Den
ersten Ärger gab es wegen Plastiktüten. Jahr für Jahr verbrauchen
die europäischen Bürger fast 100 Milliarden Kunststofftragetaschen: ein gewaltiger Müllhaufen, für dessen Eindämmung die Europäische Kommission unter dem damaligen Umweltkommissar Janez Potočnik (LDS/ALDE) bereits Ende 2013 einen Richtlinienvorschlag verabschiedet hatte. Während einige nationale Regierungen sich sträubten, unterstützte das Europäische Parlament den Vorschlag und handelte bis November 2014 schließlich einen Kompromiss mit dem Ministerrat aus.
So weit, so normal. Doch zur großen Irritation der Abgeordneten drohte in der Schlussphase dieser Verhandlungen ausgerechnet die Kommission, eine Einigung zu verhindern. Die Plastiktüten-Debatte, so beklagte sich der Erste Vizepräsident Frans Timmermans
(PvdA/SPE), sei „so
unglaublich kompliziert geworden“. Nach den Änderungen durch Parlament und Rat sei sich die Kommission „nicht sicher“, ob die neue Richtlinie „immer noch das ist, was wir zu Beginn beabsichtigten“; es drohe eine „Überregulierung“.
Erst im letzten Moment
ließ Timmermans seine Vorbehalte fallen
und machte den Weg für
den Kompromiss
frei.
„Bessere Rechtsetzung“ – wer will da widersprechen?
Der
Streit um die Plastiktüte war
die erste offene
Machtprobe zwischen dem
Parlament und Frans
Timmermans, der
wenige Wochen zuvor zusammen mit den anderen Mitgliedern der
Kommission unter
Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) sein Amt angetreten hatte.
Noch bei den Anhörungen der Kommissionskandidaten
im Oktober hatten sich viele Abgeordnete von
dem neuen Ersten Vizepräsidenten begeistert gezeigt, der mit
dem Aufgabenbereich „Bessere
Rechtsetzung, interinstitutionelle Beziehungen, Rechtsstaat und
Grundrechte“ eine Schlüsselstellung
in der neuen Kommission einnimmt.
Eloquent
und vielsprachig sprach
sich Timmermans
für eine transparente und
effiziente EU aus, die weniger
Bürokratie verursacht und sich
auf das konzentriert, was
den Bürgern wirklich
wichtig ist.
Wer wollte da
widersprechen? Die Parlamentarier jedenfalls applaudierten, und
einige
Beobachter spekulierten gar, ob sie
gerade die erste
Bewerbungsrede des
künftigen
sozialdemokratischen
Spitzenkandidaten
bei der Europawahl
2019 gehört hatten.
Streit über große und kleine Dinge
Seitdem
jedoch schwand die
Begeisterung für die
„bessere Rechtsetzung“ im Parlament zusehends dahin. Denn die Plastiktüten sollten kein
Einzelfall bleiben: Als Juncker
und Timmermans wenige Wochen später das Arbeitsprogramm der Kommission für 2015 vorstellten, kündigten sie
an, dass sie
rund
80 laufende Gesetzgebungsvorhaben zurückziehen würden,
die noch vor ihrem Amtsantritt auf den
Weg gebracht und seitdem nicht abgeschlossen worden waren.
Ganz
überraschend kam das nicht: Immerhin
hatte Timmermans
bereits in seiner Zeit als niederländischer Außenminister 2013 eine
Liste
mit Vorschlägen präsentiert,
in welchen Bereichen die EU sich stärker zurückhalten sollte.
Und auch
Juncker selbst
hatte im Europawahlkampf
2014 mit
dem Slogan geworben, die EU müsse „in großen Dingen
größer und in kleinen Dingen kleiner“ werden: Statt
sich in einer Vielzahl von Einzelprojekten zu verheddern, solle
die Europäische
Kommission klare
Prioritäten setzen.
Nur:
Wer bestimmt, welche Dinge groß und welche klein sind?
Dass die Streichungen, die
Juncker und Timmermans ankündigten, auch umwelt- und
sozialpolitische Vorhaben betrafen,
stieß etwa bei den europäischen Grünen jedenfalls auf
heftige Kritik. Und auch die übrigen Fraktionen zerstritten sich über das Arbeitsprogramm der Kommission so sehr, dass eine
eigentlich dazu geplante
Resolution des
Europäischen Parlaments am
Ende nicht
zustande kam.
Ausschuss
für Regulierungskontrolle
Mit
dem gestrafften
Arbeitsprogramm war die
Kommissionsagenda zur
„besseren Rechtsetzung“ allerdings
noch nicht am Ende. Als
ein weiteres
Aktionsfeld identifizierte
Timmermans bereits Ende
2014 das System der
Folgenabschätzung – also
die wissenschaftliche
Analyse der
voraussichtlichen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen
Konsequenzen von Gesetzgebungsvorschlägen.
Zu
diesem Zweck richtete die Europäische Kommission bereits 2006 einen
internen „Ausschuss für
Folgenabschätzung“ ein, der sicherstellen
soll, dass sämtliche
Initiativen der Kommission
vor ihrer Verabschiedung nach wissenschaftlichen Kriterien evaluiert
worden sind. Allerdings
setzte sich dieses Gremium bisher ausschließlich aus
Kommissionsbeamten zusammen,
was als
Problem für seine Unabhängigkeit gesehen wurde. Künftig
wird es deshalb (unter dem
neuen Namen „Ausschuss
für Regulierungskontrolle“) aus
sechs hauptberuflichen Mitgliedern bestehen, von denen drei von
außerhalb der Kommission stammen sollen.
Obwohl der Ausschuss für
Regierungskontrolle keine politische Entscheidungen
trifft, sondern nur technische Standards bewerten soll, vereint er viel Macht auf sich: Grundsätzlich
verabschiedet die Kommission keine Gesetzgebungsinitiative, zu der nicht auch er eine positive
Stellungnahme gegeben hat.
Kommission will Folgenabschätzung auch von Parlament und Rat
Doch
auch das ist Timmermans
noch nicht genug. Denn
bekanntlich kann
die Kommission europäische
Rechtsakte zwar
vorschlagen; vor
ihrer endgültigen
Verabschiedung aber werden
diese meist
vom Europäischen
Parlament und dem
Ministerrat noch
einmal kräftig umformuliert. Was
aber, wenn die endgültige Fassung dann
nicht mehr „das ist, was
wir zu
Beginn beabsichtigten“
(wie Timmermans
im Fall der
Plastiktüten-Richtlinie beklagte)?
Während die Kommission
von 2007
bis 2014 über siebenhundert
Folgenabschätzungen
ausarbeitete, ließ das Parlament im selben Zeitraum gerade einmal
zwanzig seiner Änderungen von unabhängigen Wissenschaftlern
überprüfen – und der Rat keine einzige.
Am
vergangenen 19. Mai schlug Timmermans
deshalb eine
neue interinstitutionelle Vereinbarung zwischen
den wichtigsten EU-Organen vor
(Wortlaut).
Als
zentrale Neuerung sollen
sich demnach auch das
Parlament und der Rat dazu verpflichten, bei jeder
„wesentlichen Änderung“
des Kommissionsvorschlags
erst eine externe Folgenabschätzung durchzuführen. Außerdem
möchte die Kommission im Rahmen des sogenannten REFIT-Programms
künftig verstärkt bestehende Rechtsakte auf ihre Effizienz
prüfen und gegebenenfalls
vereinfachen oder
streichen. Durch die
interinstitutionelle Vereinbarung sollen das Parlament und der Rat
sich darauf verpflichten, solche Überarbeitungsinitiativen
ebenfalls prioritär zu
behandeln.
Helfen
Folgenabschätzungen
gegen Europaskepsis?
Auf Anhieb klingt diese Idee erst einmal ausgezeichnet. Schließlich wird kaum ein Vorwurf so oft gegen die EU erhoben wie der der Überregulierung. Und was wäre zu dessen Entkräftung besser geeignet als eine solide wissenschaftliche Folgenabschätzung und eine permanente Kontrolle des bestehenden Rechts?
Zahlreiche
Berichte über Timmermansʼ Vorschläge verwiesen deshalb zuletzt auf
vergangene
Kontroversen um Gurkenkrümmungen und Ölkännchen, die
künftig vermieden werden könnten; die Süddeutsche
Zeitung kommentierte gar enthusiastisch, die
Kommission wolle „weniger Bürokratie wagen“. Und
auch der Erste Vizepräsident
selbst beschrieb seine Agenda
zur Besseren Rechtsetzung nicht zuletzt als eine Maßnahme, um den
Gegnern der europäischen Integration die Argumentationsgrundlage zu
entziehen: „Europaskeptiker liegen nicht per Definition falsch. Sie ärgern mich, weil sie manchmal Recht haben. Und wenn sie Recht haben, müssen wir ihnen
eine Antwort geben.“
Das Problem der EU ist nicht mangelnde Rationalität
Mehr
Akzeptanz durch mehr Wissenschaftlichkeit – so ungefähr ließe
sich Timmermansʼ Ansatz also zusammenfassen. Aber kann diese
Strategie aufgehen? Ich habe meine Zweifel. Denn letztlich basiert
sie auf der Prämisse, dass das Hauptproblem der EU tatsächlich eine
irrationale Regulierungswut wäre. Das aber erscheint mir, Ölkännchen
hin oder her, ein Irrtum. Schon heute arbeiten
die europäischen
Institutionen in
der Regel sachorientierter und
empiriegeleiteter als die meisten nationalen Parlamente. Dass trotzdem so häufig Storys über wirklich oder vermeintlich
abstruse Regulierungen ihren Weg in die Medien finden und mit Begeisterung weiterverbreitet werden, dürfte an
einem anderen Grund liegen: nämlich an dem Gefühl vieler Bürger, dass
die Brüsseler Politik nur
von den politischen, wirtschaftlichen und akademischen Eliten gemacht
wird, während sie selbst kaum Einfluss darauf nehmen können.
Wie jedes politische System produziert auch die EU manchmal mehr oder weniger unsinnige Regulierungen – aber im Leben der meisten Menschen dürfte die Verfügbarkeit von Plastiktüten, Ölkännchen oder gekrümmten Gurken dann doch keine so große Rolle spielen, dass sie allein deshalb nationalpopulistische Parteien wählen. Umgekehrt müssen auch die Vorwürfe, die gegen die EU-Rechtsetzung erhoben werden, nicht immer vernünftig sein, um wirkmächtig zu werden. Was die Europaskepsis wirklich antreibt, ist die Unfähigkeit des politischen Systems der EU, diese Art von Kritik aufzufangen und so zu kanalisieren, dass sie sich nicht gegen die Idee der europäischen Integration selbst richtet.
Wie jedes politische System produziert auch die EU manchmal mehr oder weniger unsinnige Regulierungen – aber im Leben der meisten Menschen dürfte die Verfügbarkeit von Plastiktüten, Ölkännchen oder gekrümmten Gurken dann doch keine so große Rolle spielen, dass sie allein deshalb nationalpopulistische Parteien wählen. Umgekehrt müssen auch die Vorwürfe, die gegen die EU-Rechtsetzung erhoben werden, nicht immer vernünftig sein, um wirkmächtig zu werden. Was die Europaskepsis wirklich antreibt, ist die Unfähigkeit des politischen Systems der EU, diese Art von Kritik aufzufangen und so zu kanalisieren, dass sie sich nicht gegen die Idee der europäischen Integration selbst richtet.
Demokratie
braucht vor allem Repräsentation
Ein
politisches System, das dauerhaft akzeptiert
werden soll, braucht
nicht nur eine „gute“, rationale Rechtsetzung, sondern muss auch
irrationale Kritik einbeziehen können – genau
dies ist der Grund, weshalb die Demokratie als Herrschaftsform am
Ende der Technokratie überlegen ist. Für die Überwindung der Europaskepsis wird es deshalb nur wenig helfen, die
wissenschaftliche Evaluation von Gesetzgebungsvorschlägen noch weiter zu perfektionieren, solange die europäischen Bürger
sich dabei nicht von den europäischen Institutionen repräsentiert
fühlen.
Für
diese Repräsentation aber ist nicht zuletzt eine loyale Opposition notwendig, die auch die Möglichkeit haben muss, die Rationalitätskriterien der regierenden Mehrheit selbst in Frage zu stellen – was wiederum voraussetzt,
dass auch Weltanschauungen, die aus akademischer Sicht als unvernünftig gelten, im politischen Diskurs eine Stimme finden können. In
diesem Sinne aber weist Timmermansʼ technokratische Strategie
genau in die falsche Richtung. Indem er versucht, auch das Europäische Parlament und den Rat auf das System der wissenschaftlichen Folgenabschätzung einzuschwören, erschwert er deren eigentliche Hauptaufgabe:
die europäischen Bürger mit ihrer ganzen Vielfalt von Denkweisen und Überzeugungen zu repräsentieren und daraus
einen politischen Kompromiss zu schmieden.
Die Europäische Kommission setzt unter Juncker und Timmermans deutliche Prioritäten. Sie nimmt sich das Recht heraus zu entscheiden, welche Dinge sie für „groß“ und welche für „klein“ hält, und wird dadurch politischer als früher. Es ist dabei völlig legitim, dass sie diese Prioritäten auch gegenüber dem Parlament und dem Rat durchzusetzen versucht. Aber eine politische Kommission darf sich nicht allein hinter Rationalitätsargumenten verstecken, sondern muss auch die politische Auseinandersetzung suchen.
Was die EU braucht, ist keine technokratische „bessere Rechtsetzung“, sondern mehr Demokratie.
Bild: By European Parliament [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.