der Europawahl 2019 der ALDE anschließen wird. Ein Indiz dafür dürfte auch sein, dass Emmanuel Macron unlängst erklärte, er würde gern die derzeitige Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager (RV/ALDE) als nächste Kommissionspräsidentin sehen: Immerhin ist Vestager eine der Favoritinnen für die ALDE-Spitzenkandidatur.

Linke und Grüne im Aufwärtstrend

Außer den Liberalen können auch die Parteien auf der linken Seite des politischen Spektrums mit dem Jahresausgang recht zufrieden sein. Die Linksfraktion GUE/NGL legt in der Projektion leicht zu, was vor allem an Italien liegt: Dort haben sich nach zähen Verhandlungen verschiedene linke Kleinparteien zu einem Wahlbündnis namens Liberi e Uguali (LeU) zusammengefunden, das in den Umfragen stark genug ist, um die nationale Vier-Prozent-Hürde zu überspringen. In anderen Ländern – etwa Spanien, Griechenland und Tschechien – erfahren die Linken zwar auch leichte Einbußen. Doch mit insgesamt 56 Sitzen (+1) halten sie sich nun schon seit rund einem halben Jahr auf recht hohem Niveau.

Auch die Fraktion der Grünen/EFA setzt ihren Aufwärtstrend der letzten Monate fort. Dies liegt zum einen an etwas besseren Werten der deutschen, schwedischen und luxemburgischen Grünen, vor allem aber am überraschend starken Abschneiden der tschechischen Piráti (die wie alle Piratenparteien in der Projektion der G/EFA zugerechnet wird) bei der nationalen Parlamentswahl im November. Insgesamt käme die Fraktion damit nun auf 30 Sitze (+2). Das liegt einerseits zwar deutlich unter dem Ergebnis der Europawahl 2014, ist andererseits aber der beste Wert der G/EFA seit der Ankündigung des britischen EU-Austritts.

ENF auf neuem Tiefstwert

Auf der rechten Seite schließlich gab es in den letzten Wochen kaum Veränderungen: Die rechtskonservative EKR-Fraktion hält sich konstant bei 45 Sitzen (±0), wobei leichten Verlusten in Polen leichte Zugewinne in Tschechien und der Slowakei gegenüberstehen.

Die nationalpopulistische EFDD-Fraktion verliert minimal (37 Sitze / –1), da ihr italienisches Mitglied M5S einen Sitz an LeU abgeben müsste. Der Frust darüber dürfte sich allerdings in Grenzen halten: Dank der Schwäche der Sozialdemokraten ist das M5S nun die stärkste politische Kraft in Italien – wenige Monate vor der nächsten nationalen Parlamentswahl.

Auch die Rechtsaußenfraktion ENF verliert in der Projektion einen ihrer italienischen Sitze und käme nun auf 36 Mandate (–1). Damit steht das Rechtsaußenbündnis in den Umfragen erstmals schlechter da als bei der Europawahl 2014. Seit Anfang des Jahres 2017 hat die ENF in der Projektion fast die Hälfte ihrer Sitze eingebüßt. Wichtigste Gründe dafür sind der Einbruch des französischen Front National bei der nationalen Parlamentswahl im Juni und der Fraktionsaustritt der deutschen AfD im September.

Fraktionslose Rechtsextreme verlieren

Darüber hinaus erlitten auch einige der Parteien am alleräußersten rechten Rand in den Umfragen zuletzt Verluste: Die ultranationalistischen Chrysi Avgi aus Griechenland, ĽSNS aus der Slowakei und Jobbik aus Ungarn, die im Europäischen Parlament allesamt fraktionslos sind, würden jeweils einen Sitz abgeben. Insgesamt kämen die fraktionslosen Parteien damit nur noch auf 9 Mandate (–3) – der niedrigste Wert in dieser Wahlperiode.

Zulegen können hingegen einige neue Parteien, die bislang nicht im Europäischen Parlament vertreten sind und deshalb keiner Fraktion klar zugeordnet werden können (18 Sitze / +3). Neu im Tableau ist hier vor allem die slowenische LMŠ. Die Partei vertritt die Anhänger von Marjan Šarec, einem ehemaligen Kabarettisten, der bei der slowenischen Präsidentschaftswahl im Oktober/November überraschend die zweite Runde erreichte, ehe er in der Stichwahl gegen den Amtsinhaber Borut Pahor (SD/SPE) verlor.

Die Übersicht

Die folgende Tabelle schlüsselt die Projektion für die Sitzverteilung zwischen den Fraktionen im nächsten Europäischen Parlament nach nationalen Einzelparteien auf. Da es keine gesamteuropäischen Wahlumfragen gibt, basiert die Projektion auf aggregierten nationalen Umfragen und Wahlergebnissen aus allen Mitgliedstaaten. Die Werte für das Vereinigte Königreich werden zwar in der Tabelle angegeben, gehen jedoch nicht in die Gesamtsitzzahl ein.

Wie die Datengrundlage für die Länder im Einzelnen aussieht und nach welchen Kriterien die nationalen Parteien den europäischen Fraktionen zugeordnet wurden, ist im Kleingedruckten unter der Tabelle erläutert. Mehr Informationen zu den europäischen Parteien und zu den Fraktionen im Europäischen Parlament gibt es hier.



GUE/
NGL
Grüne/
EFA
S&D ALDE EVP EKR EFDD ENF fʼlos Weitere
EP heute 52 51 189 68 217 74 42 40 18
Okt. 17 55 28 150 106 192 45 38* 37 12 15
Dez. 17 56 30 142 109 196 45 37* 36 9 18
DE 9 Linke
1 Tier
10 Grüne
1 Piraten
1 ödp
20 SPD 9 FDP
1 FW
30 Union 1 Familie 11 AfD
1 Partei
1 NPD
FR 9 FI
6 PS 31 LREM 19 LR

9 FN

GB 1 SF 3 Greens
3 SNP
1 PC
32 Lab
1 SDLP
1 LibDem
25 Cons 5 UKIP
1 DUP
IT 5 LeU
19 PD
12 FI
1 SVP

21 M5S 11 LN
4 FdI


ES 7 UP 1 ERC
1 Comp
1 ICV
14 PSOE 12 Cʼs
1 PDeCAT
17 PP




PL


5 .N 12 PO
3 PSL
26 PiS


5 Kʼ15
RO

15 PSD 3 ALDE 9 PNL
2 PMP
2 UDMR




1 USR
NL 2 SP
1 PvdD
2 GL 2 PvdA 6 VVD
3 D66
3 CDA 1 CU
3 PVV
2 FvD
1 50plus
EL 5 Syriza
3 Pasok 1 EK 9 ND


1 XA
2 KKE

BE 2 PTB 2 Groen
1 Ecolo
1 sp.a
2 PS
2 OpenVLD
2 MR
2 CD&V
1 cdH
1 CSP
4 N-VA
1 VB

PT 1 CDU
2 BE

10 PS
8 PSD-CDS




CZ 1 KSČM 3 Piráti 1 ČSSD 8 ANO 1 TOP09
2 KDU-ČSL
3 ODS
2 SPD

HU
1 LMP 3 MSZP
1 DK

13 Fidesz


3 Jobbik
SE 2 V 1 MP 6 S 2 C
1 L
4 M
4 SD


AT 5 SPÖ 1 Neos 7 ÖVP

5 FPÖ

BG

6 BSP 1 DPS 8 GERB



2 OP
DK 1 FmEU
5 S 3 V
1 LA

3 DF



FI 1 Vas 2 Vihr 3 SDP 3 Kesk 3 Kok 1 PS



SK

4 SMER
1 KDH
1 M-H
2 OĽ-NOVA
2 SaS

1 SNS 1 ĽSNS 1 SR
IE 3 SF

3 FF 5 FG




HR 2 ŽZ
3 SDP
5 HDZ



1 Most
LT
2 LVŽS 1 LSDP 1 LRLS
1 DP
3 TS-LKD 1 LLRA 1 TT

1 LCP
LV

3 SDPS 2 ZZS 1 V 1 NA


1 JKP
SI

2 SD 1 DeSUS 2 SDS
1 NSi-SLS




2 LMŠ
EE

1 SDE 2 KE
2 RE





1 EKRE
CY 2 AKEL
1 DIKO
3 DISY




LU
1 Déi Gréng 1 LSAP 1 DP 3 CSV




MT

4 PL
2 PN





Verlauf


GUE/
NGL
G/EFA S&D ALDE EVP EKR EFDD ENF fʼlos Weitere
13.12.2017 56 30 142 109 196 45 37 36 9 18
16.10.2017 55 28 150 106 192 45 38 37 12 15
22.08.2017 57 24 149 108 196 42 29 44 12 17
27.06.2017 55 23 155 109 201 38 28 42 11 16
02.05.2017 46 28 170 82 198 35 27 59 12 21
mit GB 47 35 186 88 198 68 36 59 13 21
06.03.2017 50 35 182 80 191 69 48 60 14 22
16.01.2017 48 40 180 82 191 63 48 68 14 17
14.11.2016 48 38 182 91 194 65 47 61 13 12
13.09.2016 47 38 181 91 189 62 53 63 14 13
26.07.2016 48 39 185 90 192 59 54 61 13 10
25.05.2016 55 40 174 85 187 63 51 70 14 12
05.04.2016 52 37 179 85 192 72 50 53 15 16
07.02.2016 51 34 183 82 196 70 51 55 12 17
14.12.2015 52 33 185 87 192 68 52 53 12 17
17.10.2015 51 33 193 75 204 66 51 54 12 12
21.08.2015 56 35 190 74 204 70 47 49 11 15
30.06.2015 61 34 188 73 205 69 43 47 11 20
03.05.2015 60 32 193 80 205 62 44 51 15 9
10.03.2015 60 31 196 77 216 60 43 49 12 7
12.01.2015 65 40 190 70 212 59 47 43 17 8
18.11.2014 60 42 195 69 212 59 47 43 16 8
23.09.2014 53 39 196 67 223 61 47 40 15 10
28.07.2014 56 47 191 75 215 66 44 40 13 4
EP 01.07.14 52 50 191 67 221 70 48 37 15

Die Zeile „EP 01.07.14“ kennzeichnet die Sitzverteilung zum 1. Juli 2014, dem Zeitpunkt der Konstituierung des Europäischen Parlaments nach der Europawahl im Mai 2014. Bis März 2017 sind die Werte der Sitzprojektion einschließlich dem Vereinigten Königreich angegeben, ab Mai 2017 ohne das Vereinigte Königreich. Die Zeile „mit GB“ kennzeichnet die Werte für Mai 2017 mit dem Vereinigten Königreich. Die Spalte für die ENF-Fraktion gibt bis Mai 2015 die Werte der Europäischen Allianz für Freiheit (EAF) bzw. der Bewegung für ein Europa der Nationen und Freiheiten (BENF) und ihr nahestehender Parteien an, die bis zur Fraktionsgründung im Juni 2015 fraktionslos waren.

Die vollen Namen der Fraktionen und der nationalen Einzelparteien erscheinen als Mouseover-Text, wenn der Mauszeiger eine kurze Zeit regungslos auf der Bezeichnung in der Tabelle gehalten wird. Bei den „weiteren“ Parteien ist zudem die ungefähre politische Ausrichtung angegeben, um ihre Bündnismöglichkeiten auf europäischer Ebene anzudeuten. Da die betreffenden Parteien allerdings oft erst vor kurzer Zeit gegründet wurden, befindet sich ihre Programmatik zum Teil noch im Fluss, sodass die Angabe lediglich zur groben Orientierung dienen kann.

Fraktionszuordnung

Für die Projektion werden Parteien, die bereits im Europäischen Parlament vertreten sind, jeweils ihrer derzeitigen Fraktion zugerechnet, es sei denn, sie haben ausdrücklich ihren Entschluss zu einem Fraktionswechsel nach der nächsten Wahl erklärt oder ein Fraktionswechsel erscheint aus anderen Gründen sehr wahrscheinlich. Nationale Parteien, die derzeit nicht im Europäischen Parlament vertreten sind, aber einer europäischen Partei angehören oder ihr in der politischen Ausrichtung sehr nahe stehen, werden der Fraktion der entsprechenden europäischen Partei zugeordnet. In Fällen, bei denen sich die Mitglieder einer nationalen Liste nach der Wahl voraussichtlich auf mehrere Fraktionen aufteilen werden, wird jeweils die am plausibelsten scheinende Verteilung zugrundegelegt. Parteien, die nicht im Parlament vertreten sind und bei denen die Zuordnung zu einer bestimmten Fraktion unklar ist, werden als „Weitere Parteien“ eingeordnet. Diese Zuordnungen folgen zum Teil natürlich auch einer subjektiven Einschätzung der politischen Ausrichtung der Parteien. Jeder Leserin und jedem Leser sei es deshalb selbst überlassen, sie nach eigenen Kriterien zu korrigieren.

Für die Bildung einer eigenständigen Fraktion sind nach der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments mindestens 25 Abgeordnete aus mindestens sieben Mitgliedstaaten erforderlich. Mit einem Asterisk (*) gekennzeichnete Gruppierungen würden diese Bedingungen nach der Projektion derzeit nicht erfüllen. Sie müssten deshalb gegebenenfalls nach der Europawahl zusätzliche Abgeordnete (z. B. aus der Spalte „Weitere“) für sich gewinnen, um sich als Fraktion konstituieren zu können.

Datengrundlage

Soweit verfügbar, wurde bei der Sitzberechnung für jedes Land jeweils die jüngste Umfrage zu den Wahlabsichten für das Europäische Parlament herangezogen. In Ländern, wo es keine spezifischen Europawahlumfragen gibt oder wo die letzte solche Umfrage mehr als ein Jahr zurückliegt, wurde stattdessen die jüngste verfügbare Umfrage für die Wahl zum nationalen Parlament verwendet. Wo mehr als eine Umfrage erschienen ist, wurde der Durchschnitt aller Umfragen aus den letzten zwei Wochen vor der jüngsten Umfrage berechnet. Für Mitgliedstaaten, für die sich überhaupt keine Umfragen finden lassen, wurde auf die Ergebnisse der letzten nationalen Parlaments- oder Europawahl zurückgegriffen.
In der Regel wurden die nationalen Umfragewerte der Parteien direkt auf die Gesamtzahl der Sitze des Landes umgerechnet. In Ländern, wo die Wahl in regionalen Wahlkreisen ohne Verhältnisausgleich erfolgt (Frankreich, Vereinigtes Königreich, Belgien, Irland), werden regionale Umfragedaten genutzt, soweit diese verfügbar sind. Wo dies nicht der Fall ist, wird die Sitzzahl für jeden Wahlkreis einzeln berechnet, dabei aber jeweils die nationalen Gesamt-Umfragewerte herangezogen. Nationale Sperrklauseln werden, soweit vorhanden, in der Projektion berücksichtigt.
In Belgien entsprechen die Wahlkreise bei der Europawahl den Sprachgemeinschaft, während Umfragen üblicherweise auf Ebene der Regionen durchgeführt werden. Für die Projektion wurden für die französischsprachige Gemeinschaft die Umfragedaten aus Wallonien, für die niederländischsprachige Gemeinschaft die Umfragedaten aus Flandern genutzt. Für die deutschsprachige Gemeinschaft wird das Ergebnis der letzten Europawahl herangezogen.
In Ländern, in denen es üblich ist, dass Parteien zu Wahlen in Listenverbindungen antreten, werden der Projektion jeweils die am plausibelsten erscheinenden Listenverbindungen zugrunde gelegt. Insbesondere werden für Spanien folgende Listenverbindungen angenommen: Unidos Podemos, Compromís und ICV (mit Compromís auf dem 3., ICV auf dem 6. Listenplatz); PDeCAT, PNV und CC (mit PNV auf dem 2., CC auf dem 4. Listenplatz).
Da es in Deutschland bei der Europawahl keine Sperrklausel gibt, können Parteien bereits mit weniger als 1 Prozent der Stimmen einen Sitz im Europäischen Parlament gewinnen. Mangels zuverlässiger Umfragedaten wird für diese Kleinparteien in der Projektion jeweils das Ergebnis der letzten Europawahl herangezogen (je 1 Sitz für Tierschutzpartei, ödp, Piraten, FW, Familienpartei, PARTEI und NPD).
In Großbritannien haben wegen der Unterschiede im Wahlrecht einige Parteien nur bei Europawahlen echte Chancen, Mandate zu gewinnen. In Umfragen zu nationalen Wahlen schneiden diese Parteien deshalb strukturell deutlich schlechter ab als bei der Europawahl. Dies gilt vor allem für UKIP und Greens. Um dies zu kompensieren, wird in der Projektion für die Greens stets das Ergebnis der Europawahl herangezogen (3 Sitze). Für UKIP und LibDem werden die aktuellen Umfragewerte für nationale Wahlen verwendet, aber für die Projektion mit dem Faktor 3 (UKIP) bzw. 1,33 (LibDem) multipliziert.
In Italien können Minderheitenparteien durch eine Sonderregelung auch mit nur recht wenigen Stimmen ins Parlament einziehen. In der Projektion wird die Südtiroler Volkspartei deshalb jeweils mit dem Ergebnis der letzten Europawahl (1 Sitz) geführt.

Die folgende Übersicht führt die Datengrundlage für die Mitgliedstaaten im Einzelnen auf:
Deutschland: nationale Umfragen, 29.11.-12.12.2017, Quelle: Wikipedia.
Frankreich: Ergebnis der nationalen Parlamentswahl (1. Runde), 11.6.2017.
Vereinigtes Königreich, England: nationale Umfragen, 28.11.-10.12.2017, Quelle: Wikipedia.
Vereinigtes Königreich, Wales: Umfragen für Regionalwahl, 24.11.2017, Quelle: Wikipedia.
Vereinigtes Königreich, Schottland: Umfragen für Regionalwahl, 30.11.-5.12.2017, Quelle: Wikipedia.
Vereinigtes Königreich, Nordirland: regionales Ergebnis der nationalen Parlamentswahl, 8.6.2017.
Italien: nationale Umfragen, 29.11.-10.12.2017, Quelle: Wikipedia.
Spanien: nationale Umfragen, 8.-17.11.2017, Quelle: Wikipedia.
Polen: nationale Umfragen, 24.11.-12.12.2017, Quelle: Wikipedia.
Rumänien: nationale Umfragen, November 2017, Quelle: Wikipedia.
Niederlande: nationale Umfragen, 27.11.-10.12.2017, Quelle: Wikipedia.
Griechenland: nationale Umfragen, 4.12.2017, Quelle: Wikipedia.
Belgien, niederländischsprachige Gemeinschaft: regionale Umfragen (Flandern) für die nationale Parlamentswahl, 4.12.2017, Quelle: Wikipedia.
Belgien, französischsprachige Gemeinschaft: regionale Umfragen (Wallonien) für die nationale Parlamentswahl, 3.12.2017, Quelle: Wikipedia.
Belgien, deutschsprachige Gemeinschaft: Ergebnisse der Europawahl, 25.5.2014.
Portugal: nationale Umfragen, 4.12.2017, Quelle: Wikipedia.
Tschechien: nationale Umfragen, 24.11.2017, Quelle: Wikipedia.
Ungarn: nationale Umfragen, 15.-30.11.2017, Quelle: Wikipedia.
Schweden: nationale Umfragen, 26.11.-6.12.2017, Quelle: Wikipedia.
Österreich: nationale Umfragen, 3.-10.12., Quelle: Neuwal.
Bulgarien: nationale Umfragen, 22.6.2017, Quelle: Novinite.
Dänemark: nationale Umfragen, 26.11.-9.12.2017, Quelle: Berlinske Barometer.
Finnland: nationale Umfragen, 28.11.2017, Quelle: Wikipedia.
Slowakei: nationale Umfragen, 13.-18.11.2017, Quelle: Wikipedia.
Irland: nationale Umfragen, 7.12.2017, Quelle: Wikipedia.
Kroatien: nationale Umfragen, 24.11.-7.12.2017, Quelle: Wikipedia.
Litauen: nationale Umfragen, 19.11.2017, Quelle: Vilmorus.
Lettland: nationale Umfragen, November 2017, Quelle: Wikipedia.
Slowenien: nationale Umfragen, 7.12.2017, Quelle: Wikipedia.
Estland: nationale Umfragen, 5.12.2017, Quelle: Wikipedia.
Zypern: Ergebnis der nationalen Parlamentswahl, 22.5.2016.
Luxemburg: nationale Umfragen, 19.10.2016, Quelle: Luxemburger Tageblatt.
Malta: nationale Umfragen, 16.11.2017, Quelle: Malta Today.

Bilder: Eigene Grafiken.

08 Dezember 2017

Martin Schulz und die „Vereinigten Staaten von Europa“: Eine Frage der Glaubwürdigkeit

Folgt auf Schulzʼ markige Worte auch konkrete Politik?
Es waren markige Worte, die Martin Schulz (SPD/SPE) am gestrigen Donnerstag in seiner Rede auf dem SPD-Parteitag wählte, als er auf die Europapolitik zu sprechen kam. Zunächst bewegte sich seine Rhetorik dabei noch auf routinierten Bahnen: Der Nationalstaat habe „in der globalisierten Welt viel Gestaltungsmacht verloren“, Europa sei „die einzige Chance, wie wir im Wettbewerb mit anderen großen Regionen dieser Erde mithalten können“.

Dann aber verwies er auf das Heidelberger Parteiprogramm, in dem die SPD 1925 erstmals die „Vereinigten Staaten von Europa“ gefordert hatte. Und schließlich kam der eigentliche Hammer:
Und deshalb frage ich Euch: Warum nehmen wir uns eigentlich jetzt nicht vor – hundert Jahre nach unserem Heidelberger Beschluss; hundert Jahre später – spätestens im Jahre 2025 diese Vereinigten Staaten von Europa verwirklicht zu haben?
Ich will, dass es einen europäischen Verfassungsvertrag gibt, der ein föderales Europa schafft, das keine Bedrohung für seine Mitgliedsstaaten ist, sondern ihre sinnvolle Ergänzung. Ein solcher Verfassungsvertrag muss von einem Konvent geschrieben werden, der die Zivilgesellschaft und die Völker Europas mit einbezieht. [...] Wenn wir ihn haben, dann muss er in den Mitgliedsstaaten vorgelegt werden. Wer dann dagegen ist, der geht dann eben aus der Europäischen Union heraus. Lasst uns endlich den Mut aufbringen, Europa beherzt voranzubringen!
Der Vorsitzende der zweitgrößten deutschen Partei fordert einen Verfassungsvertrag für ein föderales Europa, und das schon bis 2025: Es ist nicht überraschend, dass diese Nachricht nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen europäischen Ländern schnell den Weg in die Schlagzeilen fand.

Und man liegt sicher nicht falsch, wenn man davon ausgeht, dass genau dies auch Teil des politischen Kalküls hinter der Rede war: Als Kanzlerkandidat hatte der frühere EU-Parlamentspräsident Schulz noch vermieden, seinen europapolitischen Hintergrund herauszustellen. Nach der schweren Niederlage bei der Bundestagswahl im September scheint er nun jedoch entschlossen, von dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron (LREM/–) zu lernen und sich selbst als Vertreter eines entschlossen pro-europäischen Kurses zu profilieren.

Gemischte Reaktionen

Doch anders als Macron stieß Schulz mit seinem Vorstoß in der Öffentlichkeit bestenfalls auf verhaltene Reaktionen. Noch zu den freundlichsten Kommentaren gehören jene, die dem SPD-Chef bescheinigen, er habe sein Wahlkampfthema ein wenig zu spät gefunden. Die linke, von dem früheren griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis ins Leben gerufene Bewegung Democracy in Europe Movement 2025 macht etwas süffisant darauf aufmerksam, dass sie das von Schulz genannte Zieldatum schon seit ihrer Gründung Anfang 2016 im Namen trägt. Offene Unterstützung kommt fast nur von der Union Europäischer Föderalisten, die Schulz als Vorbild für andere Politiker bezeichnet.

Auch bei den anderen deutschen Parteien hält sich die Begeisterung über Schulzʼ Vorstoß in Grenzen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) erklärt, man solle in der Europapolitik jetzt „nicht eine Zieldefinition, wie immer man das nennt“, in den Vordergrund stellen. Auch Franziska Brantner, Europapolitikerin der Grünen (EGP), will das Augenmerk eher auf „etwas nähere und dringend notwendige Schritte“ legen. Die linke Fraktionschefin Sarah Wagenknecht (Linke/EL) spricht von einer „weltfremden Idee“; Andreas Dobrindt, Landesgruppenchef der CSU (EVP), bezeichnet Schulz gar als einen „Europa-Radikalen“, der einen „Feldzug gegen Andersdenkende“ führe.

Vereinigung unter Zwang?

Dass Schulzʼ Vorschlag tatsächlich verwirklicht werden könnte, scheint dabei kaum ein politischer Beobachter zu glauben. Nur eine Handvoll britischer Brexit-Befürworter nimmt den SPD-Vorsitzenden offenbar beim Wort und beglückwünscht sich selbst dazu, die EU schon jetzt zu verlassen, bevor sie 2025 zum Austritt gezwungen würden.

Überhaupt steht im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte oft weniger die Idee eines föderalen Europa, sondern vielmehr Schulzʼ Aufforderung, dass Staaten, die den von ihm gewünschten Verfassungsvertrag nicht ratifizieren wollten, aus der EU austreten sollten. Dabei sind nur wenige Kommentatoren so gelassen wie der frühere Europaabgeordnete Andrew Duff (LibDem/ALDE): Im Rahmen der föderalistischen Spinelli Group schlug dieser schon 2013 eine weitreichende EU-Reform vor, bei der die nicht reformwilligen Staaten nur die Option einer „assoziierten Mitgliedschaft“ erhalten sollten. Für viele andere ist dieser Ansatz hingegen tabu: Eine „Vereinigung unter Zwang“, urteilt etwa der ZEIT-Redakteur Mark Schieritz, „würde den Kontinent spalten“ und „Europa ruinieren“.

Spott und Bedenkenträgerei

Insgesamt scheint Schulzʼ Vorstoß also – wenigstens kurzfristig – nicht das erhoffte Ziel zu erreichen. Statt als europapolitischer Hoffnungsträger erscheint der SPD-Parteichef wie ein Schulhof-Bully, der die anderen Mitgliedstaaten herumschubsen will; statt über seine Vision für das Jahr 2025 zu diskutieren, reagiert die deutsche Öffentlichkeit mit Spott und Bedenkenträgerei. Das aber ist nicht nur für Schulz ein Problem, sondern auch für den europäischen Föderalismus insgesamt. Denn natürlich werden andere Politiker diese Reaktionen sehr genau zur Kenntnis nehmen und es sich künftig zweimal überlegen, bevor sie sich mit mutigen europapolitischen Vorschlägen exponieren.

Woher aber kommt dieser Mangel an Enthusiasmus? Und vor allem: Was ließe sich dagegen tun?

Liegt es an Deutschland?

Ein erster Erklärungsansatz könnte sein, dass der Macronʼsche Ansatz in Deutschland eben doch nicht funktioniert. Immerhin ist Deutschland in den vergangenen Jahren mit dem Status quo der europäischen Integration recht gut gefahren: Während die Eurokrise europaweit eine Rekordarbeitslosigkeit brachte, erreichte Deutschland nahezu Vollbeschäftigung. Gleichzeitig baute die Bundesregierung ihre Stellung als stärkster Mitgliedstaat im Europäischen Rat aus und setzte für sich beispielsweise im ESM-Rat Vetorechte durch, die kein anderes Land der EU besitzt.

Zur größten Sorge wurde für viele die „Transferunion“, die deutschen Reichtum auf die Krisenstaaten umverteilt hätte. In der Flüchtlingskrise wiederum fand sich die deutsche Politik recht schnell damit ab, dass von verschiedenen mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten keine Unterstützung zu erwarten war, und reagierte stattdessen mit der Einführung nationaler Grenzkontrollen. Könnte es also sein, dass sich die deutsche Öffentlichkeit an den Gedanken gewöhnt hat, dass den eigenen nationalen Interessen mit einem intergouvernementalen Durchwursteln im Europäischen Rat am besten gedient und eine ambitionierte Weiterentwicklung der EU deshalb gar nicht notwendig ist?

Der Resonanzboden ist vorhanden

Diese Interpretation verkennt allerdings die deutlichen Zeichen für eine wachsende Europabegeisterung, die in der deutschen Öffentlichkeit in den letzten Jahren und Monaten durchaus zu erkennen waren. Der Pulse of Europe, der Anfang 2017 die deutschen Straßen und Plätze füllte, ist nur eines davon, der bemerkenswerte Erfolg von Büchern wie Ulrike Guérots Warum Europa eine Republik werden muss! und Robert Menasses Die Hauptstadt ein anderes. Hinzu kommen steigende Mitgliederzahlen der Jungen Europäischen Föderalisten sowie zahlreiche jüngere Vereine und Organisationen wie European Alternatives, DiEM25 oder die Lauten Europäer, um nur ein paar wenige zu nennen.

Der Resonanzboden für eine ambitionierte Europapolitik ist also auch in Deutschland durchaus vorhanden. Dass Martin Schulz mit seiner Ankündigung auf dem SPD-Parteitag nicht auf mehr Begeisterung stieß, dürfte eher mit etwas anderem zu tun haben: nämlich mit der fehlenden Glaubwürdigkeit, die diese Ankündigung bei vielen deutschen Europafreunden besitzt.

Mangel an Glaubwürdigkeit

Dieser Mangel an Glaubwürdigkeit hat zum einen mit der Person Schulz selbst zu tun. Als jemand, der fast sein ganzes politisches Leben als Europaabgeordneter verbracht hat, fünf Jahre lang EU-Parlamentspräsident war und vor der Europawahl 2014 zum europaweiten Spitzenkandidaten der europäischen Sozialdemokraten gewählt wurde, ist Martin Schulz einer der am stärksten europäisch orientierten Politiker in Deutschland. Über gesamteuropäische politische Zusammenhänge zu sprechen, ohne in Deutungsmuster der nationalen Außenpolitik zu verfallen, fällt ihm leichter als vielen anderen, und so nimmt man ihm die Überzeugung, dass sich die deutsche Sozialdemokratie nur durch eine stärkere Europäisierung aus ihrer Krise befreien kann, durchaus ab. Einerseits.

Andererseits ist Martin Schulz in all seinen Jahren im Europäischen Parlament jedoch niemals als ein besonders kohärenter Verfassungspolitiker aufgefallen. Sicher hat er als Parlamentspräsident seine eigene Institution gegenüber den nationalen Regierungen verteidigt. Seine Haltung gegenüber dem europäischen Föderalismus war jedoch bestenfalls ambivalent. So forderte er kurz nach dem Brexit-Referendum 2016 eine „echte europäische Regierung“, die „der parlamentarischen Kontrolle des Europaparlaments […] unterworfen“ sein solle – nur um wenige Tage später in einem Interview zu erklären, die EU könne sich „jetzt keine philosophische Debatte über Föderalismus und Intergouvernementalismus leisten“.

Nur eine Leerformel?

Im Bundestagswahlkampf 2017 betonte er schließlich sogar ausdrücklich, man dürfe sich die EU nicht als „die Vereinigten Staaten von Amerika auf europäischem Boden“ ausmalen, da man schließlich „aus einem Franzosen keinen Kalifornier, oder aus einem Deutschen keinen Texaner machen“ könne. Um den Menschen keine „Angst“ einzuflößen, solle man deshalb besser von einer „politischen Union der Vereinigten Demokratien von Europa“ sprechen – eine Formel, mit der Schulz implizit die Demokratie auf die nationale Ebene beschränkte und sich von der föderalistischen Idee einer gesamteuropäischen Demokratie distanzierte.

Kein Wunder also, wenn Schulzʼ jüngste Kehrtwende zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ unter den erfahreneren europäischen Föderalisten nicht jeden überzeugt. Der Verdacht drängt sich auf, dass es sich für ihn dabei nur um eine letztlich beliebige Leerformel handelt. Um diesen Verdacht auszuräumen, müsste Schulz den Begriff möglichst rasch mit konkreten politischen Forderungen untermauern. Und hier liegt das eigentliche Problem.

Kein Wort zu europäischer Demokratie

Denn liest man den Leitantrag des Parteitags, der Schulzʼ Positionen – nicht zuletzt zur Europapolitik – konkretisieren soll, so findet man dort zwar einen langen Absatz „für ein demokratisches, solidarisches und soziales Europa“, in dem auch einige durchaus substanzielle Vorschläge gemacht werden. So will die SPD unter anderem ein „System europäischer Mindestlöhne“ einführen, die Unternehmensbesteuerung auf europäischer Ebene harmonisieren, die Eurozone mit einem eigenen Haushalt für Investitionen ausstatten und den ESM zu einem „parlamentarisch kontrollierten Europäischen Währungsfonds weiterentwickeln“ (wobei offen bleibt, ob damit die nationalen Parlamente oder das Europäische Parlament gemeint ist). Auch für einen größeren EU-Haushalt, der sich verstärkt aus Eigenmitteln speist, ist die SPD offen.

All diese Maßnahmen aber lassen sich ohne allzu großen Aufwand auch innerhalb des bestehenden EU-Vertragswerks umsetzen. Wozu der von Schulz vorgeschlagene neue europäische Verfassungsvertrag notwendig sein soll, wird weder in seiner Parteitagsrede noch in dem Leitantrag erklärt. Auch zu dem eigentlichen Schlüsselthema des europäischen Föderalismus – dem Aufbau einer gesamteuropäischen Demokratie – findet sich in keinem der beiden Dokumente irgendeine konkrete Forderung. Kein Wort zu gesamteuropäischen Wahllisten, kein Wort zur Wahl der Europäischen Kommission: Es ist, als ob dieses Thema Schulz und die SPD überhaupt nicht interessierte.

Bloße Rhetorik hilft nicht weiter

Als Martin Schulz Anfang 2017 zum Kanzlerkandidaten seiner Partei gekürt wurde, bescherte das der SPD einen vorübergehenden Höhenflug in den Umfragen, der nach einigen Wochen jedoch jäh endete. Als eine der Ursachen dafür gilt, dass Schulz zu lange zögerte, seine plakative Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit mit konkreten Vorschlägen zu untermauern. Sein Schlagwort von den „Vereinigten Staaten von Europa“ krankt an demselben Fehler. Solange es nicht von konkreten Maßnahmen begleitet wird, wirkt es wie ein bloßes Aushängeschild – ein Versuch, eine durchaus europafreundliche, aber eben doch nur begrenzt ambitionierte Politik durch föderalistische Rhetorik aufzuhübschen, um sie besser zu verkaufen.

Damit aber täte Schulz weder sich und der SPD noch dem europäischen Föderalismus einen Gefallen. Gewiss, die Sozialdemokraten wären nicht die einzige Partei in Deutschland, die diese Strategie verfolgt – auch die FDP (ALDE) nennt in ihrem Grundsatzprogramm von 2012 als Fernziel einen „europäischen Bundesstaat“, ohne dass sich das in ihrer alltäglichen Politik allzu sehr bemerkbar machen würde. Aber auf die Dauer beschädigt das sowohl die Glaubwürdigkeit der Partei als auch die Kohärenz der europapolitischen Debatte.

Oder legt Schulz noch nach?

Es gibt freilich noch eine andere Möglichkeit: nämlich dass Schulz es doch ernst meint und die SPD nach seinem rhetorischen Startschuss auf dem Parteitag in den nächsten Tagen und Wochen tatsächlich eine ehrgeizige Europa-Agenda entwickelt, die eine weitreichende Vertragsreform notwendig macht und das Schlagwort von den „Vereinigten Staaten von Europa“ rechtfertigt. Vorschläge dafür sind genug vorhanden – etwa hier oder hier. Die SPD müsste sie nur aufgreifen, sich zu eigen machen und in der öffentlichen Debatte mit wirklicher Überzeugung vertreten.

Man darf gespannt sein, ob es dazu kommt.

Bild: Olaf Kosinsky [CC BY-SA 3.0 de], via Wikimedia Commons.