09 Dezember 2013

Freizügigkeit, Armutsmigration und Sozialtourismus: Wenn Bürgerrechte und Wohlstandsängste aufeinandertreffen

David Cameron (Cons./AECR) ist kein Freund einer allzu freien Freizügigkeit. Jedenfalls wenn es um Europa geht und ein Wahlkampf bevorsteht.
Die Überschrift des Gastbeitrags, den der britische Premierminister David Cameron (Cons./AECR) am 26. November in der Financial Times veröffentlichte, hätte kaum aussagekräftiger sein können: Free movement within Europe needs to be less free – Die Freizügigkeit in Europa muss weniger frei werden. Anlass des Artikels war das baldige Ende einer Übergangsregelung aus den Beitrittsverträgen mit Rumänien und Bulgarien. Obwohl diese beiden Länder schon 2007 Mitglied der Europäischen Union wurden, hatten die übrigen Mitgliedstaaten für eine Frist von sieben Jahren die Möglichkeit, die Zuwanderung von dort einseitig einzuschränken. Ab 1. Januar 2014 entfällt diese Option. Auch Rumänen und Bulgaren werden dann in den vollen Genuss ihrer Rechte nach Art. 21 AEU-Vertrag kommen, der es jedem Unionsbürger erlaubt, „sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten“.

Deutsch-britische Angst vor „Sozialtourismus“

Für David Cameron ist dieses Freizügigkeitsrecht für Rumänen und Bulgaren besorgniserregend, und er ist damit weder der Erste noch der Einzige. So befürchtet nach einer Umfrage von letztem Februar eine große Mehrheit der Briten, dass die Einwanderung von Menschen aus diesen Ländern „negative Effekte“ haben würde. Und fast die Hälfte der Befragten sprach sich dafür aus, die Freizügigkeit von Rumänen und Bulgaren auch künftig einzuschränken, selbst wenn das bedeutete, europäisches Recht zu brechen. Bereits im August zeichnete sich deshalb ab, dass die britische Regierung das Thema in den Monaten vor der Europawahl 2014 auf die Tagesordnung bringen würde.

Im Mittelpunkt der Debatte steht dabei die Angst vor „Sozialtourismus“: Zum einen handelt es sich bei Rumänien und Bulgarien um die beiden ärmsten Mitgliedstaaten – das Pro-Kopf-Einkommen liegt in beiden Ländern etwa bei der Hälfte des EU-Durchschnitts. Zum anderen zählen sie (mit einem Gini-Koeffizienten von jeweils über 33) auch zu den Staaten, in denen das Einkommen besonders ungleich verteilt ist. Besonders Sinti und Roma leiden häufig an wirtschaftlicher Not und gesellschaftlicher Ausgrenzung. Steht also zu befürchten, dass der Europäischen Union eine Welle von Binnenmigranten bevorsteht, die in ihren Herkunftsländern keine Zukunftschancen sehen und deshalb in die großzügigeren Wohlfahrtssysteme der wohlhabenden nord- und westeuropäischen Staaten flüchten?

Unterstützung erhielt Cameron jedenfalls vor allem aus Deutschland: Bereits im Februar wies der Deutsche Städtetag auf die Gefahr einer steigenden „Armutszuwanderung aus Südosteuropa“ hin, im Sommer warnte die CDU/CSU (EVP) in ihrem Bundestagswahlprogramm vor einer „Zuwanderung, die darauf gerichtet ist, die europäische Freizügigkeit zu missbrauchen und die sozialen Sicherungssysteme unseres Landes auszunutzen“. Und während der Städtetagspräsident Ulrich Maly (SPD/SPE) sich jüngst etwas zurückhaltender äußerte, verschärften die CDU/CSU-Innenpolitiker ihre Linie in den letzten Tagen eher noch.

Die Argumente der Europäischen Kommission

In der Europäischen Kommission stößt die deutsch-britische Angst vor Sozialmissbrauch indessen auf wenig Verständnis. Schon in einer Stellungnahme von Februar erklärte sie die Befürchtungen der Freizügigkeitskritiker kurzerhand für „Mythen“, und nach Camerons Artikel in der Financial Times legten Sozialkommissar László Andor (MSZP/SPE) und Justizkommissarin Viviane Reding (CSV/EVP) zuletzt noch einmal in scharfen Worten nach.

Die Argumente, auf die sich die Kommission dabei stützt, sind zweierlei: Zum einen zeigen wissenschaftliche Studien, dass innereuropäische Migranten öfter berufstätig sind und seltener Sozialleistungen empfangen als der Durchschnitt der Bevölkerung. Wer in ein anderes Land zieht, der tut dies in aller Regel, um dort eine Arbeit aufzunehmen (oder um Familienangehörige zu begleiten, die dort eine Arbeit aufnehmen) – nicht, um sich in ein ausländisches Wohlfahrtssystem einzuschleichen. Selbst eine Untersuchung, die von der britischen Regierung selbst in Auftrag gegeben wurden, sieht keine Anzeichen für den „Sozialtourismus“, den Cameron befürchtet.

Die Grenzen der europäischen Freizügigkeit

Zum anderen argumentiert die Kommission, dass Art. 21 AEUV das Freizügigkeitsrecht nicht absolut garantiert, sondern eben nur „vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“. Tatsächlich muss nach der einschlägigen Richtlinie ein Unionsbürger, der sich länger als drei Monate in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten will, entweder erwerbstätig sein oder anderweitig über „ausreichende Existenzmittel“ für sich und seine Angehörigen verfügen, „so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen“. Erst nach mindestens einjähriger Beschäftigung entsteht ein langfristiges Aufenthaltsrecht auch für Arbeitssuchende, und erst nach fünf Jahren haben Migranten schließlich ohne jede Vorbedingung ein Recht zum Daueraufenthalt in der neuen Heimat. (Für eine detailliertere Übersicht der Regelungen siehe hier.)

Wenn also die nationalen Sozialsysteme in den Zielländern der Migranten ein Problem haben, so kann dies aus Sicht der Europäischen Kommission nicht an der ohnehin eher restriktiven europäischen Gesetzgebung liegen. Allenfalls könnte es daran liegen, dass nationale Gerichte in ihren Urteilen über die EU-rechtlichen Mindeststandards hinausgehen – oder dass die lokalen Behörden damit überfordert sind, das komplexe Regelwerk zu durchschauen und Missbrauchsfälle zu erkennen. Ein Fünf-Punkte-Aktionsplan, den Viviane Reding vor einigen Wochen präsentierte, drehte sich deshalb fast ausschließlich darum, die Kommunalverwaltungen besser aufzuklären, ohne im Kern etwas am rechtlichen Status quo zu verändern.

Deutsche und britische Gegenvorschläge

In Berlin und London, aber auch in Wien und Den Haag stieß dieser Aktionsplan allerdings auf wenig Gegenliebe. Auf einem Ratstreffen am vergangenen Donnerstag kritisierten der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU/EVP) und seine britische Amtskollegin Theresa May (Cons./AECR) die Vorschläge der Kommission als ungenügend und präsentierten ihre eigenen Ideen. Wenigstens im Falle der Bundesregierung blieben diese allerdings eher unkonkret: So drohte Friedrich damit, dass die Mitgliedstaaten „notfalls außerhalb der EU-Strukturen eine multilaterale Verständigung“ herbeiführen würden. Wie diese aussehen könnte, blieb allerdings unklar – da es sich bei der Freizügigkeit um eine vertraglich garantierte Grundfreiheit der einzelnen Unionsbürger handelt, dürften die nationalen Regierungen kaum eine Möglichkeit haben, sie auf einem anderen Weg als dem europarechtlich vorgesehenen einzuschränken.

Konkreter wurde hingegen Theresa May, die sich offen für eine Änderung des Europarechts aussprach. Zum einen, so ihr Vorschlag, solle bei künftigen Erweiterungen die Freizügigkeit so lange eingeschränkt werden, bis das neue Mitgliedsland ein bestimmtes Pro-Kopf-Einkommen erreicht habe. Zum anderen sollten nationale Regierungen schon jetzt die Möglichkeit erhalten, länderspezifische Quoten einzuführen, falls das Ausmaß der Einwanderung „bestimmte Schwellenwerte“ überschreite.

Die Kommission verhält sich zu passiv

Was ist nun von diesen Vorschlägen zu halten? Mir selbst scheint, dass sich die Kommission in der Frage zu passiv verhält. Zwar ist es ein berechtigter Punkt, dass der viel befürchtete „Sozialtourismus“ in Wirklichkeit gar nicht stattfindet. Doch der Fokus auf dieses Thema geht ohnehin am Kern des Problems vorbei. Liest man etwa die Erklärung des Deutschen Städtetags von Februar etwas aufmerksamer, so spielt der Missbrauch des Wohlfahrtssystems dort durchaus keine zentrale Rolle. Was die Kommunen beklagen, sind vielmehr soziale Probleme, die entstehen, wenn Migranten bedürftig sind, aber trotzdem keine staatliche Unterstützung beantragen, weil sie bereits wissen, dass sie dazu nicht berechtigt sind: von der schlechten Gesundheitsversorgung über überfüllte Wohnungen bis zu Bettelei und Kleinkriminalität.

Diese sozialen Probleme tauchen in den Statistiken der Kommission lediglich als Dunkelziffer auf, da Menschen ohne Krankenversicherung nach der Freizügigkeitsrichtlinie ja sowieso kein Aufenthaltsrecht besitzen. Aber kann man es wirklich allein den Mitgliedstaaten und Kommunen überlassen, damit umzugehen? Die offenen Grenzen in Europa sind ein gemeinsames Interesse der EU und eine Konsequenz der europäischen Politik. Auch die ungewollten sozialen Nebenfolgen müssen deshalb proaktiv auf europäischer Ebene behandelt werden.

Freizügigkeit ist ein Bürgerrecht

Aber auch der britische Ansatz geht klar in die falsche Richtung. Wie Viviane Reding zu Recht betont hat, ist die europäische Freizügigkeit eine der zentralen Grundfreiheiten, die die Europäische Union ihren Bürgern garantiert. Der EU-Vertrag regelt eben nicht nur die Beziehungen zwischen seinen Mitgliedstaaten, sondern schafft auch eine Rechtsgemeinschaft unter den einzelnen europäischen Bürgern. Aus demokratischer Sicht scheint mir deshalb schon die derzeitige Regelung problematisch, da sie das Grundrecht auf Freizügigkeit an bestimmte Wohlstandskriterien koppelt – und damit faktisch dazu führt, dass reiche Unionsbürger bei der Wahl ihres Wohnorts größere Rechte genießen als ärmere.

Die Quotenregelung aber, die Theresa May vorgeschlagen hat, würde offensichtlich gegen das Prinzip in Art. 18 AEUV verstoßen, dass Bürger der Europäischen Union nicht nach ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert werden dürfen. Man darf daher getrost davon ausgehen, dass sie – sollte es dafür jemals eine Mehrheit in den europäischen Gesetzgebungsorganen geben, was freilich nicht in Sicht ist – gegebenenfalls ohnehin vom Europäischen Gerichtshof kassiert würde.

Gemeinsame Probleme gemeinsam angehen

Was also sollte man tun, wenn man einerseits die sozialen Probleme ernst nimmt, die sich aus der Freizügigkeit ergeben, und andererseits die Europäische Union als eine Gemeinschaft gleichberechtigter Bürger verstehen und stärken will? In meinen Augen kann die Lösung jedenfalls nicht darin bestehen, die Freizügigkeit in irgendeiner Form weiter einzuschränken. Stattdessen muss es die Aufgabe der Europäischen Union sein, dieses Recht für all ihre Bürger unabhängig von deren Wohlstand effektiv sicherzustellen – und dann gegebenenfalls die daraus resultierenden Probleme bei der sozialen Integration von Zuwanderern auf europäischer Ebene anzugehen.

Die beste Nachricht in der innereuropäischen Migrationspolitik, die in der letzten Zeit zu hören war, betrifft deshalb den Europäischen Sozialfonds: Während der Förderperiode 2014-2020 soll der Anteil der Mittel, die der ESF für die gesellschaftliche Eingliederung von Menschen mit besonderen Schwierigkeiten und Mitgliedern benachteiligter Gruppen aufwendet, von 15 auf 20 Prozent erhöht werden. Zusätzlich könnte man sich vorstellen, dass auch die übrigen EU-Strukturfonds künftig Kommunen mit einem starken Wohlstandsgefälle oder mit anderen Problemen, die sich aus der EU-Binnenmigration ergeben können, stärker finanziell unterstützen.

Die Schwierigkeit bei dieser Lösung ist nur, dass das europäische Budget schlicht zu klein ist, um hier allzu große Hilfe zu leisten. Gerade der Europäische Sozialfonds gehörte zu jenen Programmen, die im Herbst 2012 beinahe aus Geldmangel ihre Aktivitäten einstellen mussten. Hinzu kommt, dass der jüngst beschlossene mehrjährige Finanzrahmen für 2014-2020 erstmals niedriger ausgefallen ist als sein Vorgänger. Bei der Finanzierung ihrer Aufgaben befindet sich die EU also schon jetzt hart an der Schmerzgrenze. Zusätzliche Mittel für die soziale Integration von Binnenmigranten werden deshalb wohl nur schwer aufzutreiben sein.

Die führenden Akteure, die in den Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen diesen Sparkurs durchsetzten, waren übrigens die britische und die deutsche Regierung. Womit auch dieser Kreis sich schließt.

Bild: By Valsts kanceleja/ State Chancellery from Rīga, Latvija [CC-BY-SA-2.0], via Wikimedia Commons.

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