- Die Bundeskanzlerin zeigte sich von den Argumenten ihres zyprischen Kollegen jedenfalls nicht allzu beeindruckt.
Nach fast zwei Wochen mit
täglich neuen Schlagzeilen scheint sich in der Zypern-Krise
allmählich der Staub zu legen. Was dabei herauskam, kann kaum
befriedigen. Ein Staatsbankrott wurde zwar abgewendet, aber
wirtschaftlich blickt das Land in einen Abgrund, der noch das Elend
in Griechenland übertreffen könnte. Zeit zum Rekapitulieren: Wie
kam es zu dieser bislang dümmsten aller Entscheidungen in der
Eurokrise? Welche anderen Möglichkeiten hätte es gegeben? Sind die Vorwürfe, die nun allseits gegen die deutsche
Bundesregierung erhoben wurden, berechtigt? Und wird sich der Irrwitz der letzten Tage beim nächsten
Aufflackern der Krise wiederholen?
Die Entstehung der
Krise
Am Ursprung der
zyprischen Probleme stand, darin besteht weitgehend Einigkeit, der im
Vergleich mit anderen Ländern überdimensionierte Bankensektor. Dank
laxer Regulierung und niedriger Steuern zog es eine große Menge von
Kapital ausländischer, vor allem russischer Anleger an. Dieses
Kapital wiederum reinvestierten die Banken zum großen Teil in
Griechenland, das Zypern geografisch und kulturell naheliegt. Die
Euro-Krise ab 2008 führte dann zunächst aufgrund fehlender
Nachfrage zu mehr Arbeitslosigkeit und damit zu höheren
Sozialausgaben und einer steigenden Staatsverschuldung Zyperns. Als
dann vor einem Jahr auch noch die griechische Regierung einen
Teil-Staatsbankrott erklärte, sprang die Krise auf die zyprischen
Banken über. Der zyprische Staat wiederum war zu klein, um seine
Banken aus eigener Kraft zu stützen. (Und eine europäische
Bankenunion, die das für ihn hätte übernehmen können, gibt es
noch nicht.)
Im Sommer 2012 stellte
Zypern deshalb einen Hilfsantrag an den ESM. Die Eurogruppe verschob die endgültige Entscheidung noch auf die Zeit nach der
zyprischen Wahl Ende Februar 2013, wo sich der im Vergleich zum
früheren Präsidenten Dimitris Christofias (AKEL/EL) etwas
kompromissbereitere Nikos Anastasiadis (DISY/EVP) durchsetzte. Drei
Wochen später ging es dann los.
Die naheliegende
Lösung
Was hätten die Euro-Staaten in dieser Situation sinnvollerweise tun sollen? Es gab
eine verhältnismäßig naheliegende Lösung, um sowohl die
unmittelbaren als auch die strukturellen Probleme Zyperns anzugehen:
● Zunächst einmal
hätten die Minister dem Hilfsantrag vollständig stattgeben sollen.
Benötigt wurden rund 17 Milliarden Euro, was zwar fast einem
kompletten zyprischen Jahres-Bruttoinlandsprodukt entspricht, aber
für die EU insgesamt nicht besonders viel ist; allein das Budget des
deutschen Verteidigungsministeriums ist fast doppelt so hoch. Der ESM
hätte sich also kaum daran übernommen. Auch dass die zyprische
Staatsverschuldung kurzfristig stark angestiegen wäre (da
schließlich auch die ESM-Hilfen nur Kredite sind),
ist kaum von Belang: Wichtiger als das absolute Verschuldungsniveau
ist, ob die Zinslast und das wirtschaftliche Umfeld erwarten lassen,
dass das Land seine Schulden irgendwann zurückzahlen wird – was
mit den Hilfen eher der Fall gewesen wäre als ohne.
● Zugleich hätte man
die zyprische Regierung verpflichten müssen, die Krisenursachen
anzugehen. Zypern hätte seinen Finanzsektor durch höhere Steuern
und schärfere Regulierung mit der Zeit so reduzieren müssen, dass
der Staat die Geldinstitute bei künftigen Krisen auch aus eigener
Kraft retten könnte. Die am meisten überschuldeten Banken hätte
man gegebenenfalls abwickeln müssen. Allerdings bestand hierfür
keine Eile: Man hätte diesen Umstrukturierungsprozess ohne Weiteres
über fünf oder zehn Jahre strecken können, um Schocks zu vermeiden
und der zyprischen Wirtschaft die Möglichkeit zu einer
Neuorientierung zu geben – etwa durch die ohnehin geplante
Erschließung der Gasvorkommen vor der zyprischen Küste.
Die Schocktherapie und
ihre absehbaren Folgen
Indessen entschied sich
die Eurogruppe nicht für diese verhältnismäßig sanfte Lösung,
sondern für einen wirtschaftlichen Schock: Anstelle des benötigten
Gesamtbetrags sollte der ESM nur etwa zwei Drittel bezahlen – und
der Rest, rund 5,8 Milliarden Euro, sollte von den zyprischen Banken
selbst beigesteuert werden. Nachdem der erste Vorschlag, eine
Vermögensteuer auf sämtliche Sparguthaben, vom zyprischen Parlament
abgelehnt worden war, entschied man sich stattdessen für eine
sofortige, massive Schrumpfung des Bankensektors. Die zweitgrößte
Bank des Landes, Laiki, wird komplett geschlossen; bei der größten,
Bank of Cyprus, sollen Guthaben über 100.000 Euro zu etwa 30 bis 40
Prozent in weitgehend wertlose Anteilscheine der Bank umgewandelt
werden.
Statt sich allmählich
auf ein neues Wirtschaftsmodell umzustellen, steht das Land nun also
von einem Tag auf den nächsten vor den Trümmern einer seiner
wichtigsten Branchen. Die Folgen davon werden verheerend sein. Die
Arbeitslosenquote beträgt in Zypern schon heute fast 15 Prozent (und damit mehr als in Deutschland jemals seit Gründung der
Bundesrepublik). Wenn nun, wie von der französischen Société
Générale prognostiziert, die zyprische Wirtschaft bis 2017 um ein Fünftel schrumpft, so wird diese Zahl noch einmal enorm ansteigen – was natürlich
auch für den Staat weniger Einnahmen und mehr Ausgaben bedeutet. Ob sich mit
diesen Aussichten die zyprische Staatsverschuldung tatsächlich bis
2020 bei 100 Prozent des BIP stabilisieren wird, wie von der
Eurogruppe jetzt erwartet wird, ist mehr als fraglich. Die Rating-Agenturen warnen jedenfalls schon vor weiteren Herabstufungen der zyprischen Bonität, und es erscheint
nicht unwahrscheinlich, dass das Land in einigen Jahren einen neuen
Hilfsantrag an den ESM wird stellen müssen.
Vorwürfe gegen die Bundesregierung
Der plötzliche Kollaps des Finanzsektors wird den Zyprern also viel wirtschaftliches Leid bringen, ohne gegenüber einer weniger traumatischen Lösung irgendwelche erkennbaren Vorteile zu haben. Wer aber trägt die Verantwortung für diese fatale Entscheidung der Eurogruppe?
Medienberichten zufolge hätten sich die Europäische Kommission und die meisten
Mitgliedstaaten auch mit einem deutlich geringeren zyprischen Beitrag
zufrieden gegeben. Die treibende Kräfte für eine starke Beteiligung
der Banken waren hingegen der Internationale Währungsfonds
und die deutsche Bundesregierung. Welcher Teufel den IWF dabei
geritten hat, ist für mich nicht nachvollziehbar, auch seine
entsprechenden
Pressemitteilungen
sind recht inhaltsleer. Stärker thematisiert wurde in der
europäischen öffentlichen Debatte aber ohnehin die Rolle
Deutschlands. Und der Grad an Feindseligkeit erreichte dabei einen
bislang beispiellosen Höhepunkt.
Dass die deutsche
Bundeskanzlerin bei Demonstrationen in den Euro-Krisenstaaten mit einem Hitler-Schnurrbart abgebildet wird, ist schon seit Jahren
nichts Ungewöhnliches mehr. Neu ist hingegen, dass dabei auch Fahnen
der Bundeswehr zerrissen und teilweise verbrannt werden. Neu ist, dass ein spanischer
Ökonomieprofessor in einem Gastkommentar für die Zeitung El País
schreibt, Deutschland
habe dem Rest Europas den „Krieg“ erklärt, um sich „wirtschaftlichen Lebensraum“ zu sichern (auch wenn El País
den Kommentar nach kurzer Zeit wieder zurückzog). Neu ist, dass der
luxemburgische Außenminister Jean Asselborn (LSAP/SPE) spitz
anmerkt, die deutsche
Waffenindustrie sei ebenso überdimensioniert wie der zyprische
Bankensektor. Und neu ist schließlich, dass auch immer mehr
deutsche Kommentatoren als Ziel Angela Merkels (CDU/EVP) die „deutsche politische Vorherrschaft auf dem Kontinent“ sehen.
Sind diese Vorwürfe
berechtigt? Zeigt die Bundesregierung gerade ihr wahres,
hässliches Gesicht? War die Zypern-Politik gar Teil einer deutschen
Strategie, die Wirtschaft im Rest des Kontinents zu zerstören und
sich so dauerhaft mehr Einfluss zu sichern? Auch wenn die deutschen
Banken sich über manchen Neukunden freuen werden, der nun sein Vermögen aus Zypern in Sicherheit bringt, denke ich nicht, dass das das Hauptmotiv war.
Die Wirklichkeit ist sehr viel trivialer, macht aber deshalb kaum
weniger Angst: Das größte und wirtschaftsstärkste Land Europas
befindet sich gerade im Vorwahlkampf.
Wie die deutsche
Öffentlichkeit die Zypern-Krise wahrnahm
Die deutsche Bevölkerung
ist der Eurokrise schon seit langem überdrüssig. Obwohl das Land
bislang wirtschaftlich von der Krise eher profitiert hat (besonders
weil die Kapitalflucht aus Südeuropa die Zinsen für deutsche
Staatsanleihen auf ein Rekordtief drückte), wurden in der
Öffentlichkeit vor allem die großen Rettungsschirme diskutiert, was
zu der irrigen Vorstellung führte, der deutsche Steuerzahler trage
die finanzielle Hauptlast in Europa. Hinzu kommt eine pauschale Wut
auf „die Banken“, die die Krise verursacht hätten und nun
ungeschoren davon kämen, worüber nicht nur die
kapitalismuskritischen Linken empört sind, sondern auch die
ordoliberalen Konservativen. Und schließlich machte vor der
Zypern-Rettung auch noch die Nachricht die Runde, dass ein großer Teil der zyprischen
Bankkonten kriminellen russischen Oligarchen gehöre. Letztere hatten
zwar mit den Ursachen der zyprischen Krise rein gar nichts zu tun,
eigneten sich jedoch hervorragend als Feindbild – und zwar wiederum
für alle Seiten des politischen Spektrums.
Entsprechend unbeliebt
war die Zypern-Rettung in Deutschland von Anfang an. Die Stimmung in
einem Großteil der Bevölkerung richtete sich eher auf eine
„Bestrafung“ der Banken und ein möglichst schnelles Ende des
„unethischen Geschäftsmodells“, mit dem die zyprische Regierung
den Finanzsektor jahrelang gefördert hatte. Die deutsche
Öffentlichkeit wollte nun endlich einmal ein Exempel statuieren; und dass Zypern als „nicht systemrelevant“ für die Eurozone galt, tat ein Übriges, um
die katastrophalen Auswirkungen einer solchen Politik für die
zyprische Bevölkerung aus der Aufmerksamkeit zu verdrängen – man
darf annehmen: mehr aus Ignoranz als aus Bosheit.
Die deutsche
Bundesregierung wiederum hätte es besser wissen können. Indessen
benötigt sie für die Kredite an Zypern die Zustimmung des
Bundestags, wo sie (aufgrund der großen Zahl von Europaskeptikern in
den Regierungsfraktionen, die Hilfsmaßnahmen grundsätzlich
ablehnen) auf die Stimmen der Opposition angewiesen ist. Und diese
wiederum hätte kaum darauf verzichten können, die Regierung bei
einem solch unpopulären Thema ein wenig unter Druck zu setzen.
Egal ob an der Regierung oder in der Opposition: Sechs Monate vor der
nächsten Bundestagswahl sind deutsche Politiker nun einmal eher an
ihren Wählern interessiert als an dem Wohlergehen der Zyprer. Man
kann das verantwortungslos und moralisch verwerflich finden, doch aus einer politischen
Logik heraus fällt es schwer, ihnen deshalb einen Vorwurf zu machen.
Wiederholungsgefahr
Was
also bleibt? Trotz einer ausgesprochen törichten Erklärung des Eurogruppen-Vorsitzenden Jeroen Dijsselbloem (PvdA/SPE), die
prompt die europäischen Börsen auf Talfahrt schickte, muss man wohl
kaum befürchten, dass der Umgang mit Zypern bei künftigen
Bankenkrisen als „Vorlage“ dienen wird. Allenfalls haben wir bis
zur Bundestagswahl ein gefährliches halbes Jahr vor uns – danach
wird sich die deutsche Politik, egal welche Parteien regieren, mit
einiger Sicherheit wieder etwas konstruktiver zeigen und fürs Erste auf das Statuieren
weiterer Exempel verzichten.
Dennoch
zeigt der Fall Zypern, in welcher Schieflage sich die EU derzeit
befindet. Denn auch wenn die Bundesregierung dem Rest
Europas nicht aktiv schaden will: Eine einforderbare politische
Verantwortung trägt sie letztlich nur gegenüber ihrer eigenen nationalen
Öffentlichkeit, nicht gegenüber der europäischen Bevölkerung
insgesamt. Dies wird auch in Zukunft immer wieder zu irrationalen Anreizen führen, die für die Menschen in anderen Ländern desaströse Folgen haben können. Die einzige Möglichkeit,
um dem abzuhelfen, ist die Übertragung der Verantwortung für alle
wichtigen wirtschaftspolitischen Fragen auf die supranationalen
Institutionen, vor allem auf das Europäische Parlament. Dies
aber setzt eine Änderung der EU-Verträge voraus. Wenn
Deutschland für Europa das Beste im Sinn hat, sollte es deshalb
seine Macht nutzen, damit nach der Bundestagswahl ein neuer Europäischer Konvent eingesetzt wird.
Die
Zyprer unterdessen werden für die nächsten Jahre wohl andere Sorgen
haben.
Bilder: By European People's Party (Flickr: EPP Summit March 2012) [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons; eigene Grafik (Quelle: Europäische Zentralbank).