- Wenn es um die Spitzenposten und die künftige politische Agenda der EU geht, wollen alle gern ein Wörtchen mitzureden haben.
Nun wird es also
Jean-Claude Juncker. Dafür, dass es sich bei dieser Entscheidung
nach den Ergebnissen der Europawahl eigentlich um eine
Selbstverständlichkeit handeln sollte, brauchten die Staats- und
Regierungschefs bemerkenswert
viel Zeit dafür. Letztlich aber setzte sich die Seite derer
durch, die einen Konflikt mit dem Europäischen Parlament vermeiden
wollten. Und so ist es nun so gut wie sicher, dass der Europäische
Rat bei seinem heutigen Treffen den Spitzenkandidaten der
Europäischen Volkspartei zum neuen Kommissionspräsidenten
vorschlagen wird.
Ein Sieg für die
europäische Demokratie? Zweifellos. Was auch immer man von Juncker
halten mag: Es waren die europäischen Wähler, die seine Partei am
25. Mai zur stärksten Kraft im Europäischen Parlament gemacht haben
– und durch das neue Verfahren haben sie nun erstmals auch die
Möglichkeit, ihn bei der nächsten Europawahl wieder abzuwählen,
wenn sie mit seiner Amtsführung in den nächsten fünf Jahren
unzufrieden sind. Im
Vergleich mit den Hinterzimmer-Verhandlungen, die Junckers Vorgänger
José Manuel Durão Barroso (PSD/EVP) ins Amt brachten, ist das ein
gewaltiger Fortschritt.
Ganz ohne Hinterzimmer ging es nicht
Indessen:
So ganz ohne Hinterzimmer ging es auch diesmal nicht ab. Denn
es stand zwar recht schnell fest, dass jeder andere Kandidat als
Juncker im Parlament auf massiven Widerstand gestoßen wäre. Das
einzige plausible Alternativszenario hätte deshalb in einem
freiwilligen Rückzug Junckers bestanden – aber anders als im
Vorfeld der Wahl bisweilen
spekuliert worden war, war dieser offenbar entschlossen, das Amt,
für das er kandidierte, auch tatsächlich anzutreten. Die Versuche
des britischen Premierministers David Cameron (Cons./AECR), im
Europäischen Rat eine Sperrminorität gegen seine Nominierung zu
mobilisieren, dürften ihn darin nur
weiter bekräftigt haben.
Aber
die Neubesetzung der Kommissionspräsidentschaft ist ja nicht die
einzige Entscheidung, die in diesen Wochen ansteht, und so bemühte
sich der Europäische Rat auf anderen Feldern seine Pflöcke
einzuschlagen. Während die Abgeordneten im Parlament in den letzten
Wochen vor allem damit beschäftigt waren, ihre
Fraktionen neu zu sortieren (mehr dazu demnächst in diesem Blog), verhandelten die Staats- und Regierungschefs zum einen über
ein Papier, das die europäische Agenda in den nächsten fünf Jahren
vorgeben soll. Und zum anderen setzte ein wildes Schachern über die
weiteren EU-Spitzenposten ein – mit dem Ziel, ein personelles
„Gesamtpaket“ zu schnüren, bei dem für alle wichtigen Akteure
etwas abfällt, und zugleich Junckers Handlungsspielraum in den
nächsten Jahren etwas einzuschränken.
2009 forderte das Parlament ein politisches Programm ein
Zunächst
zu den Inhalten: Als sich José Manuel Durão Barroso vor fünf
Jahren nach der Europawahl um eine zweite Amtszeit als
Kommissionspräsident bemühte, erhielt er sehr
schnell die einstimmige Unterstützung des Europäischen Rates.
Im Europäischen Parlament hingegen stieß er bei den Fraktionen
links der christdemokratischen EVP auf Widerstand, sodass seine
Wiederernennung gefährdet war. Vor allem die sozialdemokratische
S&D, aber auch die liberale ALDE nutzten die Gelegenheit, um
Barroso mit
einer Reihe von Forderungen zu konfrontieren, die sie zur
Bedingung für seine Wiederwahl machten. Und tatsächlich
veröffentlichte Barroso daraufhin ein Papier mit seinen „politischen
Leitlinien“ für die zweite Amtszeit.
Obwohl
diese im Einzelnen sehr vage blieben, wurden sie weitgehend als ein
Erfolg der unwilligen Abgeordneten verstanden. Letztlich wurde
Barroso wiedergewählt – mit den Stimmen von EVP, ALDE und
einem Teil der S&D. Die programmatischen Ziele in den
„politischen Leitlinien“ jedoch spielten später niemals wieder
eine prominente Rolle: Einige von ihnen wurden umgesetzt, andere
nicht; und die meisten waren ohnehin so unspezifisch, dass sich der
Grad ihrer Verwirklichung nicht eindeutig erkennen lässt. Was die
zweite Amtszeit Barrosos wirklich prägte, waren vielmehr die
Bedürfnisse des Augenblicks, wie der Verlauf der Eurokrise sie
diktierte.
Streit über die „strategische Agenda“
Fünf
Jahre später sind die Rollen umgekehrt verteilt: Diesmal sind es die
großen Fraktionen im Parlament, die sich schon frühzeitig für
Jean-Claude Juncker als Kommissionspräsident ausgesprochen haben,
während der Europäische Rat sich noch ziert. Und da die Staats- und
Regierungschefs Juncker nicht verhindern können, sind sie es, die
diesmal (unter Verweis auf ihre Impulsgeberkompetenz nach Art.
15 Abs. 1 EU-Vertrag) ein programmatisches Papier verabschieden
wollen, um die neue Kommission damit auf bestimmte Ziele festzulegen.
Über
die Inhalte dieser „strategischen Agenda“ besteht indessen wenig
Einigkeit im Europäischen Rat. Während die christdemokratischen
Regierungschefs vor allem an einer Verstetigung der bisherigen
Politik interessiert sind, drängen die Sozialdemokraten auf
mehr Wachstumsimpulse für die Wirtschaft. Insbesondere wollen
sie den Stabilitätspakt flexibler auslegen als bisher, damit die
Defizitregeln nicht die Finanzierung von Strukturreformen und
Investitionen verhindern (mehr zur ökonomischen Logik dahinter
hier).
Und
schließlich gibt es noch David Cameron, der sich mit seinem
kompromisslosen Widerstand gegen Juncker ins Abseits manövriert hat
und den die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) nun
gerne
wieder als Partner zurückgewinnen möchte. Vor dem Gipfel
kündigte sie deshalb an, man könne bei inhaltlichen Fragen „auch
ein Stück auf Großbritannien zugehen“ – womit vermutlich
Zugeständnisse bei der Marktliberalisierung gemeint sind.
Der
Europäische Rat ist programmatisch uneinig
Der
erste Entwurf für die programmatische Agenda, die der Präsident des
Europäischen Rates Herman Van Rompuy (CD&V/EVP) vor einigen Tagen
vorlegte (Wortlaut),
ist deshalb an Verschwommenheit nur schwer zu überbieten. Am Ende
werden die Staats- und Regierungschefs wohl mehr Investitionen, aber
keine neuen Schulden, mehr wirtschaftliche Freiheit, aber keinen
Abbau an sozialer Sicherheit, mehr gemeinsame Innen-, Außen- und
Energiepolitik, aber keine neuen Kompetenzen für die europäischen
Institutionen fordern.
Die
zuletzt verschiedentlich
geäußerte Befürchtung, die inhaltlichen Vorgaben könnten
Juncker übermäßig einschränken, muss deshalb wohl relativiert
werden. Gewiss, der Europäische Rat bekräftigt damit seinen
Anspruch, der europäische Agendasetter zu bleiben. In Wirklichkeit
aber zeigt sein Papier nur, wie wenig Einigkeit es unter den Staats-
und Regierungschefs derzeit gibt. Letztlich wird es deshalb dem
neugewählten Kommissionspräsidenten selbst überlassen sein, welche
ihrer Forderungen er tatsächlich zu Schwerpunkten seiner Amtsführung
macht und welche nicht.
Die Suche nach einem personalpolitischen Gesamtpaket
Größere
Auswirkungen als die „strategische Agenda“ des Europäischen
Rates werden hingegen die Personalentscheidungen haben, in die sich
die Staats- und Regierungschefs in den letzten Wochen ebenfalls
kräftig eingemischt haben. Die Posten, die dabei zu verteilen sind,
sind ebenso bedeutend wie vielfältig: von der Präsidentschaft
des Europäischen Rates (derzeit Van Rompuy, CD&V/EVP) und des
Europäischen
Parlaments (zuletzt Martin Schulz, SPD/SPE) über den Hohen
Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
(Catherine Ashton, Labour/SPE) bis zum Vorsitz der Eurogruppe
(Jeroen Dijsselbloem, PvdA/SPE) und den wichtigen
wirtschaftspolitischen Ressorts in der Kommission.
Wer
für die Nominierung genau zuständig ist, unterscheidet sich dabei
je nach Amt: Während der Rats- und der Parlamentspräsident
eigentlich allein von ihren jeweiligen Institutionen gewählt werden,
werden die Kommissare von den nationalen Regierungen vorgeschlagen,
anschließend vom Ministerrat nominiert und schließlich vom
Parlament bestätigt. Der Hohe Vertreter (der zugleich auch
Vizepräsident der Kommission ist) benötigt eine qualifizierte
Mehrheit im Europäischen Rat und anschließend zusammen mit den
übrigen Kommissionsmitgliedern ein Zustimmungsvotum im Parlament.
Der Vorsitzende der Eurogruppe wiederum wird formell von den
Wirtschaftsministern der Euro-Länder gewählt.
Faktisch
allerdings waren all diese Ämter in den letzten Tagen Teil einer
großen, umfassenden Personalverhandlung, bei der vor allem die
nationalen Partei- und Regierungschefs der Christ- und
Sozialdemokraten den Ton angaben. Die kuriose Vermengung von
nationalen und parteipolitischen Interessen, die dabei zu beobachten
war, sagt einiges über die eigentümliche Doppelstruktur aus
zwischen- und überstaatlicher Organisation, die die Europäische
Union heute ausmacht. Und auch die komplexe Vielzahl an
informellen Quoten (zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten, Euro-
und Nicht-Euro-Ländern, Männern und Frauen usw.) sorgte dafür, dass die
Verhandlungen jede Menge spannenden Spekulationsstoff für
Brüsselologen und andere Politjunkies boten.
Eine Kompromisslösung, die keine wurde
Dabei
zeichnete sich recht früh eine
„Kompromisslösung“ ab, nach der Juncker
Kommissionspräsident, die bisherige dänische Premierministerin
Helle Thorning-Schmidt (S/SPE) Ratspräsidentin und der polnische
Außenminister Radek Sikorski (PO/EVP) Hoher Vertreter werden sollte.
Dann aber kam nicht nur Sikorski durch
einige undiplomatische Äußerungen ins Stolpern; auch die
Sozialdemokraten wurden etwas forscher und forderten den Posten des Hohen Vertreters nun
für sich. Besonderer Druck kam von dem italienischen Premierminister
Matteo Renzi (PD/SPE), dessen derzeitige Außenministerin Federica
Mogherini (PD/SPE) als
mögliche Anwärterin gilt.
Da es außerdem zu einer Einigung darüber kam, dass Martin Schulz (SPD/SPE) vorerst Parlamentspräsident bleiben soll, stand fest, dass die wichtigen
wirtschaftspolitischen Ämter vor allem an Christdemokraten fallen würden. Entsprechend dürfte nun
wohl der konservative spanische Wirtschaftsminister Luis de Guindos
(PP/EVP) neuer
Chef der Eurogruppe werden. Außerdem wird ab 1. Juli der
Finne Jyrki Katainen (Kok./EVP) Währungskommissar – zunächst
nur bis Herbst als Ersatz für seinen liberalen Landsmann Olli Rehn (der sein Mandat im Europäischen Parlament antritt und
daher aus der Kommission ausscheiden muss), aber wohl durchaus mit Chancen,
dieses Amt auch danach zu behalten.
Zugleich ist auch die Ratspräsidentschaft weiter umstritten: Zum einen hat
Thorning-Schmidt stets abgestritten, an dem Posten interessiert zu
sein; zum anderen genießt sie auch unter den übrigen
Sozialdemokraten keinen vollen Rückhalt. Und schließlich machte
auch die EVP-Spitze zuletzt deutlich, dass sie nicht
auf Ratspräsidentschaft und Hohen Vertreter verzichten will. Womöglich wird am Ende also doch wieder ein Christdemokrat
Ratspräsident – oder eine Christdemokratin, etwa
die Bulgarin Kristalina Georgieva (EVP), Hohe Vertreterin.
Trostpreise für Briten und Liberale?
Unklar
ist auch, welchen Posten der neue britische Kommissar (vermutlich der
erklärte
Europaskeptiker Andrew Lansley, Cons./AECR) bekommen könnte.
Optionen wären etwa die Ressorts Außenhandel oder Wettbewerb, die
einerseits hinreichend Prestige bieten, um Cameron nicht weiter zu
brüskieren, und wo andererseits die Differenzen zwischen
Großbritannien und dem Rest der EU nicht allzu groß sind.
Zudem ist
offen, ob und wie die Liberalen bedient werden. Nachdem die ALDE bei
der Europawahl kräftig verloren hat, ist sie in den jetzigen
Personalverhandlungen deutlich weniger präsent als noch vor fünf
Jahren. Ganz außen vor lassen wollen EVP und S&D sie aber nicht: Spekuliert wurde etwa darüber,
dass der liberale Fraktionschef Guy Verhofstadt (Open-VLD/ALDE) in
der zweiten Hälfte der Wahlperiode die Präsidentschaft des Europäischen Parlaments übernehmen könnte – ein Gerücht, das
zuletzt
allerdings zurückgewiesen wurde. Als Favorit für Martin Schulzʼ Nachfolge ab 2017 gilt nun stattdessen der Christdemokrat Othmar Karas (ÖVP/EVP).
Der Ball geht zurück ans Europäische Parlament
Doch
so amüsant solche Spekulationen sind: Klarheit wird es in diesen
Fragen ohnehin erst nach dem heutigen Gipfel, womöglich sogar erst
in den nächsten Tagen und Wochen geben. Sobald sich der Europäische
Rat für Jean-Claude Juncker ausgesprochen hat, liegt der Ball dann wieder beim
Europäischen Parlament, das sich am 1. Juli konstituieren wird. Zwar
ist es unwahrscheinlich, dass es dort allzu großen Widerstand gibt:
Mit Juncker hat sich das Parlament in einer zentralen
Frage ja bereits durchgesetzt, sodass die beiden großen Fraktionen
EVP und S&D bei den übrigen Personalentscheidungen wohl im
Wesentlichen den Vorschlägen ihrer nationalen Partei- und
Regierungschefs folgen werden. Für die kleineren Fraktionen bieten
die anstehenden Debatten jedoch die Möglichkeit, sich mit eigenen
Alternativen zu profilieren. Sowohl die Linksfraktion
GUE/NGL als auch die grüne G/EFA haben bereits angekündigt, mit
Pablo
Iglesias und Ulrike
Lunacek eigene Kandidaten für das Amt des Parlamentspräsidenten
aufzustellen.
In den nächsten Jahren, so viel zeichnet sich bereits ab, wird die EU
vom Geist einer Großen Koalition zwischen EVP und S&D
geprägt sein, die noch enger zusammenrücken werden als in der
Vergangenheit. Zugleich dürfte es aber auch einige spannende
Kontroversen geben – zwischen den Koalitionspartnern, die sich in
zentralen Fragen keineswegs einig sind, aber auch mit den kleinen
Parteien, die stärker als bisher eine echte Oppositionsrolle
einnehmen könnten. Für die europäische politische Öffentlichkeit wäre
das nicht die schlechteste Entwicklung.
Bild: By European Council [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr.