Vor einer Woche habe ich hier über den Vorstoß der
Innenminister Deutschlands und Frankreichs geschrieben, die den
Schengener Grenzkodex in einer Weise reformieren wollen, durch die
die einzelnen Mitgliedstaaten sehr viel leichter wieder Kontrollen an
den europäischen Binnengrenzen einführen könnten. Dieser Plan wird
vermutlich im Europäischen Parlament scheitern, was gut für alle
Unionsbürger ist, die nicht bei jeder Reise in ein anderes EU-Land
lange Grenzformalitäten ertragen wollen. Was dabei allerdings ungelöst bleibt, ist die tiefere Ursache der Schengen-Krise.
Denn auch wenn die beiden Innenminister in ihrem Brief
Terrordrohungen und sportliche oder politische Großereignisse als
mögliche Gründe für die Wiedereinführung von
Binnengrenzkontrollen anführen: Eigentlicher Hintergrund der ganzen Diskussion ist die Frage, wie die Europäische Union mit irregulären Immigranten umgehen soll. Nicht
umsonst war der Auslöser der ganzen Angelegenheit die Entscheidung
der Regierung Berlusconi vor einem Jahr, nordafrikanischen
Flüchtlingen Schengen-Visa auszustellen und dadurch ihre Weiterreise
in andere EU-Staaten zu ermöglichen. Was Frankreich damals zum Anlass nahm, um eine Wiedereinführung von Grenzkontrollen und eine Reform des Schengener Abkommens zu fordern, war aus italienischer
Sicht nur eine Reaktion auf die unzulängliche europäische
Zusammenarbeit in Asylfragen.
Die
Dublin-II-Verordnung
Die
Einführung einer gemeinsamen europäischen Asylpolitik geht vor
allem auf den Einsatz der deutschen Bundesregierung in den
Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht zurück. Durch das Ende des
Kalten Krieges und den Konflikt in Jugoslawien stiegen Anfang der
1990er Jahre die Asylbewerberzahlen in Deutschland deutlich an
(genauere Statistiken hier auf S. 3),
nicht zuletzt, da Deutschland ein recht hohes Schutzniveau für
Asylbewerber bot. Die Regierung Kohl versuchte deshalb, einen Teil
der damit verbundenen administrativen und integrationspolitischen
Lasten auf die anderen EU-Mitgliedstaaten abzuwälzen.
Zur
Umsetzung dieser gemeinsamen Asylpolitik diente das Dubliner
Übereinkommen von 1997, das 2003 durch die sogenannte
Dublin-II-Verordnung
(Wortlaut) ersetzt
wurde. Sie etablierten das Prinzip, dass Asylanträge innerhalb der
EU jeweils in dem Land gestellt werden müssen, in dem ein Flüchtling
zum ersten Mal europäisches Territorium betreten hat. Aus deutscher
Perspektive war dies ein voller Erfolg: Da Deutschland ein
EU-Binnenland ist und deshalb von außerhalb der EU nur über den
Luft- und Seeweg erreicht werden kann, sank die Zahl der Asylbewerber
hier überaus stark ab – von rund 400.000 im Jahr 1992 auf rund
20.000 im Jahr 2006, also um etwa 95 Prozent. Die meisten
Flüchtlinge, die in Deutschland Asyl beantragen, werden inzwischen
ohne Untersuchung ihres Falls kurzerhand in die EU-Länder
abgeschoben, die nach der Dublin-Verordnung für die Behandlung ihres
Antrags zuständig sind.
Parallel
dazu konnten Deutschland und die anderen Binnenländer durch das
Schengener Abkommen auch den Aufwand für den Schutz ihrer
Außengrenzen vor illegaler Immigration reduzieren. Dieser unterliegt
nun den Randstaaten des Schengen-Raums, die zwar finanzielle und
teilweise logistische Unterstützung von der EU-Grenzschutzbehörde
Frontex erhalten, letztlich aber selbst die Verantwortung tragen.
Überlastung
der südeuropäischen Staaten
Doch
je mehr sich Europa zur Festung macht, desto deutlicher zeigt sich
die wachsende Belastung für die südlichen Mitgliedstaaten. Spanien,
Italien, Griechenland, Malta und Zypern müssen nicht nur im Rahmen
des Schengen-Systems illegale Einwanderer von der Überquerung des
Mittelmeeres abhalten, sondern sind nach der Dublin-Verordnung auch
für alle Asylanträge zuständig, die von Migranten gestellt werden,
die auf diesem Weg in die EU eingereist sind. Dieser
Umstand ist die eigentliche Ursache dafür, dass Italien die
Einwanderer aus Nordafrika 2011 nicht als Flüchtlinge behandelte,
sondern mit Touristenvisa ausstattete.
Noch
schlimmer ist die Lage jedoch in Griechenland, das irreguläre
Einwanderer schon seit Jahren in völlig überfüllten Auffanglagern
unterbringt. Zum Eklat kam es Anfang 2011, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied, dass
ein Flüchtling, der über Griechenland in ein anderes EU-Land
eingereist war und dort Asyl beantragte, nicht nach Griechenland
überstellt werden durfte: Aufgrund der Lebensbedingungen in den
dortigen Lagern stelle dies eine „unmenschliche Behandlung“ dar.
In der Folge beschlossen die übrigen Mitgliedstaaten, die
Dublin-Regelungen für Griechenland zu suspendieren. In anderen
EU-Staaten gestellte Asylanträge, für die nach der
Dublin-Verordnung eigentlich Griechenland zuständig wäre, werden
also wieder von den anderen Staaten selbst behandelt. Aus Sicht der
Binnenländer wie Deutschland verbindet sich damit jedoch die Sorge,
dass Griechenland zum Durchreiseland für illegale Einwanderer werden
könnte – insbesondere da es, von der Finanzkrise gebeutelt,
zunehmend mit der Kontrolle der Schengen-Außengrenze zur Türkei
überfordert ist.
Reformpläne
und Widerstand
Es
ist also kein Zufall, dass das Schengen- und das Dublin-System in den
letzten Jahren nahezu gleichzeitig ins Wanken gerieten. Bereits 2008
stellte die Europäische Kommission einen Entwurf für eine Reform der
Dublin-Verordnung vor (die nach Art. 78 AEUV inzwischen,
ebenso wie der Schengener Grenzkodex, unter das ordentliche Gesetzgebungsverfahren
fällt). 2011 folgten weitere Vorschläge, die das Ziel
haben, bis Ende 2012 ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem
einzuführen. Gegen die Empfehlung des UN-Flüchtlingskommissars und
zahlreicher Hilfsorganisationen hielt die Kommission am
Dublin-Prinzip fest, wonach Asylanträge jeweils im Einreiseland
gestellt werden müssen. Zugleich schlug sie aber auch ein höheres
Schutzniveau für Asylbewerber vor – insbesondere sollen die
Verfahren nur noch maximal sechs Monate dauern, ihre
Arbeitsmöglichkeiten sollen verbessert werden, und sie sollen sich
während des Verfahrens freier bewegen dürfen, statt in Lagern in
Gewahrsam genommen zu werden.
Diese
Pläne stoßen jedoch von zwei Seiten aus auf Gegenwehr: Im Parlament
ist es die Europäische Volkspartei, der der Kommissionsvorschlag zu
asylfreundlich erscheint. Bereits Ende 2010 veröffentlichte sie deshalb ein Positionspapier, in
dem sie die Kommission kritisierte – unter anderem mit der schönen
Formulierung, es sei „nicht hilfreich, wenn Garantien für
Schutzbedürftige einseitig und umfassend verbessert würden“. Dies wiederum löste scharfe Vorwürfe liberaler Abgeordneter aus, die das Positionspapier der Christdemokraten unter anderem „unverantwortlich und verlogen“ nannten.
Noch
stärker ist der Widerstand im Rat, der vor allem von der deutschen Bundesregierung ausgeht.
Diese lehnt die vorgeschlagenen Mindeststandards beim Schutz von
Asylbewerbern ab, was einerseits daran liegt, dass Deutschland selbst
diese Standards derzeit nicht erfüllt. So sollen etwa dem Kommissionsplan zufolge die Sozialleistungen
für arbeitslose Asylbewerber auf Hartz-IV-Niveau steigen, was die Bundesregierung ablehnt. Andererseits befürchtet sie aber
wohl auch, dass Asylbewerber in Südeuropa die zusätzlichen
Freiheiten nutzen könnten, um unterzutauchen und über die offenen
EU-Binnengrenzen nach Deutschland zu gelangen. Und in diesem Licht
scheint auch der Schengen-Vorstoß der beiden Innenminister Sinn zu
ergeben: Wenn die Bundesregierung mit ihrem Vorhaben scheitert, den
Flüchtlingen in Südeuropa hohe Asylstandards zu verweigern, dann
will sie wenigstens in der Lage sein, die nationalen Grenzen zu
schließen, wenn diese Flüchtlinge sich von Südeuropa in Richtung
Deutschland aufmachen.
Nachhaltig
ist nur eine solidarische Lösung
Aber
wie schon Karsten Lucke in dem Blog kielspratineurope
festgestellt
hat, geht diese Logik hinten und vorne nicht auf. Das beginnt schon damit, dass auch
nach dem deutsch-französischen Vorschlag die
Schengen-Mitgliedstaaten höchstens für 30 Tage einseitige
Grenzkontrollen einführen könnten und deshalb kaum in der Lage wären,
dauerhaft die Einreise illegaler Immigranten zu verhindern. Vor allem
aber bietet die Wiedereinführung von nationalen Grenzkontrollen
keinerlei Abhilfe für das strukturelle Problem der Regelungen von
Schengen und Dublin – die Überbelastung der südeuropäischen
Länder.
Die
einzig nachhaltige Lösung wäre deshalb mehr europäische
Solidarität, und zwar sowohl beim Grenzschutz als auch in der
Asylpolitik: Wenn Griechenland oder Rumänien mit der operativen
Überwachung der Schengen-Außengrenzen und der Erstversorgung von
Flüchtlingen überfordert sind, dann sollte die europäische
Grenzschutzagentur Frontex mit den notwendigen Ressourcen
ausgestattet werden, um diese Aufgaben selbst übernehmen zu können.
Die Standards zum Schutz von Asylbewerbern müssen wie von der
Kommission geplant nach oben hin vereinheitlicht werden, damit
Verhältnisse wie in den griechischen Auffanglagern überhaupt nicht
mehr auftreten können. Vor allem aber sollte die Dublin-Verordnung
reformiert werden, sodass künftig Flüchtlinge ihren Asylantrag
wieder in jedem Mitgliedsland gleichermaßen stellen können. Für
Deutschland würde dies vermutlich bedeuten, dass die Asylbewerberzahlen nach
dem spektakulären Rückgang in den letzten zwei Jahrzehnten
wieder ansteigen würden. Aber sollte das das
einwohnerreichste und wirtschaftsstärkste Land der Europäischen
Union nicht vertragen können?
Einmal
ganz davon abgesehen, dass ein alternder Kontinent wie Europa ohnehin
bessere Dinge zu tun haben sollte, als sich gegenüber ein paar hunderttausend jungen
Menschen abzuschotten, die auf der Flucht vor Gewalt oder in der
Hoffnung auf ein besseres Leben eine weite Reise vollbracht haben und
denen nichts anderes vorzuwerfen ist, als dass sie nicht mit dem
richtigen Pass auf die Welt gekommen sind. Aber das ist wieder eine
andere Geschichte.
Bild: By Vito Manzari from Martina Franca (TA), Italy (Immigrati Lampedusa) [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.