31 Januar 2020

Warum gerade Großbritannien? Historische Überlegungen aus Anlass des Brexit

47 Jahre und einen Monat war das Vereinigte Königreich Mitglied der EU. Und hörte doch niemals auf, ein Außenseiter zu sein.
Nun ist es also so weit: Heute Abend um 23 Uhr britischer Zeit (Mitternacht in Brüssel) tritt das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union aus. Für die EU ist das ein trauriges, aber verkraftbares Ereignis, für das Vereinigte Königreich selbst wohl erst der Anfang einer langen und schwierigen außen- und innenpolitischen Selbstfindungsphase. Die Hauptleidtragenden sind, wie so oft, keine staatlichen Entitäten, sondern einzelne Menschen – besonders all jene Europäerinnen und Europäer, die heute gegen ihren Willen und nur aufgrund ihres britischen Passes ihre Unionsbürgerschaft verlieren.

Auffällig am Brexit ist aber auch, dass entgegen den Voraussagen vieler Europaskeptiker und trotz der zahlreichen Krisen und Probleme der EU wenigstens bis jetzt kein Land sich anschickt, einen ähnlichen Weg zu gehen. Auch wenn viele der Brexiteer-Argumente – die Kritik an der „undemokratischen Fremdherrschaft“, die Verweigerung grenzüberschreitender finanzieller Umverteilung, die Sorge vor „Sozialtourismus“ durch die europäische Freizügigkeit – durchaus auch in anderen Mitgliedstaaten präsent sind, erreichten sie nur im Vereinigten Königreich jene Intensität, die letztlich zum Referendum von 2016 führte.

Was also ist schiefgegangen in den fast fünf Jahrzehnten, die das Vereinigte Königreich der EU angehörte? Und lässt sich daraus etwas für die Zukunft lernen?

Großbritannien, Wiege des überstaatlichen Föderalismus

Es mag aus heutiger Sicht paradox erscheinen, aber noch vor hundert Jahren war die Idee einer überstaatlichen Integration in wenigen Ländern so präsent wie in Großbritannien. 1938 gründete eine Gruppe um Lionel Curtis und Philipp Kerr (Lord Lothian) die Federal Union, nach der Schweizer Europa-Union die älteste Mitgliedsorganisation der heutigen Union Europäischer Föderalisten. Hauptziel der Federal Union bildete ein demokratischer Weltstaat, der aus ihrer Sicht unverzichtbar für eine dauerhafte Friedensordnung war. Als Vorstufe dazu setzten sie sich für eine demokratische Neuordnung des britischen Commonwealth ein – und für ein föderales Europa.

Anders als in anderen Ländern führte der Zweite Weltkrieg in Großbritannien allerdings nicht zu einer Ausbreitung dieser Ideen. Während etwa in Italien und Frankreich die Erfahrung der deutschen Besatzung bei vielen Menschen zu der Überzeugung führte, dass nur ein vereintes Europa gegen die Barbarei half, herrschte in Großbritannien nach der Battle of Britain eher das Bewusstsein vor, als Nation alleine einem übermächtigen Feind widerstanden zu haben.

Winston Churchill: für Europa, gegen Supranationalismus

Als sich der britische Oppositionschef und vormalige Premierminister Winston Churchill (Cons.) 1946 in seiner berühmten Züricher Rede für „eine Art Vereinigte Staaten von Europa“ aussprach, meinte er damit deshalb vor allem eine Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland. Die Briten hingegen hätten bereits „unser eigenes Commonwealth“, sodass Churchill sie nicht als Teil, sondern als „Freunde und Unterstützer des neuen Europas“ sah.

Die Wahrung der eigenen nationalen Souveränität spielte deshalb in der britischen Europapolitik schon frühzeitig eine zentrale Rolle: Churchill selbst regte 1947 die Gründung des United Europe Movement an, das sich für eine stärkere zwischenstaatliche Zusammenarbeit, aber explizit gegen nicht für einen europäischen Bundesstaat aussprach – und zog damit den Groll von Föderalisten wie Altiero Spinelli auf sich. Zum großen politischen Erfolg des UEM wurde die Gründung des Europarats 1949. Großbritannien beteiligte sich daran, achtete dabei jedoch strikt darauf, dass der Europarat keine eigenen überstaatlichen Kompetenzen erhielt.

Keine Beteiligung an den Europäischen Gemeinschaften

Als es mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften in den 1950er Jahren dann doch noch zur supranationalen Integration kam, war Großbritannien daran hingegen nicht beteiligt. Die sechs Gründerstaaten der EG – Deutschland, Frankreich, Italien und die Beneluxländer – versprachen sich von der Zusammenlegung von Souveränitätsrechten teils neue Handlungsspielräume und politische Anerkennung (so vor allem die im Zweiten Weltkrieg besiegten Deutschland und Italien), teils die Aussicht auf ein dauerhaftes System von Frieden und Sicherheit (so vor allem die im Zweiten Weltkrieg überfallenen Frankreich und Benelux).

In Großbritannien hingegen sorgte sich die Labour-Regierung unter Clement Attlee, dass die europäische Montanunion zu einem Hindernis für ihre eigene Politik einer Verstaatlichung der Kohle- und Stahlindustrie werden könnte. Und unter Churchills Konservativen, die 1951 an die Regierung zurückkehrten, spielte nach wie vor das spät-imperiale britische Selbstverständnis als eigenständige Weltmacht eine zentrale Rolle.

Die gescheiterte Freihandelszone

Als Gegenmodell zu den supranationalen Gemeinschaften setzte sich Großbritannien in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre deshalb für die Gründung einer großen gesamteuropäischen Freihandelszone ohne tiefergehende politische Integration ein. Dieser Vorschlag hatte auch in Kontinentaleuropa durchaus Sympathisanten. In der deutschen Bundesregierung etwa musste Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) 1956 von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch machen, um Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (CDU) und Atomminister Franz-Josef Strauß (CSU) auf die Linie einer Integration im kleinen, aber supranationalen Rahmen der „Sechs“ einzuschwören.

Letztlich aber setzten sich die Befürworter der supranationalen Methode durch: 1952 nahm die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, 1958 die Europäische Atomgemeinschaft und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ihre Arbeit auf, aus der später die Europäische Union entstand. Die britischen Bemühungen hingegen führten 1960 nur zur Gründung der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) mit Dänemark, Norwegen, Schweden, Portugal, Österreich und der Schweiz.

Kurswechsel und französisches Veto

Dieser geografisch heterogene Staatenbund verlor für Großbritannien jedoch schnell an Interesse, auch weil die ökonomisch erfolgreichen EG-Länder faktisch viel wichtigere Handelspartner waren. Als zudem das Ende des British Empire eine nicht mehr zu leugnende Realität wurde, änderte der konservative Premierminister Harold MacMillan schließlich Kurs und stellte am 10. August 1961, weniger als zwei Jahre nach Gründung der EFTA, einen Beitrittsantrag zu den Europäischen Gemeinschaften.

Die darauf folgenden Verhandlungen gerieten jedoch rasch unter einen schlechten Stern. Innerhalb von Großbritannien unterstützte nur eine Minderheit der Bevölkerung den Beitritt, die oppositionelle Labour Party warnte vor dem Verlust der nationalen Unabhängigkeit, und zahlreiche Lobbygruppen drängten darauf, dass vor einem Beitritt erst das EG-Recht geändert werden müsse, um britischen Interessen besser gerecht zu werden. Auf EG-Seite wiederum hielt sich die Bereitschaft zu solchen Anpassungen in Grenzen. Vor allem aber sah der französische Präsident Charles de Gaulle eine britische Mitgliedschaft als Bedrohung für die von ihm angestrebte französische (bzw. französisch-deutsche) Führungsrolle innerhalb der EG: Im Januar 1963 legte er ein Veto gegen den Beitritt ein.

Der Beitritt 1973

In Großbritannien verschlechterte sich unterdessen die wirtschaftliche Lage zusehends – was schließlich auch den 1964 gewählten Labour-Premierminister Harold Wilson trotz der EG-skeptischen Grundhaltung seiner Partei dazu brachte, 1967 einen erneuten Beitrittsantrag zu stellen. Dieser zweite Anlauf blieb zunächst jedoch ebenso erfolglos wie der erste. Erst nachdem De Gaulle 1969 zurückgetreten war, gab Frankreich den Weg für neue Verhandlungen frei.

Am Ende war es deshalb der 1970-1974 amtierende konservative Premierminister Edward Heath, der das Vereinigte Königreich am 1. Januar 1973 in die Europäischen Gemeinschaften führte. Die etwas verbesserte wirtschaftliche Lage und die inzwischen weitgehend europafreundliche Haltung der Conservative Party erlaubten es Heath, sich in den Beitrittsverhandlungen auf Kompromisse einzulassen. Zugleich hatte auch die große Debatte um die Supranationalität Anfang der 1970er scheinbar an Bedeutung verloren: Da auch Frankreich seit De Gaulle eher auf zwischenstaatliche Zusammenarbeit setzte, schienen tiefgreifende Integrationsschritte erst einmal ohnehin nicht auf der Tagesordnung zu stehen.

Das erste Austrittsreferendum

Dennoch löste der Beitritt in Großbritannien erst einmal erbitterten politischen Streit aus: Die Labour Party, europapolitisch tief gespalten, hatte sich bereits 1971 auf eine Volksabstimmung über die EG-Mitgliedschaft festgelegt. Nach ihrer Rückkehr an die Regierung kam es deshalb 1975 zum ersten britischen Austrittsreferendum – zugleich das erste Referendum in der britischen Geschichte überhaupt. Im Abstimmungskampf warnten die mehrheitlich konservativen Europabefürworter vor politischer Isolation und wirtschaftlichem Niedergang, während die linken Europaskeptiker Souveränitätsverlust und einen Ausverkauf von Arbeiterinteressen anprangerten. Am Ende setzte sich das proeuropäische Lager deutlich mit über 67 Prozent der Stimmen durch.

Diese erste Referendumsdebatte zeigte jedoch bereits ein Muster, das die europapolitische Debatte in Großbritannien seitdem dauerhaft prägte: Anders als in anderen Ländern stellten die Integrationsfreunde die europäische Einigung weniger als eine Chance und ein zukunftsgerichtetes Identifikationsangebot dar, sondern betonten vor allem die negativen Konsequenzen eines Austritts – während die positive Botschaft im Wesentlichen darin bestand, dass die Kosten der Mitgliedschaft (finanziell und in Bezug auf die nationale Souveränität) schon nicht so schlimm ausfallen würden, wie von den Gegnern vorausgesagt. Für die künftige britische Europapolitik wurde das zu einer Hypothek, da jeder spätere Integrationsschritt, jede Erweiterung des EU-Budgets als Beleg erscheinen konnten, dass die britische Bevölkerung über die Bedeutung der Mitgliedschaft getäuscht worden war.

Thatcher und der „Britenrabatt“

Und natürlich ließen neue Konflikte nicht lang auf sich warten. Die Hauptursache wurde die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP), also jener Politikbereich, in dem die EG mit Abstand am meisten Geld umverteilte. Agrarprodukte der reicheren nördlichen Mitgliedstaaten (v.a. Milch, Butter) wurden dabei tendenziell stärker gefördert als solche der ärmeren südlichen (v.a. Obst). Dies führte dazu, dass vor dem britischen Beitritt die Landwirte jedes Mitgliedstaats von der GAP etwa zu demselben Anteil profitierten, der den finanziellen Beiträgen des Landes zum EG-Haushalt entsprach.

Da Großbritannien jedoch kaum über Landwirtschaft verfügte, funktionierte dieses faktische Juste-retour-Prinzip nun plötzlich nicht mehr; das Land wurde zum großen Nettozahler des EG-Haushalts. Auch der 1975 eingerichtete Regionalfonds EFRE, der strukturschwachen Regionen zugute kam, wie es sie in der EG damals außer in Italien vor allem im Vereinigten Königreich gab, konnte dies nur teilweise kompensieren.

In den Mittelpunkt rückte diese Frage unter der Konservativen Margaret Thatcher, die 1979 Premierministerin wurde und einen neuen, kompromissloseren Stil in die britische Politik einführte. In der ersten Hälfte der 1980er Jahre sorgte Thatcher dafür, dass die British Budget Question alle anderen Vorhaben der EG in den Schatten stellte. Vorläufig beigelegt wurde der Streit darüber erst auf dem Gipfel von Fontainebleau im Sommer 1984 durch den sogenannten „Britenrabatt“, eine Absenkung des britischen Beitrags an den EG-Haushalt.

Gegen den sozialistischen europäischen Superstaat

Die Einigung von Fontainebleau erlaubte es der EG, neue Vertiefungsschritte voranzubringen. 1985 lancierte der neu ernannte Kommissionspräsident Jacques Delors (PS/BSPEG) das Binnenmarktprojekt, um den Handel innerhalb der EG zu erleichtern. Um die damit verbundene Gesetzgebungsagenda zu erleichtern, beschlossen die Mitgliedstaaten in der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 für diesen Bereich die Abschaffung nationaler Vetorechte – eine Entwicklung, die Thatcher zwar skeptisch sah, aber akzeptierte, da die damit verbundene handelspolitische Zielsetzung ihren eigenen politischen Überzeugungen entsprach.

Doch schon bald nach Verabschiedung der Einheitlichen Akte drängten zahlreiche europäische Akteure auf weitere Integrationsschritte: Das Europäische Parlament forderte eine Demokratisierung der EG und mehr eigene Kompetenzen, Delorsʼ Kommission und die französische Regierung unter François Mitterrand (PS/BSPEG) eine Währungsunion und einen Ausbau der europäischen Sozialpolitik.

Für Thatcher waren diese Vorschläge gleich doppelt inakzeptabel, bedrohten sie doch nicht nur die nationale Souveränität, sondern auch die harten wirtschaftsliberalen Reformen, die ihre Regierung in Großbritannien durchsetzte. Sozialisten und europäische Föderalisten wurden zum gemeinsamen Feindbild der Premierministerin. In einer berühmt gewordenen Rede vor dem Europa-Kolleg in Brügge fasste sie im Herbst 1988 ihre europapolitische Haltung zusammen:
„Wir haben nicht in Großbritannien die Grenzen des Staates erfolgreich zurückgezogen, nur um sie auf europäischer Ebene wiedereingeführt zu sehen, mit einem europäischen Superstaat, der eine neue Herrschaft aus Brüssel ausübt.“

Im diplomatischen Abseits

Tatsächlich sah es zum Zeitpunkt der Brügge-Rede durchaus so aus, als ob Thatcher mit ihrem Widerstand gegen jegliche neuen Integrationsvorschläge Erfolg haben könnte. Im November 1989 änderte jedoch der Fall der Berliner Mauer die politischen Rahmenbedingungen: Um die deutsche Wiedervereinigung europapolitisch einzubetten, einigten sich die deutsche und die französische Regierung rasch auf das Ziel einer großen Vertragsreform und waren nun bereit, dafür beträchtliches politisches Kapital einzusetzen.

Thatcher hingegen geriet immer mehr in die diplomatische Isolation, wobei auch der Umstand nicht half, dass sie und ihr Umfeld ein tiefes Misstrauen gegenüber den machtpolitischen Ambitionen Deutschlands hegten. Im Juli 1990 beschrieb der Thatcher-nahe Handelsminister Nicholas Ridley die geplanten Integrationsschritte in einem Interview als eine „deutsche Hinterlist, um ganz Europa zu übernehmen“. Auch wenn Ridley daraufhin zurücktreten musste, gingen viele Zeitgenossen davon aus, dass dies auch der Sicht der Premierministerin entsprach.

Spaltung der Conservative Party

Die eskalierende Europafeindlichkeit Thatchers blieb nicht ohne Folge für die öffentliche Debatte in Großbritannien. Um 1990 war die Conservative Party tief gespalten zwischen der alten, gemäßigt-europafreundlichen Garde um Ex-Premier Heath und Thatchers ehemaligen Verteidigungsminister Michael Heseltine auf der einen und der Thatcher-nahen, tief europaskeptischen „Brügge-Gruppe“ auf der anderen Seite. Hinzu kam die Boulevard-, aber auch die konservative Qualitätspresse, in der massive, teils verschwörungstheoretisch oder rassistisch grundierte Vorwürfe gegen die EG-Institutionen und die integrationsfreudigeren Mitgliedstaaten gängig wurden.

Der parteiinterne Streit um die Europapolitik war letztlich auch ein zentraler Grund für die Abwahl Thatchers im Herbst 1990. Ihr Nachfolger John Major versuchte durch Pragmatismus die Wogen zu glätten: Statt ein Veto gegen die Vertragsreform einzulegen, setzte er auf eine „Opt-out“-Regelung, durch die Großbritannien sich an den umstrittensten Neuerungen – der Währungsunion und dem Sozialprotokoll – nicht beteiligten musste. Nach dem entscheidenden Gipfel von Maastricht beschrieb er das Ergebnis als „Spiel, Satz und Sieg für Großbritannien“.

Lösungsansatz Opt-out?

Letztlich jedoch verfehlten die Opt-outs – zu denen später noch weitere, etwa für die Schengen-Verordnung, hinzukommen sollten – ihre erhoffte Wirkung. Auf der einen Seite konnten sie die Conservative Party europapolitisch nicht befrieden. Die Ratifikation des Maastrichter Vertrags gelang Major nur äußerst knapp, und es kam zu europaskeptischen Parteigründungen wie der Anti-Federalist League (1991, ab 1993 UK Independence Party) oder der Referendum Party (1994-1997).

Auf der anderen Seite unterstrichen die Opt-outs aber auch die öffentliche Wahrnehmung der britischen Rolle als Außenseiter in der EG. Eine positive Vision trat in der Maastricht-Debatte kaum zutage – auch die Befürworter des Vertrags beschrieben die europäische Einigung vor allem als ein Projekt, an dem man sich beteiligen musste, um nicht in der außenpolitischen Isolation zu landen. Ebenso wie zuvor der Britenrabatt erschienen die Opt-outs deshalb als eine Art Schadensbegrenzung bei einem Unterfangen, das für Großbritannien wenig echten Nutzen zu bieten schien und dessen Auswirkungen auf das eigene Land man deshalb möglichst klein zu halten versuchte.

New Labour

Dieses Selbstverständnis änderte sich auch nicht grundsätzlich, als 1997 Tony Blair die Regierungsmehrheit für die Labour Party zurückeroberte. Deren europapolitische Linie war in der Zwischenzeit zwar sehr viel europafreundlicher geworden – teils aus Antagonismus zu Thatchers Europafeindlichkeit, teils durch den Druck der proeuropäischen Social Democratic Party, die sich 1981 abgespalten hatte und 1988 mit den Liberalen fusionierte. Die links-nationalistische Haltung, die die Partei lange Zeit geprägt hatte, wurde mit Tony Blairs sozialliberalem New-Labour-Projekt stark in den Hintergrund gedrängt.

In einigen Fragen entwickelte Blair sogar eine progressive Europapolitik, die über andere Mitgliedstaaten hinausging – etwa als Großbritannien nach der Osterweiterung 2004 seinen Arbeitsmarkt sofort für die neuen Unionsbürger öffnete, während Deutschland, Frankreich und andere auf langen Übergangszeiten beharrten. Die Vertragsreformen von Amsterdam über Nizza bis Lissabon, die die EU während der Amtszeit Blairs und seines Nachfolgers Gordon Brown umsetzte, stießen bei der Labour-Mehrheit im Parlament auf sehr viel weniger Widerstand als der Vertrag von Maastricht zuvor bei der Conservative Party. (Ein für 2006 vorgesehenes Referendum über den Verfassungsvertrag fiel letztlich aus, da dieser zuvor bereits in Frankreich und den Niederlanden gescheitert war.)

Doch auch Blair und Brown stellten nicht die Vorstellung in Frage, dass Großbritannien innerhalb der EU eine Sonderrolle spielte und primär an die Verteidigung seiner eigenen Interessen und Werte zu denken habe. Bei europapolitischen Projekten, die über die Binnenmarktliberalisierung hinausgingen, blieb die Labour-Regierung in der Regel defensiv und ging einer grundsätzlichen Konfrontation mit der vorherrschend integrationsfeindlichen öffentlichen Meinung aus dem Weg.

David Camerons europaskeptische Symbolpolitik

Unterdessen verschärfte sich auf der rechten Seite des politischen Spektrums der europaskeptische Diskurs immer weiter. In der Conservative Party wurden die Vertreter des früheren Heath- und Heseltine-Flügels aus den Ämtern gedrängt; 2005 gewann David Cameron den Parteivorsitz mit dem Versprechen, das Bündnis mit der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament aufzulösen und eine neue Fraktion (die spätere EKR) zu gründen.

Nach Camerons Aufstieg zum Premierminister 2010 kulminierte die europaskeptische Symbolpolitik. 2011 verweigerte er seine Unterschrift unter den „Euro-Plus-Vertrag“, obwohl dieser Großbritannien als Nicht-Mitgliedstaat der Währungsunion ohnehin nicht unmittelbar betraf. 2012 ließ er britische Beamte eine (ergebnislose, aber öffentlichkeitswirksame) Kosten-Nutzen-Rechnung durchführen, welche Kompetenzen das Vereinigte Königreich von der EU zurückfordern sollte. 2013 forderte Cameron eine „weniger freie Freizügigkeit“ . Unter dem Schlagwort der „EU-Reform“ setzten sich die Konservativen – aber auch die Labour Party und sogar die Liberal Democrats – im Unterhauswahlkampf 2015 für einen Rückbau supranationaler Elemente auf europäischer Ebene ein.

Das Referendum

Doch all diese Rhetorik verhinderte nicht, dass sich immer mehr Wähler noch radikaleren Lösungen zuwandten: Ab 1999 vergrößerte die UK Independence Party bei jeder Europawahl ihren Sitzanteil, bis sie 2014 mit 27,5% der Stimmen zur stärksten nationalen Kraft aufstieg. Auch wenn diese Entwicklung bei nationalen Wahlen deutlich schwächer ausfiel, machte sie das enorme Wählerpotenzial deutlich, das die etablierten Parteien zu verlieren drohten.

Vor der Unterhauswahl 2015 reagierte Cameron darauf mit dem Versprechen einer neuen Volksabstimmung – ein Versprechen, das zunächst ohne unmittelbare Folgen zu bleiben schien, da Camerons liberaldemokratischer Koalitionspartner ein EU-Austrittsreferendum strikt ablehnte und eine Alleinregierung angesichts der damaligen Umfragewerte kaum möglich schien. Erst als die Conservative Party überraschend doch eine absolute Mehrheit gewann, geriet Cameron in der Pflicht, sein Wahlversprechen umzusetzen. Das Weitere ist bekannt.

Fazit

Was also waren die Faktoren, die das Vereinigte Königreich in der EU über Jahre hinweg immer weiter zum Außenseiter werden ließen und schließlich in den Brexit trieben? Die tiefste historische Wurzel scheint mir die unterschiedliche Weltkriegserfahrung zu sein: Da sich das Vereinigte Königreich als einziges europäisches Land als Sieger aus eigener Kraft erlebte, hielt sich hier länger als anderswo die Vorstellung, außen- und wirtschaftspolitisch auch allein zurechtzukommen.

Das senkte die Bereitschaft, Kompetenzen an supranationale Institutionen abzugeben – was wiederum dazu führte, dass Großbritannien sich an der EG-Integration erst mit Verspätung beteiligte. Dadurch blieben britische Interessen bei den ersten politischen Weichenstellungen der EG unberücksichtigt, was teilweise die späteren Konflikte um die Agrar- und Haushaltspolitik erklärt.

Teilrückzüge statt Identifikationsangebote

Andererseits traten zahlreiche andere Mitgliedstaaten der EU noch später bei, und politische Konflikte um wirtschaftliche Interessen gibt es anderswo (man denke an Griechenland in der Eurokrise) in noch weitaus größerem Ausmaß. Was Großbritannien tatsächlich besonders macht, ist, wie wenig die europäische Einigung zu einem positiven Identifikationsangebot wurde.

Schon in den ersten Jahren der britischen Mitgliedschaft betonten proeuropäische Politiker und Aktivisten weniger die Chancen eines geeinten Europas als die Risiken eines nationalen Alleingangs. Auch später folgten sie meist der rhetorischen Strategie, der öffentlichen Meinung möglichst wenig Europa zuzumuten und zu betonen, dass man nur das Nötigste an Integration betreibe. Noch im Referendumswahlkampf 2016 meinte David Cameron die Wähler von einem Verbleib in der EU dadurch überzeugen zu können, dass er sich selbst lautstark als „Europaskeptiker“ bezeichnete. Und auch auf einer praktischen Ebene wurden die großen politischen Konflikte um den britischen Finanzbeitrag oder die Währungsunion nicht etwa durch eine Verständigung auf ein übergeordnetes gemeinsames Ziel gelöst, sondern durch Teilrückzüge Großbritanniens aus dem gemeinsamen europäischen Rahmen.

Das Gefühl, Europäer zu sein

Entsprechend blieb das Gefühl, Europäer zu sein, in Großbritannien so schwach ausgeprägt wie in keinem anderen europäischen Land. Die Vorstellung, dass eine politische Gemeinschaft auch über nationale Grenzen hinweg reichen kann, dass Demokratie auch im überstaatlichen Rahmen möglich ist und dass Meinungsbildung auch quer zu „nationalen Interessen“ erfolgen kann, konnte in der öffentlichen politischen Debatte in Großbritannien – von Ausnahmen abgesehen – vor 2016 niemals breiten Fuß fassen.

Und in Zukunft? In den Jahren seit dem Referendum ist in Großbritannien zum ersten Mal eine große und aktive Bewegung entstanden, für die die Idee, zu Europa zu gehören, eine identitätsstiftende Rolle spielt. Diese Bewegung war – trotz der Mobilisierung von Millionen Menschen bei Demonstrationen und Petitionen – zu schwach, um bei der Unterhauswahl 2019 den Brexit zu verhindern. Aber ohne Zweifel hat sie die europapolitische Debatte in Großbritannien verändert, und die Zukunft wird zeigen, wohin sie noch trägt.

Für die Proeuropäer im Rest der EU aber sollte die britische Erfahrung die Erkenntnis bringen, dass nationale Sonderregelungen, Ausnahmeklauseln und Haushaltsrabatte zwar kurzfristig politische Konflikte entschärfen können, aber langfristig keine stabile Grundlage für ein supranationales Einigungsprojekt sind. Europaskepsis lässt sich nicht dadurch überwinden, dass man schrittweise vor ihr zurückweicht, sondern dass man ihr selbstbewusst ein überstaatliches Verständnis von Bürgerschaft, Solidarität und Demokratie entgegensetzt. Den Mut dazu aufzubringen ist der sicherste Weg, damit der Brexit auch in Zukunft ein Einzelfall in der europäischen Geschichte bleibt.

28 Januar 2020

Das Spitzenkandidaten-System: ein Blick aus Tallinn

Das Spitzenkandidaten-Verfahren sollte die Wahl des EU-Kommissionspräsidenten demokratischer machen, aber unumstritten war es nie. Woran ist es 2019 gescheitert? Und wie ließe es sich reformieren? Auf diese Fragen antworten hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Heute: Piret Kuusik. (Zum Anfang der Serie.)

„Um sich voll ins Spitzenkandidaten-System einzubringen, brauchen Parteien Einfluss innerhalb ihrer europäischen Parteifamilien. Für kleine Staaten ist das ausgesprochen schwierig.“
Die Wahl von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat gezeigt, wie verschwommen der Auswahlprozess für ihr Amt noch immer ist. Klar ist nur eines: Ein richtiges und allgemein anerkanntes Verfahren muss noch gefunden werden.

Um meine Gedanken dazu zu entwickeln, werde ich im Folgenden zunächst die estnische Erfahrung bei der Besetzung der EU-Spitzenämter im Mai 2019 beschreiben, gefolgt von einigen Gedanken zum Spitzenkandidatenverfahren.

Estland in der EU

Die estnische Rolle in der EU ist durch zwei Aspekte definiert. Erstens ist es hinsichtlich Geografie, Ressourcen und institutionellem Gewicht ein kleines Land. Zweitens ist Estland Teil der nordisch-baltischen Region, in der die Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen den Regionalmächten (die „Nordic-Baltic 6“: Dänemark, Estland, Finnland, Lettland, Litauen und Schweden) auf einer täglichen Basis stattfindet. Gemeinsam kann dieses NB6-Format in der EU ein substantielles Gewicht auf die Waage bringen, wenn auch keine Sperrminorität.

Im Europäischen Parlament hat Estland sechs Sitze. Vor der Europawahl 2019 setzten diese sich folgendermaßen zusammen: 3 ALDE, 1 EVP, 1 Sozialdemokrat, 1 Grüner. Nach der Wahl 2019 sind es 3 für Renew Europe, 2 Sozialdemokraten, 1 Identität und Demokratie. Nach dem Brexit wird Estland einen weiteren Sitz gewinnen, der an einen EVP-Kandidaten gehen wird.

Kein nordisch-baltischer Kandidat

Bei der Vergabe der EU-Spitzenämter schlug Estland keinen eigenen Kandidaten vor. Es gab einen Moment, zu dem die estnischen Diplomaten die Aussichten des früheren Kommissions-Vizepräsidenten und Kommissars für den digitalen Binnenmarkt Andrus Ansip sondierten. Dies zeitigte jedoch keine Früchte.

Auch die nordisch-baltische Region vereinigte sich nicht hinter einem gemeinsamen Kandidaten. Margrethe Vestager aus Dänemark war die plausibelste Option, aber aus mir unbekannten Gründen warf die Region nicht ihr Gewicht für sie in die Waagschale. Bekannt ist außerdem, dass Dalia Grybauskaitė, die frühere Präsidentin von Litauen, Unterstützung für eine Bewerbung als Ratspräsidentin suchte. Der estnische Premierminister Jüri Ratas unterstützte sie, aber ihre Kandidatur blieb ohne Erfolg.

Der stille Zuschauer

Infolgedessen wurde Estland im Auswahlverfahren zu einem Außenseiter. Premierminister Ratas vertrat zwei Prinzipien für die Auswahl: eine geografisch ausgewogene Verteilung der Spitzenämter und eine Entscheidungsfindung im Konsens. Nichts allzu Originelles also.
Die estnische Delegation fuhr zu dem entscheidenden Gipfel in Brüssel am 30. Juni 2019 in der Erwartung, dass die „Osaka-Vereinbarung“ – in der Ratspräsident Donald Tusk und die Regierungen von Deutschland, Frankreich, Spanien und den Niederlanden den SPE-Spitzenkandidaten Frans Timmermans als Kommissionspräsident unterstützt hatten – Bestand haben würde. Premierminister Ratas verbrachte einen großen Teil seiner Zeit in dem Raum der estnischen Delegation und wartete auf die Klingel, die die Staats- und Regierungschefs ins „Ei“ (den zentralen Tagungsraum des Ratsgebäudes) ruft. Zuweilen wurde er in Präsident Tusks Büro gerufen, um Informationen zu erhalten oder Estlands Sichtweise zu präsentieren.

Die estnische Delegation sollte eigentlich am 1. Juli nach Tallinn zurückfliegen. Sie flog am 2. Juli. Zu dieser Zeit waren die Kandidaten vorgeschlagen worden und die endgültige Entscheidung verlief schnell und glatt. Premierminister Ratas gehörte jedoch weder zu der Gruppe, die den Osaka-Deal ablehnte, noch spielte er keine zentrale Rolle bei der Einigung, die schließlich zu der Nominierung von der Leyens führte.

Was ist davon zu halten?

Was also ist davon zu halten? Zunächst einmal ist der Europäische Rat, trotz der Spitzenkandidaten-Bemühungen des Parlaments, noch immer das Machtzentrum im institutionellen System der EU. Der Vertrag von Lissabon hat dem Europäischen Rat eine zentrale Rolle gegeben, die durch die jüngsten Krisen noch weiter gestärkt wurde. Der Ausgangspunkt ist also, dass der Europäische Rat und der Präsident der Europäischen Kommission miteinander zurechtkommen müssen. Sie müssen notwendigerweise in Beziehung zueinander treten, wobei die Kommission natürlich ihre Unabhängigkeit wahrt.

Die Legitimität der Europäischen Kommission geht deshalb in erster Linie vom Rat aus. Das Europäische Parlament bringt durch das Bestätigungsverfahren eine Bürgerkomponente hinzu.

Die EU ist kein Staat

Das bringt mich zu meinem zweiten Punkt: Die EU wie ein staatliches System zu behandeln oder sie in eines verwandeln zu wollen, ist nicht richtig. Die EU ist ein System, in dem die Interessen der Völker, das gemeinsame europäische Interesse und die nationalen Interessen fein ausbalanciert sind. Die Versuche, die nationalen Interessen aus der Gleichung zu nehmen, führen zu internen Kämpfen, Blockaden und letztlich zur Irrelevanz der EU.

Das Problem mit dem derzeitigen Spitzenkandidaten-System ist gerade dies – es schließt nationale Interessen, namentlich den Rat, aus. Das ist der Hauptgrund, weshalb das Verfahren gescheitert ist. Der EU das bekannte Nationalstaatssystem überzustülpen, in dem die Regierung vom Parlament gewählt wird, unterschlägt die Natur der EU als ein System fein abgestimmter Interessen einer großen Zahl von Akteuren. Es war nur natürlich, dass der Rat seine Rolle und Interessen schützen würde.

Verfahrensunsicherheit schadet der Glaubwürdigkeit der EU

Nun mein dritter Punkt: Die fehlende Klarheit des Auswahlverfahrens mindert die Glaubwürdigkeit der EU insgesamt. Wie soll ich einem Bürger erklären, wie der Präsident der Europäischen Kommission heute gewählt wird? „Der Vertrag sagt eine Sache, aber die Praxis ist anders“ – ist das eine akzeptable Antwort? Wie soll man Unterstützung und Interesse für die EU erzeugen, wenn die Antwort auf die Frage lautet: „Ein bisschen so und ein bisschen so, aber es könnte auch ganz anders sein“?

Ich mache mir Sorgen, dass die vorherrschende „Work in progress“-Einstellung der EU auf die Dauer schaden wird. Die Unklarheit des Verfahrens führte dazu, dass die Botschaften an die Wählerschaft vor der Wahl widersprüchlich und nicht immer richtig waren. So wurden die Wahlen zum Europäischen Parlament in Estland diesmal als „europäische Wahlen“ beworben und auf die Idee aufgebaut, dass die Bevölkerung eine Zukunft der EU wählen und der Spitzenkandidat der Partei diese Vision dann umsetzen würde. Nun – was soll man der Wählerschaft jetzt sagen? „Das war die Idee, aber es hat nicht so recht geklappt. Aber geht bei der nächsten Wahl jedenfalls wieder wählen!“?

Gleichheit unter Mitgliedstaaten

Viertens: Blickt man in die Zukunft, muss die Debatte vom Prinzip der Gleichheit unter den Mitgliedstaaten ausgehen. Der allgemeine Trend, dass Entscheidungen zunehmend abseits des Verhandlungstischs fallen, ist besorgniserregend für die kleinen und mittleren Mitgliedstaaten.

Ich denke hier besonders an die erwähnte Vereinbarung auf dem G20-Gipfel in Osaka. Präsident Emmanuel Macron, Kanzlerin Angela Merkel, Ratspräsident Donald Tusk, der niederländische Premierminister Mark Rutte und der spanische Premierminister Pedro Sánchez nahmen am 28./29. Juni 2019 an dem Treffen der G20-Regierungschefs in Japan teil. Die europäischen Regierungschefs einigten sich dort, die Kandidatur von Frans Timmermans, dem Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten, zu unterstützen. Sie kehrten mit diesem Vorschlag nach Brüssel zurück, in der Annahme, dass die Dinge so laufen würden, und waren überrascht, als viele Mitgliedstaaten (und nicht nur die Visegrád-4-Länder Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei) damit nicht einverstanden waren und den Plan scheitern ließen.

Aber was für eine politische Führungskultur, was für ein Sinn für Kollegialität spricht aus diesem Beispiel? Wie könnte es akzeptabel sein, dass eine solche Entscheidung von einer kleinen Anzahl an Ländern in einem exklusiven Format (und auf der anderen Seite der Welt) getroffen und dann in Brüssel als beschlossene Sache präsentiert wird?

Der Europäische Rat hat 28 Mitglieder und arbeitet nach dem Prinzip „ein Land, eine Stimme“. Gleichheit aller Mitgliedstaaten ist das Öl, das die EU am Laufen hält. Größere Mitgliedstaaten haben schon viele Vorteile aufgrund ihrer umfangreicheren finanziellen und personellen Mittel, ihrer Größe und Macht, die kleine Mitgliedstaaten nicht besitzen. Das „Ein Land, eine Stimme“-Prinzip stellt sicher, dass es dennoch eine gleichberechtigte Grundlage gibt und gemeinsames Handeln möglich wird. Dieser Grundsatz muss deshalb aufrechterhalten werden.

Wenige Parteien können sich voll einbringen

Ein letzter Punkt: Ich denke, die eingangs beschriebene estnische Erfahrung zeigt gut, welche Unterschiede es zwischen den Mitgliedstaaten gibt, wenn es darum geht, sich auf europäischer Ebene einzubringen. Insbesondere gibt es nur wenige politische Parteien und Mitgliedstaaten, die die Fähigkeit, das Wissen und die Netzwerke haben, um Politik auch auf europäischer Ebene zu betreiben.

Das Spitzenkandidaten-System ist eng verbunden mit den europäischen Parteienfamilien. Deutschland ist ein hervorragendes Beispiel, um zu illustrieren, wie die CDU sowohl in der nationalen Politik als auch durch die EVP auf europäischer Ebene aktiv ist. In ähnlicher Weise ist Präsident Macrons Partei La République En Marche eng mit Renew Europe verbunden. Hier kommt der Vorteil eines großen Staates zum Tragen. Im Gegensatz dazu hat Estland, wie oben erwähnt, sechs Europaabgeordnete, die auf mehrere europäische Parteienfamilien aufgeteilt sind. Und seien wir ehrlich – mit ein oder zwei Mitgliedern hat man keinen großen Hebel, um etwas in einer europäischen Fraktion zu erreichen.

Um sich voll in das Spitzenkandidaten-System einzubringen, brauchen die nationalen Parteien eines Mitgliedstaats enge Verbindungen und Einfluss innerhalb ihrer europäischen Parteifamilien im Europäischen Parlament. Für kleine Staaten ist das jedoch ausgesprochen schwierig, denn im Europäischen Parlament gibt es kein „Ein Land, eine Stimme“-Prinzip. Für sie wird es deshalb immer schwer sein, einen geeigneten Spitzenkandidaten vorzuschlagen oder den Spitzenkandidaten davon zu überzeugen, die Interessen kleiner Staaten und ihrer Wählerschaft im Sinn zu behalten.

Erst die lokale Wählerschaft für europäische Themen interessieren

Ausgehend vom estnischen Beispiel kommt noch hinzu, dass das politische Geschehen auf europäischer Ebene noch immer zu weit entfernt und geradezu unerreichbar scheint. Parteien sind nicht besonders interessiert an Themen von gemeinsamem europäischem Interesse, und die Verbindungen zwischen einer europäischen Parteienfamilie und ihren lokalen Mitgliedsparteien sind oft eher nominell als real. Das liegt nicht allein an der europäischen Ebene: Es gibt vieles, was die lokalen Parteien selbst tun könnten, um sich enger mit ihren europäischen Parteienfamilien zu verbinden. Aber es ist die Realität, die berücksichtigt werden muss. Nicht alle Länder in der EU funktionieren nun einmal wie Deutschland.

Das ist auch der Grund dafür, dass ich noch immer skeptisch gegenüber transnationalen gesamteuropäischen Wahllisten bin. Die Wählerschaft stellt keine Verbindung zwischen den lokalen und den europäischen Parteien her, sodass die europäische Parteienlandschaft auf lokaler Ebene unbekannt ist. Und die Wählerschaft mit unvertrauten Namen zu konfrontieren und sie aufzufordern, zwischen ihnen eine demokratische Entscheidung zu treffen, ist unfair und undemokratisch.

Kurz gesagt, gibt es kein europäisches Gemeinwesen, so gern die Freunde der europäischen Politik auch eines sehen würden. Wissenschaftler, Politiker, Bürokraten und Reformer müssen das berücksichtigen und nicht als ein lästiges Ärgernis behandeln, das man schnell beiseiteschiebt. Wenn man die EU wirklich demokratischer machen will, gilt es erst einmal die lokale Wählerschaft für europäische Themen zu interessieren. Damit würde eine Grundlage geschaffen, auf der dann visionärere gesamteuropäische Lösungen für die Reform der EU möglich werden.

Piret Kuusik ist Junior Research Fellow am Estonian Foreign Policy Institute / International Centre for Defence and Security in Tallinn.
Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens – Artikelübersicht

  1. Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Serienauftakt
  2. Für eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten und ein neues Europawahlrecht: Wege und Irrwege der Demokratie in der EU ● Frank Decker
  3. Noch nicht ausgemustert: Gezielte Reformen können das Spitzenkandidaten-Verfahren wieder erfolgreich machen ● Julian Rappold
  4. Die Europawahl darf keine Wundertüte sein: Für eine rechtliche Verankerung des Spitzenkandidaten-Prinzips ● Gaby Bischoff
  5. Wiederbelebung des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Was können die europäischen Parteien selbst tun? [EN / DE] ● Gert-Jan Put
  6. Das Spitzenkandidaten-System: ein Blick aus Tallinn [EN / DE] ● Piret Kuusik
  7. Wissen, wer was tun wird: Transnationale Listen können das Spitzenkandidaten-System retten [FR / DE] ● Charles Goerens
  8. Das Polarisierungsdilemma: Streit zwischen den Parteien belebte 2019 den Europawahlkampf – und ließ dann die Spitzenkandidaten scheitern ● Manuel Müller

Bilder: Tallinn, Vabaduse väljak: Scotch Mist [CC BY-SA], via Wikimedia Commons; Porträt Piret Kuusik: Andres Teiss / ICDS [alle Rechte vorbehalten].
Übertragung aus dem Englischen: Manuel Müller.

Spitzenkandidaten System: A View from Tallinn

The leading candidates procedure was meant to democratize the election of the EU Commission President, but it was never uncontroversial. Why did it fail in 2019? And how could it be reformed? In a series of guest articles, representatives from politics, academia and civil society answer to these question. Today: Piret Kuusik. (To the start of the series.)

“To fully engage with the Spitzenkandidaten system, national parties need influence in the European party groups. For small states it is difficult to make this happen.”
The selection of the European Commission President Ursula von der Leyen demonstrated the blurred nature of the selection process. Though one thing is clear – the correct and set procedure for the selection of the President of the European Commission is still in the making.

To unwrap my thinking, I will first describe Estonia’s experience in the top-jobs election in May 2019. Followed by a couple of points of thought in regards to the Spitzenkandidaten process.

Estonia in the EU

In the EU, Estonia is defined by two aspects. First, it is a small country in geography, resources and institutional weight. Secondly, Estonia is part of the Nordic-Baltic region, where coordination and cooperation among the regional powers (the Nordic-Baltic 6: Denmark, Estonia, Finland, Latvia, Lithuania, and Sweden) takes place daily. Together with the NB6, the format has a substantial weight in the EU, however not a blocking minority.

In the European Parliament, Estonia has six seats. Prior to the 2019 elections, the composition was the following: 3 ALDE, 1 EPP, 1 Social Democrat and 1 Greens. After the 2019 election: 3 Renew Europe, 2 Social Democrats, 1 Identity and Democracy Group. Estonia will gain one more seat after Brexit and this one will go to a candidate affiliated with EPP.

No Nordic-Baltic candidate

In the top-jobs selection, Estonia did not propose a candidate, though there was a moment where Estonian officials tested the waters for the former Vice-President of the European Commission and Commissioner for Digital Affairs Andrus Ansip. However, it did not bear any fruits.

Also, the Nordic-Baltic region did not rally behind a candidate either. Margrethe Vestager was the likeliest option, however, for reasons unknown to me, the region did not throw its weight behind her either. It is known that Dalia Grybauskaitė, former President of Lithuania, tried to rally support for her bid for the European Council President position. The Estonian Prime Minister Jüri Ratas supported her; however, her candidacy did not fly high.

The quiet bystander

As a consequence, Estonia became an outsider to the process. Prime Minister Ratas had two principles in the selection: geographically balanced distribution of top-jobs and consensual decision-making. Indeed, not particularly original.

The Estonian delegation went to the decisive summit in Brussels on 30 June with the expectation that the “Osaka agreement” – in which Council President Donald Tusk and the governments of Germany, France, Spain and the Netherlands had endorsed PES leading candidate Frans Timmermans as Commission president – would hold. PM Ratas spent a large chunk of his time in the designated room for the Estonian delegation, waiting for the bell that calls the Leaders to gather in the “egg” (the main conference room of the Council building). At times, he was convened to President Tusk’s office, however, for the purpose to get information or present Estonia’s point of view.

The Estonian delegation had to fly back to Tallinn on 1 July. For 2 July, they flew back. By that time, the candidate proposals had been made and the final decision-making went quickly and smoothly. However, PM Ratas had not been part of the group that rejected the Osaka deal, nor had he played a crucial role in the settlement that finally led to the nomination of von der Leyen.

What to make of it?

So, what to make of it? First, despite the European Parliament’s efforts to run the leading-candidate process, the European Council is the center of gravity in the institutional make-up. The Lisbon Treaty has given the European Council a central role, which has been further enhanced through recent crises. Thus, the starting point is that the European Council and the President of the European Commission must get along. A necessary relationship must be established, while the European Commission maintains its independency.

Therefore, the legitimacy of the European Commission, first and foremost, runs from the Council. The European Parliament brings along the citizens component through the confirmation process.

The EU is not a state

This leads me to my second point. Treating the EU like a state system and trying to convert it into one is incorrect. The EU is a system where peoples’, common European and national interests are finely balanced. The efforts to exclude national interests from the equation result in internal fighting, deadlocks and consequently in the EU’s irrelevance.

The problem of the current Spitzenkandidaten system is exactly that – it excludes national interests, meaning the Council. This is the primary reason why the lead-candidates process failed. Forcing the familiar nation-state system, where the government rises from the parliament, on the EU is dismissing the nature of the EU as a system of finely tuned interests among larger number of actors. It was only natural that the Council would protect its role and interests.

Procedural uncertainty harms the EU’s credibility

Now to my third point. The unclarity of the selection process reduces the credibility of the EU as a whole. How do I explain to a citizen how the President of European Commission is elected today? “The Treaty says one thing, but the practice is different” – is it an acceptable answer? How do you gather support and interest in the EU, when the answer to this question is “a bit of that and a bit of the other, but something third is also possible”?

I am worried that the prevalent “work in progress” attitude is going to harm the EU in the long run. Thanks to the unclarity, the messages given to the electorate prior to the elections were conflictual and not always correct. For example, in Estonia, the European Parliament elections were promoted as “European elections” and were built around the idea that people were electing a future for the EU and then the party lead candidate would be the executive of this vision. Well – what do you say to the electorate now? “It was the idea, but it did not pan out exactly that way. However, do go and vote in the next elections!”?

Equality among member states

Fourthly, when looking into the future, the conversation needs to start from the principle of equality among member states. The general trend of negotiations moving away from the discussion table is worrying to small and medium sized member states.

I here especially think of the agreement reached at the G20 Osaka meeting. President Emmanuel Macron, Chancellor Angela Merkel, Council President Donald Tusk, Dutch Prime Minister Mark Rutte and Spanish Prime Minister Pedro Sánchez attended the G20 leaders meeting in Japan on 28-29 June 2019. The European leaders agreed there to support the candidacy of Frans Timmermans, the lead candidate of the Social Democrats. They returned to Brussels with the proposal, thinking that this is how things will run. To their surprise, many member states (and not only the Visegrád-4 countries Poland, Hungary, Czechia and Slovakia) did not agree and the plan was watered down.

However, what kind of political leadership and sense of collegiality does this example support? How is it acceptable that the decision is made by a small number of countries in an exclusive format (on the other side of the world) and then presented as a done deal in Brussels?

The European Council has 28 members and runs on the principle of “one state, one vote”. Equality of all member states is the oil that keeps the EU running. Bigger member states already have many of the advantages through their larger numbers of finance and personnel, their size and might that smaller member states lack. Hence, the “one state, one vote” principle ensures that there is an equal footing and collective action is pursued. This principle needs to be upheld.

Few parties can fully engage with the Spitzenkandidaten system

Finally, I think the Estonian experience that I described at the beginning illustrates well the differences in member states’ political engagement with the European level. Namely, there are few political parties and member states who have the capacity, knowledge and networks to pursue politics also at the European level.

The Spitzenkandidaten system is deeply intertwined with European political groups and Germany is a great example to illustrate how the CDU is both active in national politics and at the European level through the EPP. Similarly, President Macron’s party La République En Marche is tightly connected to Renew Europe. This is where the advantage of a bigger state comes to the fore. I contrast this with Estonia. As mentioned above, Estonia has 6 MEPs dispersed between European party groups. Let’s be honest – one does not buy much political leverage or influence in a European party group with 1-2 members.

In order to fully engage with the Spitzenkandidaten system, the national parties of a member state need to have close connections and influence in the European party groups in the European Parliament. However, for small states it is difficult to make this happen, because at the European Parliament there is no “one state, one vote” principle. It will be very hard to put forward a fitting lead-candidate or persuade the lead-candidate to consider the interests of the small states and their electorate.

Start with engaging the electorate with European level issues locally

Additionally, based on Estonia’s example, the European level politics seems still too far and somewhat unattainable. Political parties are not particularly interested in issues of common European interest and the connections between European party group and locally affiliated parties tend to be more nominal than real. This is not the fault of the European level alone: There is a great deal of work to be done from the local parties in connecting with the European party groups. But it is the reality and it needs to be taken into account. Not everybody in the EU function like Germany after all.

This is also the reason why I continue to be skeptical towards transnational pan-European party lists. The electorate does not make the connection between the local and European level parties, and thus the political landscape at the European level is unknown locally. Therefore, thrusting unfamiliar names on the electorate and asking them to make a democratic choice is unfair and undemocratic.

Fundamentally, there is no European polity, however much European politics buffs would like to see it. This needs to be taken into account and not seen as an annoying nuisance to be cast aside by scholars, politicians, bureaucrats and reformers. If one really wants to make Europe more democratic, then start with engaging the electorate with European level issues and politics locally. Then, one builds a ground for more visionary pan-European solutions for reforming the EU.

Piret Kuusik is Junior Research Fellow at the Estonian Foreign Policy Institute/International Centre for Defence and Security in Tallinn.
Reform of the leading candidates procedure – overview

  1. Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Serienauftakt
  2. Für eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten und ein neues Europawahlrecht: Wege und Irrwege der Demokratie in der EU ● Frank Decker
  3. Noch nicht ausgemustert: Gezielte Reformen können das Spitzenkandidaten-Verfahren wieder erfolgreich machen ● Julian Rappold
  4. Die Europawahl darf keine Wundertüte sein: Für eine rechtliche Verankerung des Spitzenkandidaten-Prinzips ● Gaby Bischoff
  5. Resuscitating the lead candidates procedure: What can the Europarties do themselves? [EN / DE] ● Gert-Jan Put
  6. Spitzenkandidaten System: A View from Tallinn [EN / DE] ● Piret Kuusik
  7. Savoir qui fera quoi : Les listes transnationales peuvent sauver le système des « Spitzenkandidaten » [FR / DE] ● Charles Goerens
  8. Das Polarisierungsdilemma: Streit zwischen den Parteien belebte 2019 den Europawahlkampf – und ließ dann die Spitzenkandidaten scheitern ● Manuel Müller

Pictures: Tallinn, Vabaduse väljak: Scotch Mist [CC BY-SA], via Wikimedia Commons; portrait Piret Kuusik: Andres Teiss / ICDS [all rights reserved].

22 Januar 2020

Konferenz zur Zukunft Europas: „Bürgerbeteiligung“ ist nicht genug

Früher ließ man Bürger verfassunggebende Versammlungen wählen. Heute beteiligt man sie an einer Zukunftskonferenz.
Am 9. Mai soll es losgehen mit der Konferenz zur Zukunft Europas – und die Erwartungen an sie sind groß. Einen „Eckpfeiler, um eine stärkere EU zu bauen“, nannte sie jüngst etwa der Präsident des Europäischen Parlaments, David Sassoli (PD/SPE). EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU/EVP) erhofft sich von ihr „die Grundlage für eine starke, sichere und demokratische EU“. Der Europaabgeordnete Daniel Freund (Grüne/EGP) spricht von dem „größten EU-Reformprozess seit dem EU-Konvent“. Und die Union Europäischer Föderalisten sieht eine „historische Gelegenheit auf dem Weg zu einem föderalen Europa“.

Debatte über das Konferenzmandat

Wie die Veranstaltung, auf die sich diese hohen Hoffnungen richten, genau aussehen soll, ist indessen noch offen. Das Europäische Parlament hat dazu in der vergangenen Woche seine Vorschläge vorgelegt, heute folgte eine Stellungnahme der Kommission. Der Europäische Rat hingegen blieb auf seinem Dezember-Gipfel eher vage (im Abschlussdokument fanden sich dazu nur drei knappe Absätze unter „Sonstiges“); eine Ratssitzung nächste Woche dürfte mehr Klarheit bringen. Im Februar wollen sich alle drei Institutionen dann auf ein Memorandum of Understanding einigen, in dem das Mandat, die Zusammensetzung und die Arbeitsweise der Konferenz festgelegt werden.

Einige Konturen der Konferenz zeichnen sich jedoch schon ab – und wer die Diskussionen darüber in den vergangenen Wochen und Monaten mitverfolgt hat, konnte feststellen, wie sich der Fokus der Debatte nach und nach verschoben hat. Ging es anfangs vor allem darum, spezifische institutionelle Reformen zu diskutieren, so soll die Konferenz jetzt ein sehr viel größeres Themenspektrum behandeln. Und war zunächst viel davon die Rede, ob die Konferenz der Auftakt zu einer formalen Vertragsänderung sein könnte, so wurde diese Frage inzwischen fast vollständig von einer Debatte über die Beteiligung der europäischen Bürgerinnen und Bürger an der Konferenz abgelöst.

Von der Leyens ursprünglicher Vorschlag

Ihren Ursprung hatte die Idee der Zukunftskonferenz in den politischen Leitlinien, mit denen sich Ursula von der Leyen (CDU/EVP) im Juli 2019 dem Europäischen Parlament zur Wahl als Kommissionspräsidentin stellte. Von der Leyen hatte damals als Nicht-Spitzenkandidatin bekanntlich bei vielen Abgeordneten einen schweren Stand. Ihre Nominierung durch den Europäischen Rat galt als Schwächung des Parlaments und Ausdruck einer demokratischen Rückentwicklung.

Um dieses Manko auszugleichen, versprach von der Leyen den Abgeordneten unter dem Titel „Neuer Schwung für die Demokratie in Europa“ eine Zukunftskonferenz. In dieser sollten auch „die Bürgerinnen und Bürger […] zu Wort kommen“, allerdings „mit einem klar abgesteckten Rahmen und eindeutigen Zielen, die vorab von Parlament, Rat und Kommission vereinbart wurden“. Auch wie diese Ziele aussehen könnten, deutete von der Leyen bereits an: Sie unterstütze ein „Initiativrecht für das Europäische Parlament“, eine Abkehr „von der Einstimmigkeit [im Rat] in der Klima-, Energie-, Sozial- und Steuerpolitik“, ein verbessertes „Spitzenkandidaten-System“ sowie „länderübergreifende Listen bei den Europawahlen“.

Das Parlament drängt schon lange auf Reformen

Im Parlament stießen diese Vorschläge auf große Zustimmung – wenig überraschend, knüpften sie doch an Forderungen an, die die Abgeordneten selbst in den Jahren zuvor intensiv diskutiert hatten. Mit dem Verhofstadt-Bericht und dem Brok-Bresso-Bericht von 2017 hatte das Parlament konkrete institutionelle Reformen (mit und ohne Vertragsänderung) vorgeschlagen; die Spinelli-Gruppe, ein Zusammenschluss föderalistischer Europaabgeordneter, hatte bereits 2013 einen ausformulierten Vertragsentwurf präsentiert.

Diese und ähnliche weitere Vorstöße waren bis jetzt allerdings ohne Erfolg geblieben, was im Wesentlichen an den nationalen Regierungen im Rat liegt. Unter denen verfolgten selbst die integrationsfreundlicheren in den letzten Jahren meist andere Prioritäten als die EU-Reform, während die integrationsfeindlichen einer Stärkung des Parlaments teils offen ablehnend gegenüberstehen. Und da bereits einzelne Mitgliedstaaten jede institutionelle Reform mit ihrem Veto blockieren können, verschwanden viele Reformvorschläge – trotz guter, mehrheitsfähiger Argumente – letztlich von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt in der Schublade. Der vor einem Jahr gescheiterte Vorstoß zu Mehrheitsentscheiden in der Steuerpolitik ist nur ein Beispiel dafür.

Vetospieler unter Druck setzen

Aus dieser Sicht bietet die Zukunftskonferenz eine Chance, um neue Bewegung in blockierte Debatten zu bringen. Indem die Diskussionen darin grundsätzlich ergebnisoffen gestaltet und machttaktische Fragen wenigstens vorläufig zurückgestellt werden, könnten inhaltliche Argumente in der öffentlichen Debatte mehr Sichtbarkeit gewinnen. Und das wiederum könnte (wenigstens in einigen Mitgliedstaaten und zu einigen Reformvorschlägen) die politische Stimmung verändern und bisher blockierende Vetospieler unter Druck setzen, eine mehrheitlich unterstützte Reform mitzutragen.

Kein Wunder also, dass viele Europaabgeordneten von der Leyens Vorschlag mit großer Begeisterung aufnahmen und sich zügig daranmachten, über die Ausgestaltung der Konferenz zu diskutieren, während die meisten nationalen Regierungen eher abwartend reagierten.

Zwei Fokus-Verschiebungen

Im Lauf der folgenden Monate kam es jedoch zu zwei auffälligen Verschiebungen im Fokus der Diskussionen. Zum einen setzte sich unter den Reformbefürwortern die Ansicht durch, dass eine allein auf institutionelle Fragen fokussierte Konferenz nicht unbedingt der beste Weg sei, um eine breite öffentliche Debatte anzukurbeln. Institutionen- und Verfahrensfragen können zwar drastische Auswirkungen auf politische Entscheidungen haben, doch da ihre Wirkweise oft komplex und nicht einfach abstrakt zu erklären ist, ist das mediale Interesse an ihnen meist gering.

Um der Konferenz öffentliche Relevanz zu verleihen, so die verbreitete Überlegung, ist es deshalb sinnvoller, inhaltliche Politikfelder in den Mittelpunkt zu stellen: Eine Debatte über die Ziele, die die EU in diesen Feldern erreichen sollte, könnte dann auch den institutionellen Reformbedarf sichtbar machen – etwa dass die Einstimmigkeit in der gemeinsamen Außenpolitik die Handlungsfähigkeit der EU auf der Weltbühne schwächt oder dass nur eine bessere Beteiligung des Parlaments den weitreichenden haushaltspolitischen Eingriffsrechten der EU demokratische Legitimität geben kann.

Sachfragen als Hebel zu institutioneller Reform?

Dieser wachsende Fokus auf Sachfragen wurde etwa im deutsch-französischen Positionspapier von November deutlich, das forderte, die Konferenz solle „alle Themen behandeln, die für die Gestaltung der Zukunft Europas relevant sind […] – so wie Europas Rolle in der Welt und seine Sicherheit/Verteidigung, Nachbarschaft, Digitalisierung, Klimawandel, Migration, Kampf gegen Ungleichheit, unser Modell der ‚sozialen Marktwirtschaft‘ […], die Rechtsstaatlichkeit und die europäischen Werte“.

Er spiegelt sich aber auch im Standpunkt des Europäischen Parlaments wider, der als „Orientierungshilfe für die Konferenz“ mehrere „politische Prioritäten“ vorschlägt, unter anderem die Klimakrise, die soziale Gerechtigkeit, den digitalen Wandel und die weltpolitische Rolle der EU. Zudem soll es sich bei dieser Liste, wie das Parlament mehrfach betont, nicht um eine „erschöpfende Zusammenstellung“ handeln, sondern die eigentliche Themensetzung erst im Lauf der Konferenz entwickelt werden.

Schlagwort Bürgerbeteiligung

Mit dieser inhaltlichen Offenheit ist die zweite Verschiebung in der Debatte über die Konferenz verbunden: die Frage der Bürgerbeteiligung. Während diese in von der Leyens Leitlinien nur mit knappen Worten skizziert wird, rückte das Schlagwort in der Konzeption des Parlaments im Mittelpunkt. Neben der eigentlichen Konferenz, die Mitgliedern der EU-Institutionen und der nationalen Regierungen und Parlamente vorbehalten wäre, soll es mehrere „thematische Bürgerforen“ sowie „mindestens zwei Jugendforen“ geben.

Diese sollen jeweils 200-300 Bürgerinnen und Bürger umfassen, die „nach dem Zufallsprinzip“ ausgewählt werden, aber „unter dem Gesichtspunkt der geografischen Herkunft, des Geschlechts, des Alters, des sozioökonomischen Hintergrunds und/oder des Bildungsniveaus“ repräsentativ zusammengesetzt sein sollen. Ihre Aufgabe soll es sein, eigene Ideen in die Konferenz einzubringen und deren Beratungen zu kommentieren. Zudem soll es Online-Konsultationen und andere Verfahren geben, über die „jeder Bürger zu Wort kommen kann, solange die Konferenz läuft“. Und auch über die Konferenz hinaus soll nach den Plänen des Parlaments „langfristig ein dauerhafter Mechanismus zur Einbeziehung der Bürger in die Überlegungen zur Zukunft Europas ins Auge gefasst werden“.

Partizipationsmechanismen sind für die EU nichts Neues

Diese Idee einer Beteiligung zufällig ausgewählter Bürger folgt einem Trend nationaler Verfassungsreformen in den letzten Jahren – etwa in Island oder Irland. Auch die EU selbst setzt schon länger auf partizipative Konsultationsverfahren. So gab es bereits in den letzten Jahren eine Reihe von „Bürgerdialogen und Bürgerkonsultationen“, die allerdings weitgehend ergebnislos verpufften. Dass das Parlament eine stärkere Bürgerbeteiligung vorschlägt, ist also kein ganz neuer Ansatz, auch wenn er nun einen höheren Stellenwert einnimmt und in größeren Dimensionen erfolgen soll als je zuvor.

Unter Freunden partizipativer Demokratie wurde diese Entwicklung allgemein positiv aufgenommen, auch wenn einigen die Vorschläge noch nicht weit genug gehen. Und natürlich klingt „mehr Bürgerbeteiligung“ für die als „bürgerfern“ verschriene EU erst einmal nach einer guten Sache. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass Bürgerforen wirklich einen demokratischen Durchbruch für die EU bringen können?

Bürgerforen gegen die „Brüsseler Blase“?

Demokratisch gewählten Institutionen wie dem Europäischen Parlament noch zufällig geloste Bürgergremien beizufügen, ergibt in der Regel dann Sinn, wenn politische Repräsentationsmechanismen versagen und sich beispielsweise wegen eines missglückten Wahl- oder Parteienrechts eine „politische Klasse“ gebildet hat, die in ihren eigenen Diskursen und Wertvorstellungen verhaftet ist und zu weit von den in der Bevölkerung vorherrschenden Ansichten entfernt hat. Bürgergremien können hier ein Korrektiv bilden, neue Ideen in die Debatte tragen und bestenfalls zu einer Erneuerung des politischen Systems beitragen.

Auf den ersten Blick scheint die notorische „Brüsseler Blase“ genau so ein Fall zu sein: eine eigene Schicht von „Eurokraten“, die ihre eigenen Bürger nicht mehr verstehen und Debatten führen, die oft nur wenig mit jenen in den nationalen Öffentlichkeiten zu tun haben. Tatsächlich wird dieses Bild nicht nur von populistischen Europaskeptikern befeuert, sondern auch von eigentlich integrationsfreundlichen Europaabgeordneten. Wenn etwa der EVP-Fraktionsvize Paulo Rangel (PSD/EVP) jüngst betonte, die Zukunftskonferenz müsse in erster Linie eine „Übung im Zuhören“ sein, so suggerierte er implizit, dass die Abgeordneten sich im sonstigen Alltag nicht über die Meinungen ihrer Wähler informieren würden.

Es gibt nicht „die“ europäischen Bürger

In Wirklichkeit scheinen mir die Hauptursachen für die Diskrepanz zwischen „Brüssel“ und der breiten Öffentlichkeit jedoch anderswo zu liegen – nämlich vor allem in der nationalen Fragmentierung der Öffentlichkeit, durch die die meisten Medien eine nationale Perspektive auf die europäische Politik pflegen und die Vielschichtigkeit der Meinungs- und Kompromissbildung in den EU-Institutionen oft nicht hinreichend sichtbar wird.

Die Vorstellung, es gäbe die europäischen Bürger, auf deren Meinung die EU-Institutionen nur endlich einmal hören müssten, ist naiv. Vielmehr gibt es in der europäischen Gesellschaft eine enorme Vielzahl von politischen Standpunkten und Sichtweisen, und anders als im traditionellen Nationalstaat werden diese auch nicht durch gemeinsame Massenmedien vorstrukturiert. Diese Leistung wird vielmehr oft erst in den europäischen Institutionen – speziell den Fraktionen im Europäischen Parlament – selbst vollzogen. Wenn die Brüsseler Diskurse von jenen in den nationalen Öffentlichkeiten abweichen, so liegt das also häufig daran, dass die EU-Institutionen das Gesamtspektrum der politischen Meinungen in Europa besser abbilden als die Medien, aus denen sich die meisten einzelnen Bürger informieren.

Bürgerforen als Verbündete des Parlaments

Wenn das so ist, sollte man allerdings auch nicht unbedingt erwarten, dass durch die stärkere Einbindung „der Bürger“ eine völlig neue Perspektive auf die europäische Politik entstehen wird. Vielmehr erscheint es nicht abwegig, dass die Debatten unter den Mitgliedern eines gelosten transnationalen Bürgerforums letztlich mit ähnlichen Lernprozessen verbunden wären wie jene unter den gewählten Europaabgeordneten – und dass auch die politischen Kompromisse, die dabei herauskommen, in vielen Fällen wohl nicht vollkommen anders wären.

Diese Erwartung kann jedenfalls auch eine Erklärung dafür sein, warum die meisten Europaabgeordneten sich gegenüber der Idee partizipativer Bürgerforen so offen zeigen. Sie sehen in lottokratischen Gremien nicht in erster Linie eine Konkurrenz zu ihrem eigenen repräsentativ-demokratischen Legitimationsanspruch, sondern eher einen potenziellen Verbündeten, um öffentlichen Druck auf die nationalen Regierungen aufzubauen, die derzeit Reformen blockieren. Dass das Parlament die Notwendigkeit von „Bürgerbeteiligung“ und einem „Bottom-up-Prozess“ nun so stark hervorhebt, lässt sich insofern auch als eine rhetorische Strategie deuten, um ein nationales Veto gegen die Forderungen dieses Verbündeten schon im Voraus zu delegitimieren.

Fixierung auf Bürgerbeteiligung lenkt von Kernproblemen ab

Indessen geht mit dieser Strategie auch ein großes Risiko einher – nämlich eine weitere Verzerrung der Diskussion über die Gründe des europäischen Demokratiedefizits. Begünstigt durch die Ausweitung des thematischen Spektrums erscheint schon jetzt oft nicht mehr die notwendige institutionelle Reform als der eigentliche Zweck der Konferenz, sondern „mehr Bürgerbeteiligung“ in allen inhaltlichen Fragen. Doch die Fixierung auf dieses Thema kann nicht nur zu einer rhetorischen Abwertung der existierenden demokratischen Verfahren auf EU-Ebene führen (Paulo Rangel ist nur ein Beispiel), sondern lenkt schlimmstenfalls auch von den echten institutionellen Schlüsselproblemen ab.

Denn es ist eben nicht richtig, dass Bürger bislang keine Chance hätten, auf europäischer Ebene Gehör zu finden. Das Hauptproblem der EU ist vielmehr das schwer durchschaubare, allzu verflochtene Institutionengefüge, das politische Verantwortlichkeiten verschleiert, dem Wahlakt seine Bedeutung als demokratische Richtungsentscheidung nimmt und bei vielen Bürgern ein Gefühl der Hilflosigkeit und Fremdbestimmung erzeugt. Die wesentlichen Hebel dagegen wären eine Stärkung der europäischen Parteien, ein Abbau der übermäßigen institutionellen Konsenszwänge und eine loyale Opposition im Europäischen Parlament. Die Einführung neuer Partizipations- und Konsultationsmechanismen auf europäischer Ebene kann diese Maßnahmen allenfalls ergänzen, aber nicht ersetzen.

Schlüsselfrage bleibt die institutionelle Reform

Soweit Bürgerbeteiligung also als ein Hebel dient, um diesen Fragen anlässlich der Zukunftskonferenz mehr Sichtbarkeit zu verleihen, neue Bewegung in die öffentliche Debatte darüber zu bringen und Druck auf die bislang blockierenden Vetospieler aufzubauen, sei sie willkommen.

Aber wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, dass die Einrichtung von beratenden Bürgerforen genügen würde, um die demokratischen Kernprobleme der EU zu lösen. Dafür sind echte institutionelle Reformen notwendig, und daher bleibt auch die Schlüsselfrage, an der sich der Erfolg der Zukunftskonferenz zuletzt bemessen wird, ob es ihr gelingt, den Weg zu diesen Reformen zu ebnen.

Bild: Jean Nicolas Ventadour [Public domain], via Wikimedia Commons (bearbeitet).