28 Januar 2020

Das Spitzenkandidaten-System: ein Blick aus Tallinn

Das Spitzenkandidaten-Verfahren sollte die Wahl des EU-Kommissionspräsidenten demokratischer machen, aber unumstritten war es nie. Woran ist es 2019 gescheitert? Und wie ließe es sich reformieren? Auf diese Fragen antworten hier Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Heute: Piret Kuusik. (Zum Anfang der Serie.)

„Um sich voll ins Spitzenkandidaten-System einzubringen, brauchen Parteien Einfluss innerhalb ihrer europäischen Parteifamilien. Für kleine Staaten ist das ausgesprochen schwierig.“
Die Wahl von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat gezeigt, wie verschwommen der Auswahlprozess für ihr Amt noch immer ist. Klar ist nur eines: Ein richtiges und allgemein anerkanntes Verfahren muss noch gefunden werden.

Um meine Gedanken dazu zu entwickeln, werde ich im Folgenden zunächst die estnische Erfahrung bei der Besetzung der EU-Spitzenämter im Mai 2019 beschreiben, gefolgt von einigen Gedanken zum Spitzenkandidatenverfahren.

Estland in der EU

Die estnische Rolle in der EU ist durch zwei Aspekte definiert. Erstens ist es hinsichtlich Geografie, Ressourcen und institutionellem Gewicht ein kleines Land. Zweitens ist Estland Teil der nordisch-baltischen Region, in der die Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen den Regionalmächten (die „Nordic-Baltic 6“: Dänemark, Estland, Finnland, Lettland, Litauen und Schweden) auf einer täglichen Basis stattfindet. Gemeinsam kann dieses NB6-Format in der EU ein substantielles Gewicht auf die Waage bringen, wenn auch keine Sperrminorität.

Im Europäischen Parlament hat Estland sechs Sitze. Vor der Europawahl 2019 setzten diese sich folgendermaßen zusammen: 3 ALDE, 1 EVP, 1 Sozialdemokrat, 1 Grüner. Nach der Wahl 2019 sind es 3 für Renew Europe, 2 Sozialdemokraten, 1 Identität und Demokratie. Nach dem Brexit wird Estland einen weiteren Sitz gewinnen, der an einen EVP-Kandidaten gehen wird.

Kein nordisch-baltischer Kandidat

Bei der Vergabe der EU-Spitzenämter schlug Estland keinen eigenen Kandidaten vor. Es gab einen Moment, zu dem die estnischen Diplomaten die Aussichten des früheren Kommissions-Vizepräsidenten und Kommissars für den digitalen Binnenmarkt Andrus Ansip sondierten. Dies zeitigte jedoch keine Früchte.

Auch die nordisch-baltische Region vereinigte sich nicht hinter einem gemeinsamen Kandidaten. Margrethe Vestager aus Dänemark war die plausibelste Option, aber aus mir unbekannten Gründen warf die Region nicht ihr Gewicht für sie in die Waagschale. Bekannt ist außerdem, dass Dalia Grybauskaitė, die frühere Präsidentin von Litauen, Unterstützung für eine Bewerbung als Ratspräsidentin suchte. Der estnische Premierminister Jüri Ratas unterstützte sie, aber ihre Kandidatur blieb ohne Erfolg.

Der stille Zuschauer

Infolgedessen wurde Estland im Auswahlverfahren zu einem Außenseiter. Premierminister Ratas vertrat zwei Prinzipien für die Auswahl: eine geografisch ausgewogene Verteilung der Spitzenämter und eine Entscheidungsfindung im Konsens. Nichts allzu Originelles also.
Die estnische Delegation fuhr zu dem entscheidenden Gipfel in Brüssel am 30. Juni 2019 in der Erwartung, dass die „Osaka-Vereinbarung“ – in der Ratspräsident Donald Tusk und die Regierungen von Deutschland, Frankreich, Spanien und den Niederlanden den SPE-Spitzenkandidaten Frans Timmermans als Kommissionspräsident unterstützt hatten – Bestand haben würde. Premierminister Ratas verbrachte einen großen Teil seiner Zeit in dem Raum der estnischen Delegation und wartete auf die Klingel, die die Staats- und Regierungschefs ins „Ei“ (den zentralen Tagungsraum des Ratsgebäudes) ruft. Zuweilen wurde er in Präsident Tusks Büro gerufen, um Informationen zu erhalten oder Estlands Sichtweise zu präsentieren.

Die estnische Delegation sollte eigentlich am 1. Juli nach Tallinn zurückfliegen. Sie flog am 2. Juli. Zu dieser Zeit waren die Kandidaten vorgeschlagen worden und die endgültige Entscheidung verlief schnell und glatt. Premierminister Ratas gehörte jedoch weder zu der Gruppe, die den Osaka-Deal ablehnte, noch spielte er keine zentrale Rolle bei der Einigung, die schließlich zu der Nominierung von der Leyens führte.

Was ist davon zu halten?

Was also ist davon zu halten? Zunächst einmal ist der Europäische Rat, trotz der Spitzenkandidaten-Bemühungen des Parlaments, noch immer das Machtzentrum im institutionellen System der EU. Der Vertrag von Lissabon hat dem Europäischen Rat eine zentrale Rolle gegeben, die durch die jüngsten Krisen noch weiter gestärkt wurde. Der Ausgangspunkt ist also, dass der Europäische Rat und der Präsident der Europäischen Kommission miteinander zurechtkommen müssen. Sie müssen notwendigerweise in Beziehung zueinander treten, wobei die Kommission natürlich ihre Unabhängigkeit wahrt.

Die Legitimität der Europäischen Kommission geht deshalb in erster Linie vom Rat aus. Das Europäische Parlament bringt durch das Bestätigungsverfahren eine Bürgerkomponente hinzu.

Die EU ist kein Staat

Das bringt mich zu meinem zweiten Punkt: Die EU wie ein staatliches System zu behandeln oder sie in eines verwandeln zu wollen, ist nicht richtig. Die EU ist ein System, in dem die Interessen der Völker, das gemeinsame europäische Interesse und die nationalen Interessen fein ausbalanciert sind. Die Versuche, die nationalen Interessen aus der Gleichung zu nehmen, führen zu internen Kämpfen, Blockaden und letztlich zur Irrelevanz der EU.

Das Problem mit dem derzeitigen Spitzenkandidaten-System ist gerade dies – es schließt nationale Interessen, namentlich den Rat, aus. Das ist der Hauptgrund, weshalb das Verfahren gescheitert ist. Der EU das bekannte Nationalstaatssystem überzustülpen, in dem die Regierung vom Parlament gewählt wird, unterschlägt die Natur der EU als ein System fein abgestimmter Interessen einer großen Zahl von Akteuren. Es war nur natürlich, dass der Rat seine Rolle und Interessen schützen würde.

Verfahrensunsicherheit schadet der Glaubwürdigkeit der EU

Nun mein dritter Punkt: Die fehlende Klarheit des Auswahlverfahrens mindert die Glaubwürdigkeit der EU insgesamt. Wie soll ich einem Bürger erklären, wie der Präsident der Europäischen Kommission heute gewählt wird? „Der Vertrag sagt eine Sache, aber die Praxis ist anders“ – ist das eine akzeptable Antwort? Wie soll man Unterstützung und Interesse für die EU erzeugen, wenn die Antwort auf die Frage lautet: „Ein bisschen so und ein bisschen so, aber es könnte auch ganz anders sein“?

Ich mache mir Sorgen, dass die vorherrschende „Work in progress“-Einstellung der EU auf die Dauer schaden wird. Die Unklarheit des Verfahrens führte dazu, dass die Botschaften an die Wählerschaft vor der Wahl widersprüchlich und nicht immer richtig waren. So wurden die Wahlen zum Europäischen Parlament in Estland diesmal als „europäische Wahlen“ beworben und auf die Idee aufgebaut, dass die Bevölkerung eine Zukunft der EU wählen und der Spitzenkandidat der Partei diese Vision dann umsetzen würde. Nun – was soll man der Wählerschaft jetzt sagen? „Das war die Idee, aber es hat nicht so recht geklappt. Aber geht bei der nächsten Wahl jedenfalls wieder wählen!“?

Gleichheit unter Mitgliedstaaten

Viertens: Blickt man in die Zukunft, muss die Debatte vom Prinzip der Gleichheit unter den Mitgliedstaaten ausgehen. Der allgemeine Trend, dass Entscheidungen zunehmend abseits des Verhandlungstischs fallen, ist besorgniserregend für die kleinen und mittleren Mitgliedstaaten.

Ich denke hier besonders an die erwähnte Vereinbarung auf dem G20-Gipfel in Osaka. Präsident Emmanuel Macron, Kanzlerin Angela Merkel, Ratspräsident Donald Tusk, der niederländische Premierminister Mark Rutte und der spanische Premierminister Pedro Sánchez nahmen am 28./29. Juni 2019 an dem Treffen der G20-Regierungschefs in Japan teil. Die europäischen Regierungschefs einigten sich dort, die Kandidatur von Frans Timmermans, dem Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten, zu unterstützen. Sie kehrten mit diesem Vorschlag nach Brüssel zurück, in der Annahme, dass die Dinge so laufen würden, und waren überrascht, als viele Mitgliedstaaten (und nicht nur die Visegrád-4-Länder Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei) damit nicht einverstanden waren und den Plan scheitern ließen.

Aber was für eine politische Führungskultur, was für ein Sinn für Kollegialität spricht aus diesem Beispiel? Wie könnte es akzeptabel sein, dass eine solche Entscheidung von einer kleinen Anzahl an Ländern in einem exklusiven Format (und auf der anderen Seite der Welt) getroffen und dann in Brüssel als beschlossene Sache präsentiert wird?

Der Europäische Rat hat 28 Mitglieder und arbeitet nach dem Prinzip „ein Land, eine Stimme“. Gleichheit aller Mitgliedstaaten ist das Öl, das die EU am Laufen hält. Größere Mitgliedstaaten haben schon viele Vorteile aufgrund ihrer umfangreicheren finanziellen und personellen Mittel, ihrer Größe und Macht, die kleine Mitgliedstaaten nicht besitzen. Das „Ein Land, eine Stimme“-Prinzip stellt sicher, dass es dennoch eine gleichberechtigte Grundlage gibt und gemeinsames Handeln möglich wird. Dieser Grundsatz muss deshalb aufrechterhalten werden.

Wenige Parteien können sich voll einbringen

Ein letzter Punkt: Ich denke, die eingangs beschriebene estnische Erfahrung zeigt gut, welche Unterschiede es zwischen den Mitgliedstaaten gibt, wenn es darum geht, sich auf europäischer Ebene einzubringen. Insbesondere gibt es nur wenige politische Parteien und Mitgliedstaaten, die die Fähigkeit, das Wissen und die Netzwerke haben, um Politik auch auf europäischer Ebene zu betreiben.

Das Spitzenkandidaten-System ist eng verbunden mit den europäischen Parteienfamilien. Deutschland ist ein hervorragendes Beispiel, um zu illustrieren, wie die CDU sowohl in der nationalen Politik als auch durch die EVP auf europäischer Ebene aktiv ist. In ähnlicher Weise ist Präsident Macrons Partei La République En Marche eng mit Renew Europe verbunden. Hier kommt der Vorteil eines großen Staates zum Tragen. Im Gegensatz dazu hat Estland, wie oben erwähnt, sechs Europaabgeordnete, die auf mehrere europäische Parteienfamilien aufgeteilt sind. Und seien wir ehrlich – mit ein oder zwei Mitgliedern hat man keinen großen Hebel, um etwas in einer europäischen Fraktion zu erreichen.

Um sich voll in das Spitzenkandidaten-System einzubringen, brauchen die nationalen Parteien eines Mitgliedstaats enge Verbindungen und Einfluss innerhalb ihrer europäischen Parteifamilien im Europäischen Parlament. Für kleine Staaten ist das jedoch ausgesprochen schwierig, denn im Europäischen Parlament gibt es kein „Ein Land, eine Stimme“-Prinzip. Für sie wird es deshalb immer schwer sein, einen geeigneten Spitzenkandidaten vorzuschlagen oder den Spitzenkandidaten davon zu überzeugen, die Interessen kleiner Staaten und ihrer Wählerschaft im Sinn zu behalten.

Erst die lokale Wählerschaft für europäische Themen interessieren

Ausgehend vom estnischen Beispiel kommt noch hinzu, dass das politische Geschehen auf europäischer Ebene noch immer zu weit entfernt und geradezu unerreichbar scheint. Parteien sind nicht besonders interessiert an Themen von gemeinsamem europäischem Interesse, und die Verbindungen zwischen einer europäischen Parteienfamilie und ihren lokalen Mitgliedsparteien sind oft eher nominell als real. Das liegt nicht allein an der europäischen Ebene: Es gibt vieles, was die lokalen Parteien selbst tun könnten, um sich enger mit ihren europäischen Parteienfamilien zu verbinden. Aber es ist die Realität, die berücksichtigt werden muss. Nicht alle Länder in der EU funktionieren nun einmal wie Deutschland.

Das ist auch der Grund dafür, dass ich noch immer skeptisch gegenüber transnationalen gesamteuropäischen Wahllisten bin. Die Wählerschaft stellt keine Verbindung zwischen den lokalen und den europäischen Parteien her, sodass die europäische Parteienlandschaft auf lokaler Ebene unbekannt ist. Und die Wählerschaft mit unvertrauten Namen zu konfrontieren und sie aufzufordern, zwischen ihnen eine demokratische Entscheidung zu treffen, ist unfair und undemokratisch.

Kurz gesagt, gibt es kein europäisches Gemeinwesen, so gern die Freunde der europäischen Politik auch eines sehen würden. Wissenschaftler, Politiker, Bürokraten und Reformer müssen das berücksichtigen und nicht als ein lästiges Ärgernis behandeln, das man schnell beiseiteschiebt. Wenn man die EU wirklich demokratischer machen will, gilt es erst einmal die lokale Wählerschaft für europäische Themen zu interessieren. Damit würde eine Grundlage geschaffen, auf der dann visionärere gesamteuropäische Lösungen für die Reform der EU möglich werden.

Piret Kuusik ist Junior Research Fellow am Estonian Foreign Policy Institute / International Centre for Defence and Security in Tallinn.
Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens – Artikelübersicht

  1. Reform des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Serienauftakt
  2. Für eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten und ein neues Europawahlrecht: Wege und Irrwege der Demokratie in der EU ● Frank Decker
  3. Noch nicht ausgemustert: Gezielte Reformen können das Spitzenkandidaten-Verfahren wieder erfolgreich machen ● Julian Rappold
  4. Die Europawahl darf keine Wundertüte sein: Für eine rechtliche Verankerung des Spitzenkandidaten-Prinzips ● Gaby Bischoff
  5. Wiederbelebung des Spitzenkandidaten-Verfahrens: Was können die europäischen Parteien selbst tun? [EN / DE] ● Gert-Jan Put
  6. Das Spitzenkandidaten-System: ein Blick aus Tallinn [EN / DE] ● Piret Kuusik
  7. Wissen, wer was tun wird: Transnationale Listen können das Spitzenkandidaten-System retten [FR / DE] ● Charles Goerens
  8. Das Polarisierungsdilemma: Streit zwischen den Parteien belebte 2019 den Europawahlkampf – und ließ dann die Spitzenkandidaten scheitern ● Manuel Müller

Bilder: Tallinn, Vabaduse väljak: Scotch Mist [CC BY-SA], via Wikimedia Commons; Porträt Piret Kuusik: Andres Teiss / ICDS [alle Rechte vorbehalten].
Übertragung aus dem Englischen: Manuel Müller.

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