Vor einigen Wochen habe ich hier die Jungen Europäischen Föderalisten dafür kritisiert, wie im Entwurf ihres Grundsatzprogramms mit der außereuropäischen Welt umgegangen wurde – und nun haben sie mich prompt zu einer Podiumsdiskussion zu diesem Thema eingeladen. Am kommenden Freitag, 7. Dezember, spreche ich mit Lars Becker, Präsidiumsmitglied der Europa-Union Deutschland, und Andreas Bummel, Vorsitzender des „Komitees für eine demokratische UNO“, über Weltföderalismus als Friedensprojekt. Die Veranstaltung findet ab 19 Uhr in der Galerie im Innenhof der Sophienstraße 28/29 in Berlin-Mitte statt; sie ist öffentlich, der Eintritt ist frei, und im Anschluss gibt es Häppchen. Also herzlich willkommen!
29 November 2012
Podiumsdiskussion: Weltföderalismus als Friedensprojekt
Eingestellt von
Manuel Müller
um
12:17
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Schlagwörter:
Weltinnenpolitik
24 November 2012
Borgen und Tonio Borg: Wie ein EU-Kommissar gewählt wird
Der
Chefredakteur: Redet über die EU in eurer Freizeit, aber lesen will
das keiner. Das ist total langweilig, kompliziert und unsexy.
Die
Politikredakteurin: Kompliziert? Das ist nicht die Bohne kompliziert.
Die Premierministerin ernennt einen EU-Kommissar, ganz einfach.
Der
Chefredakteur: Kein Däne weiß, was diese Kommission wirklich macht.
[…] Die Leute interessiert nur, was dort verdient wird und ob einer
in die Kasse gegriffen hat.
Die
Politikredakteurin: Nein, also wirklich! Der EU-Kommissar-Posten ist
Dänemarks Stimme in Europa!
„Borgen“,
Staffel 2, Folge 2
Es
kommt nicht häufig vor, dass in einer Fernsehserie von der
Europäischen Kommission die Rede ist, aber die sehenswerte dänische
Politikserie Borgen,
deren
zweite Staffel gerade auf Arte angelaufen ist, machte diese Woche
eine Ausnahme. In der Folge „Wer wird EU-Kommissar?“ geht es um die Ernennung des
neuen dänischen Kommissionsmitglieds, die der fiktionalen
Premierministerin Birgitte Nyborg zu schaffen macht. Ausgestrahlt
wurde die Sendung
passenderweise nur einen Tag, nachdem am Mittwochvormittag
tatsächlich über die Ernennung eines neuen EU-Kommissars abgestimmt
wurde – allerdings nicht aus Dänemark, sondern aus Malta. In einer
hart umkämpften Abstimmung akzeptierte das Europäische Parlament
den umstrittenen Christdemokraten Tonio Borg (PN/EVP) als neues Mitglied der Kommission.
Nun
ist die Ernennung eines Kommissionsmitglieds keine Kleinigkeit. Als
die „Regierung“ der EU, die zudem das alleinige Initiativrecht
bei der Gesetzgebung besitzt, kann die Kommission im Guten wie im
Schlechten entscheidenden Einfluss auf die europäische Politik
nehmen. Obwohl sie nach einem strikten Nationalproporz besetzt ist
(ein Kommissar pro Land), sind ihre Mitglieder nach Art. 17 EU-Vertrag ausschließlich den „allgemeinen Interessen der
Union“ verpflichtet. Ausgewählt werden sie „aufgrund ihrer
allgemeinen Befähigung und ihres Einsatzes für Europa unter
Persönlichkeiten […], die volle Gewähr für ihre Unabhängigkeit
bieten“. So weit jedenfalls die verfassungsrechtliche Theorie. Wie
aber sieht die Praxis dieses Auswahlprozesses
aus? Und welche Folgen hat das für die demokratische Legitimation und das öffentliche Ansehen der Kommissare?
Borgen:
Parteifreunde werden nach Brüssel weggelobt
In
der fiktionalen Welt von Borgen
spielt die allgemeine Befähigung der Kandidaten jedenfalls von
Anfang an nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr geht es bei der
Auswahl des dänischen Kommissars vor allem um eine parteiinterne
Intrige: Die Premierministerin muss sich zwischen einem alten,
inzwischen etwas unbequem gewordenen Weggefährten und einem
schmierigen, karrieresüchtigen Europaminister entscheiden. Einigkeit
besteht darüber, dass man einen so wichtigen Posten nicht einfach
dem Koalitionspartner überlassen kann. Wirklich haben will ihn aber
auch keiner der Kandidaten, denn, wie ein Berater der
Premierministerin nach wenigen Minuten feststellt, „in Brüssel
hört dich keiner schreien“. Die Ernennung der EU-Kommission dient
aus Sicht der nationalen Regierungen vor allem dazu, unliebsame
Parteifreunde wegzuloben: Der deutsche Zuschauer erinnert sich an die
Wahl von Günther Oettinger (CDU/EVP) vor drei Jahren und nickt
verstehend.
Wie
aber steht es mit dem europäischen Gemeinwohl? Sollten bei der
Auswahl nicht auch die Bürger der übrigen Staaten ein Wörtchen
mitzureden haben? Tatsächlich sind es dem EU-Vertrag zufolge
keineswegs die nationalen Regierungen allein, die den Kommissar aus
ihrem Land ernennen. Vielmehr machen diese nach Art. 17 Abs. 7
EU-Vertrag lediglich „Vorschläge“, auf deren Grundlage dann der
Ministerrat „im
Einvernehmen mit dem gewählten [Kommissions-]Präsidenten“ eine
Liste mit Nominierten zusammenstellt. Durchaus
realistischerweise macht Borgen
jedoch keinen Hehl daraus, dass dieses Prozedere in der Praxis
weitgehend bedeutungslos ist. Zwar ruft der neu gewählte
Kommissionspräsident im Verlauf der Folge mehrmals an, um die
dänische Premierministerin zu einer Entscheidung zu drängen. Echten
Einfluss aber übt er nur auf die Ressortverteilung aus: Falls die
Dänen sich dazu herablassen, einen kompetenten Kandidaten zu
benennen, so könnte dieser ein wichtiges Amt übernehmen; falls sie
hingegen einen Anfänger schicken, wird er nur Kommissar für
Mehrsprachigkeit.
Und
das Europäische Parlament, ohne dessen Zustimmungsvotum die neue
Kommission nicht ins Amt kommt? Das wird bei Borgen
zunächst
einmal überhaupt nicht erwähnt und spielt auch keine Rolle für die
Entscheidung der Regierung. Jedenfalls beinahe: Als nämlich der mit
großer Mühe endlich gefundene Kandidat in Minute 40 der Folge davon
erfährt, dass er sich in der kommenden Woche in einer sechs- bis
siebenstündigen Anhörung den Fragen der Europaabgeordneten unterziehen soll, da
erleidet er (ja, wirklich!) einen Schlaganfall und fällt für den
Rest der Sendung aus. Welch bitteres Symbol: So viel europäische
Demokratie übersteigt offenbar die Kräfte bei den Protagonisten
einer dänischen Politserie.
Tonio
Borg: Landsleuten fällt man nicht in den Rücken
Etwas
besser ging die Sache für den real existierenden Tonio Borg aus, der
seine Anhörung erfolgreich überstand und am Mittwoch vom
Europäischen Parlament als neues Kommissionsmitglied bestätigt
wurde. Was aber das Verhältnis von nationalem und europäischem
Interesse betrifft, so war sein Fall kaum weniger lehrreich als
derjenige des fiktionalen Dänen.
Tonio
Borg gehört zum rechtskatholischen Flügel der maltesischen
Regierungspartei PN (EVP) und war seit 1998 erst Innen-, dann seit 2008 Außenminister von Malta.
Nachdem sein Parteifreund John Dalli vor einigen Wochen wegen einer
Korruptionsaffäre als EU-Gesundheitskommissar hatte zurücktreten
müssen, wurde er von der maltesischen Regierung recht schnell zu
dessen Nachfolger auserkoren. Dann allerdings wurden Vorwürfe laut, dass
Borg in der Vergangenheit nicht nur durch homophobe Äußerungen
aufgefallen war, sondern auch zugelassen hatte, dass ein international gesuchter kasachischer Ex-Politiker ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Malta erhielt. Außerdem hatte er in seiner Zeit als Innenminister die Abschiebung von zweihundert eritreischen Flüchtlingen zu verantworten, von denen mehrere anschließend in ihrem Herkunftsland verhaftet und gefoltert wurden. Die Fraktionen der Linken (GUE/NGL), Liberalen (ALDE) und
Grünen (G/EFA) kündigten deshalb an, sie würden Borgs Ernennung im Europäischen Parlament ablehnen. Nur die Christdemokraten (EVP),
Rechtskonservativen (ECR) und Europaskeptiker (EFD) sprachen
ihm weiterhin ihre Unterstützung aus.
Da
dies jedoch für eine Mehrheit noch nicht ganz genügte, kam es
entscheidend auf die Abgeordneten der sozialdemokratischen Fraktion
S&D an. Von diesen sprach sich in einer fraktionsinternen
Abstimmung eine Mehrheit gegen Borg aus – die vier
Abgeordneten der Malta Labour Party aber stemmten sich massiv gegen
diese Haltung ihrer Parteigenossen. Offenbar wollten sich die
maltesischen Sozialdemokraten, die den Umfragen zufolge bei den
nationalen Wahlen in einem halben Jahr die PN an der Regierung
ablösen werden, nicht dem Vorwurf aussetzen, einem Landsmann in den
Rücken zu fallen. Die Malta
Times
jedenfalls zitierte den MLP-Abgeordneten Edward Scicluna mit der Aussage, für ihn
„als Malteser“ sei die S&D-Kritik an Borg eine „erniedrigende
Erfahrung“ gewesen. Am Ende wurde Borg in geheimer Wahl mit 386 zu
281 Stimmen bestätigt, was auf mindestens 30 bis 60 Unterstützer
aus der S&D-Fraktion hindeutet. Und während deutsche
Christdemokraten in diesem Votum eine „schallende Ohrfeige für Linke und Liberale“ sahen, wurde es in den
Online-Leserkommentaren der Malta
Times als großer nationaler Erfolg gefeiert.
Spitzenkandidaten
für Europawahlen
Dass
die Europäische Kommission ein bürgerfernes und wenig
demokratisches Organ sei, gehört zum Standardrepertoire der
EU-Kritik. Betrachtet man die Ernennung der neuen Kommissare, wie sie
diese Woche im Fernsehen und in Wirklichkeit zu sehen war, so ist
diesem Vorwurf in einer Hinsicht ohne Zweifel Recht zu geben: Es kann
nicht angehen, dass die Mitglieder eines Gremiums, das dem
Wohlergehen aller Europäer verpflichtet sein soll, nach einem
Verfahren gewählt werden, welches so sehr die nationalen Interessen in
den Vordergrund stellt. Solange die Mehrheit der europäischen
Öffentlichkeit so wie die Politikredakteurin des fiktionalen
Boulevardblattes aus Borgen
den
Posten eines EU-Kommissars als „Dänemarks Stimme in Europa“
sieht, wird die Kommission kaum als ein
Organ supranationaler Demokratie wahrgenommen werden. Und solange die Bürger nicht den Eindruck bekommen, dass die Zusammensetzung der Kommission auf eine politische Wahl zurückgeht, bei der sie selbst mit ihrer Stimme Einfluss ausüben können, wird sie an der europäischen Exekutive auch in Zukunft nur interessieren, „was dort verdient wird und ob einer
in die Kasse gegriffen hat“.
Wenn
die politische Legitimation der Kommissionsmitglieder verbessert
werden soll, so muss bei ihrer Ernennung künftig also nicht mehr die
nationale Herkunft, sondern die parteipolitische Ausrichtung im
Vordergrund stehen. Es ist bedauerlich genug, dass die irische
Regierung 2008 (nach dem gescheiterten ersten Referendum über den
Vertrag von Lissabon) durchsetzte, dass auch in Zukunft immer genau
ein Kommissar aus jedem Mitgliedstaat stammen muss. Umso wichtiger
ist es, ihre Wahl nicht primär den nationalen Regierungen zu
überlassen, sondern die Fraktionen des Europäischen Parlaments in
den Mittelpunkt des Verfahrens zu stellen.
Ein
erster Schritt in diese Richtung wurde bereits getan: In den letzten
Monaten haben die großen europäischen Parteien – die
sozialdemokratische SPE und die christdemokratische EVP –
beschlossen, vor der nächsten Europawahl 2014 europaweite
Spitzenkandidaten zu benennen. Der Kandidat der stärksten Fraktion
soll dann vom Europäischen Rat (der gemäß Art. 17 Abs. 7
EU-Vertrag das Ergebnis der Europawahl „berücksichtigen“ muss)
als Kommissionspräsident vorschlagen werden. Wenigstens das
wichtigste Amt der Kommission würde also nicht nach nationalen
Kriterien, sondern entsprechend dem Votum der europäischen Wähler
für die eine oder andere Partei vergeben werden. Gerade an diesem
Freitag hat das Europäische Parlament dieses Vorhaben noch einmal
durch eine Resolution bestätigt (hier der Wortlaut), die der Blogger Protesilaos Stavrou völlig zu
Recht als „bold step towards European democracy“
bezeichnet hat.
Europäische
Schattenkabinette
Klar
ist allerdings auch, dass es hierbei nicht bleiben kann. Denn der
Kommissionspräsident hat zwar nach Art. 248 AEU-Vertrag eine Richtlinienkompetenz, doch zuletzt werden
sämtliche Beschlüsse des Gremiums gemäß Art. 250 AEU-Vertrag von allen Kommissaren gemeinsam in einem
Mehrheitsentscheid getroffen. Auf die Dauer wird es deshalb nicht
genügen, wenn nur der Präsident nach seiner parteipolitischen
Zugehörigkeit gewählt wird. Auch die Ernennung der übrigen
Mitglieder darf nicht der nationalen Politik ihrer jeweiligen Länder
überlassen bleiben.
Eine
Lösung hierfür könnte darin bestehen, dass vor der Europawahl
nicht nur jede europäische Partei einen Spitzenkandidaten für das
Amt des Kommissionspräsidenten ernennt, sondern diese auch mit einer
Art Schattenkabinett ausstattet: mit Kandidaten für die einzelnen
Ressorts, die innerhalb der Kommission zu vergeben sind. Gemäß den
Vertragsbestimmungen müsste dabei natürlich aus jedem Mitgliedstaat
genau ein Kandidat stammen; doch die Auswahl dieser Kandidaten
wäre eben nicht mehr Sache der nationalen Regierungen, sondern der
europäischen Parteien, die sich bei der Europawahl dem Votum der Bürger stellen. Nach den Wahlen müsste dann eine Koalition
von Parteien, die zusammen eine Mehrheit im Europäischen Parlament
besitzen, aus ihren jeweiligen Schattenkabinetten eine gemeinsame
Kandidatenliste erstellen und diese den nationalen Regierungen
vorlegen – versehen mit einem Hinweis, dass das Parlament keinem Vorschlag zustimmen wird, der nicht dieser Liste
entspricht. Und natürlich würde auch im Fall des überraschenden
Rücktritts eines Kommissionsmitglieds der Nachfolger zunächst
zwischen den Koalitionsfraktionen abgesprochen, bevor die nationale
Regierung einen Kandidaten nominiert.
Vermutlich
würde ein solches Vorgehen der europäischen Parteien zunächst
einmal zu einer institutionellen Krise zwischen dem Europäischen
Parlament und dem Europäischen Rat führen. Aber wenn die
Abgeordneten diese durchzustehen bereit sind, dann spricht nichts
dagegen, dass das beschriebene Verfahren im Laufe der Jahre zur üblichen Praxis wird – so
wie heute noch der Zugriff jeder Regierung auf ihren jeweiligen
„nationalen“ Kommissionsposten gängig ist. Nötig ist dafür noch
nicht einmal eine Änderung des EU-Vertrags, sondern lediglich ein
wenig Mut der europäischen Parteien. Und wir Bürger bekämen
endlich die Möglichkeit, durch die Europawahl in demokratischer
Weise auf die Zusammensetzung der europäischen Exekutive Einfluss zu
nehmen.
Bild: Flickr_-_europeanpeoplesparty_-_EPP_LEADERS_MEET_IN_DUBLIN_14_April_2008_(43).jpg: European People's Party; derivative work: Herzi Pinki [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.
Eingestellt von
Manuel Müller
um
18:40
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Schlagwörter:
Europawahlrecht,
Föderalismus und Demokratie
19 November 2012
Das Eigenmittelsystem, die Finanztransaktionssteuer und die Wahrnehmung der Europäischen Union in der Öffentlichkeit
Die Union stattet sich
mit den erforderlichen Mitteln aus, um ihre Ziele erreichen und ihre
Politik durchführen zu können.
Ich weiß nicht, ob das
Wort „Eigenmittelsystem“ jemals in der Tagesschau oder im
Aufmacher einer großen deutschen Zeitung verwendet wurde: Es klingt
so technisch und sperrig, dass jeder gute Journalist befürchten
müsste, damit seine Leser und Zuschauer zu vergraulen. Für
diejenigen, die sich intensiver mit Europapolitik beschäftigen,
bezeichnet dieses Wort hingegen ein Thema, über das mit größter
Leidenschaft diskutiert wird. Denn es handelt sich dabei um nichts anderes
als um die Frage, wie sich die EU finanzieren soll – und damit
indirekt auch um die Frage, ob sie sich als eine Union der
europäischen Bürger oder nur ein Bündnis ihrer Mitgliedstaaten
versteht.
Und darum geht es: Wie
jeder Staat und jede internationale Organisation benötigt die EU zur
Erfüllung ihrer Aufgaben finanzielle Mittel. Zu deren Beschaffung
gibt es typischerweise zwei Modelle: Staaten finanzieren sich
größtenteils über Steuern, die sie von ihren Bürgern erheben;
internationale Organisationen hingegen leben meist von den Beiträgen
ihrer Mitgliedstaaten. Unabhängig von der Höhe des Budgets haben
internationale Organisationen deshalb in finanziellen Fragen weniger
Autonomie, da sie letztlich Jahr für Jahr auf den guten Willen ihrer
Mitglieder angewiesen sind. Insbesondere die reichen Staaten, die für
den größten Teil des Budgets aufkommen, können dies zur Ausübung
von Macht nutzen – was beispielsweise die USA gegenüber den Vereinten Nationen auch recht unverblümt tun.
Die „Eigenmittel“ der EU
Damit so etwas in der
Europäischen Union nicht geschieht, wurde bereits in den 1960er
Jahren beschlossen, dass die europäische Ebene über Finanzautonomie
verfügen und nicht auf nationale Beitragszahlungen angewiesen sein
sollte. Allerdings schreckten die Mitgliedstaaten davor zurück, den
Europäischen Gemeinschaften ein eigenes Besteuerungsrecht
einzuräumen. Stattdessen sollten sich die „Eigenmittel“ der EG
aus deren eigenen Tätigkeiten ergeben. Im Wesentlichen handelte es
sich dabei um die Einnahmen aus den Importzöllen auf Produkte aus
Nicht-EG-Staaten, die in einer Wirtschaftsgemeinschaft mit
einheitlichen Außenzöllen und freiem Binnenhandel ohnehin nicht
mehr sinnvoll einzelnen Mitgliedstaaten zugerechnet werden konnten.
Für einige Jahre ging
dies gut. Doch mit den Jahren stiegen einerseits die Aufgaben – und
damit der Finanzbedarf – der EG, während andererseits die
Einnahmen zurückgingen, da die EU mit den übrigen Mitgliedern der
Welthandelsorganisation immer neue Zollsenkungen vereinbarte. Um
diese Lücke zu füllen, wurden seit den 1980er Jahren die
sogenannten Mehrwertsteuer- und BNE-Eigenmittel eingeführt, die
heute zusammen rund 85 Prozent des EU-Haushalts ausmachen.
Bei diesen
BNE-Eigenmitteln handelt es sich letztlich doch wieder um nationale
Beiträge der Mitgliedstaaten, die sich nach dem
Bruttonationaleinkommen des Landes berechnen. „Eigenmittel“ der
EU sind sie nur insofern, als sie (anders als etwa die Beiträge zu
den Vereinten Nationen) formal nicht aus den nationalen Haushalten
stammen, sondern nur von den Mitgliedstaaten für die EU eingetrieben
werden, wobei den Mitgliedstaaten die Art der Erhebung freigestellt
ist. Auch dieser feine Unterschied wird in der Praxis allerdings von
mehreren Mitgliedstaaten ignoriert – und so finden sich die
BNE-Eigenmittel nicht selten als Ausgabenpunkt in den nationalen
Haushaltsplänen wieder. Es ist nur Glück, dass dabei noch niemals
der verfassungsrechtliche Ernstfall eingetreten ist, bei dem ein
nationales Parlament die volle Überweisung dieser Beiträge an die
Europäische Union verweigert oder einseitig an politische
Forderungen geknüpft hätte.
Der Nettozahlerstreit
Doch auch so richtete die
faktische Rückkehr zu nationalen Beiträgen einigen Schaden an. Denn
die Tatsache, dass die BNE-Eigenmittel jeweils einzelnen
Mitgliedstaaten zugeordnet werden können, verleitete viele nationale
Politiker und Medien dazu, sie als den „Preis“ anzusehen, den das
eigene Land für die EU-Mitgliedschaft zu entrichten hat. Von dort
ist der Schritt nicht weit, auch die finanziellen Rückflüsse aus
dem EU-Haushalt in das eigene Land zu berechnen und einen Saldo
aufzustellen. Das Ergebnis ist die leidige Nettozahler-Debatte, die
seit den 1980er Jahren die öffentliche Auseinandersetzung vor allem
in den reichen Mitgliedstaaten dominiert.
Wie absurd diese
Diskussion ist, zeigt sich schon an der Vielzahl von Methoden, nach denen die nationalen Nettosalden je nach
Belieben groß oder klein gerechnet werden können. Für die
öffentliche Wahrnehmung der europäischen Finanzpolitik jedoch
spielte dies keine Rolle: Die Vorstellung, dass Deutschland als
„größter Nettozahler“ für alle Kosten aufkommen müsse,
während sich die „Nettoempfänger“ ein schönes Leben machen,
ist fest in vielen Köpfen verankert. Und die EU wusste sich dagegen
lange Zeit nicht anders zu helfen, als etlichen Nettozahlern (vor
allem Großbritannien, aber auch Deutschland, den Niederlanden,
Schweden und Österreich) Beitragsrabatte zuzugestehen, die das
Eigenmittelsystem nach und nach immer komplizierter machten und
zuletzt doch nicht zu einer größeren Akzeptanz in der
Öffentlichkeit beitrugen. Es ist wie beim deutschen Länderfinanzausgleich: Wenn staatliche
Umverteilung in erster Linie als ein Transfer zwischen
Gebietskörperschaften wahrgenommen wird, stößt sie fast immer auf
Ablehnung. Wird sie dagegen als ein Transfer von reichen zu armen
Bürgern verstanden, ist die öffentliche Zustimmung höher –
selbst wenn die interregionalen Effekte dabei in der Praxis genauso
groß sind.
Die
Finanztransaktionssteuer als Eigenmittel
In den letzten Jahren
forderten deshalb vor allem die supranationalen Organe der EU immer
wieder eine Reform des Eigenmittelsystems, bei der die nationalen Beiträge durch eigene europäische Steuern ersetzt würden (hier
ein Arbeitsdokument der Kommission, hier
ein gemeinsames Papier dreier prominenter Europaabgeordneter). Einen
entscheidenden Vorstoß machte die Kommission schließlich in diesem
Sommer, als sie ihren Vorschlag für den nächsten „mehrjährigen Finanzrahmen“ (das Grundgerüst für den EU-Haushalt im Zeitraum 2014-2020) präsentierte. Darin sah sie insbesondere die Einführung einer
europaweiten Finanztransaktionssteuer vor, die als neuer
Eigenmittel-Typ unmittelbar das europäische Budget speisen sollte.
Die Einnahmen von geschätzt 50 Milliarden Euro jährlich würden
etwa ein Drittel der gesamten EU-Ausgaben abdecken und damit den
Bedarf an BNE-Eigenmitteln deutlich reduzieren.
Dass die Wahl auf die
Finanztransaktionssteuer fiel, ist dabei auf den ersten Blick
durchaus passend. Außer fiskalischen Zwecken soll diese Steuer auf
alle Bankentätigkeiten nämlich vor allem der Finanzmarktregulierung
dienen, die seit Ausbruch der Eurokrise als ein wichtiges Politikfeld
der EU gilt. Und zudem herrscht Einigkeit darüber, dass eine
Finanztransaktionssteuer nicht nur in einzelnen Ländern eingeführt
werden sollte, sondern möglichst den gesamten Binnenmarkt abdecken
muss, um eine Steuerflucht der Banken zu verhindern. Wenn man also
eine Finanztransaktionssteuer will, dann sollte sie europaweit einheitlich gelten
– und es ist durchaus naheliegend, ihre Einnahmen dann auch für
den europäischen Haushalt zu nutzen.
Doch während das
Europäische Parlament diese Reformpläne der Kommission nachdrücklich
unterstützte, regte sich in einigen Mitgliedstaaten Widerstand.
Bemerkenswerterweise war es dabei insbesondere die deutsche
Bundesregierung, die schon 2011 auf die ersten Ideen einer
Eigenmittelreform mit einer scharfen Ablehnung reagierte. Auf eine Begründung für
dieses strikte Nein verzichteten die Politiker von CDU/CSU (EVP) und
FDP (ELDR) allerdings weitgehend. Eine Pressemitteilung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion erklärte, es bestehe „überhaupt
kein Handlungsbedarf, das bewährte System der EU-Finanzierung zu
ändern“; und der finanzpolitische Sprecher der FDP behauptete etwas dreist, die
Kommission suche lediglich nach Mitteln, „wie sie den ohnehin schon
durch die Eurokrise stark belasteten Bürgern der Geberländer
verstärkt und nun auch noch ohne Umwege an den Geldbeutel kann“.
Dass die Umstellung des Eigenmittelsystems nichts mit der (aus anderen Gründen notwendigen) Erhöhung des EU-Haushalts zu tun
hat, wurde dabei schlicht ignoriert. Letztlich drängt sich nur eine
Schlussfolgerung auf: Gerade in Deutschland, wo die
Nettozahler-Diskussion besonders virulent ist, will die Regierung
offenbar auch in Zukunft nicht darauf verzichten, politisches Kapital
aus der Größe ihres nationalen Beitrags zu schlagen.
Verstärkte
Zusammenarbeit
Immerhin aber war
Deutschland wenigstens grundsätzlich zur Einführung einer
europaweiten Finanztransaktionssteuer bereit; nur sollten die
Einnahmen daraus eben in den eigenen nationalen Haushalt fließen. Noch
schärfer hingegen war die Kritik vonseiten anderer Länder wie
Großbritannien und Schweden, die – vor allem aus wirtschaftspolitischen Gründen – eine Besteuerung der
Bankaktivitäten vollständig ablehnen. Da diese Gegensätze nicht zu überwinden waren, bildete sich in den letzten Monaten
eine Gruppe von elf Mitgliedstaaten der Eurozone
(unter ihnen Deutschland, Frankreich und Österreich) heraus, die eine
Finanztransaktionssteuer auf Basis einer verstärkten Zusammenarbeit anstreben. Demnach soll die Steuer europaweit einheitlich
ausgestaltet werden, aber lediglich für diejenigen Mitgliedstaaten
gelten, die sich an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligen.
Doch auch in der
Pioniergruppe ist weiterhin umstritten, in welchen Haushalt die
Einnahmen aus der neuen Steuer letztlich einfließen sollen. Zuletzt
zeigte sich dies in einem kleinen Disput zwischen der niederländischen und der belgischen Regierung:
Nachdem der neu ernannte niederländische Finanzminister vergangenen
Dienstag erklärt hatte, sein Land werde sich der verstärkten
Zusammenarbeit möglicherweise anschließen, aber nur, wenn die
Einnahmen daraus in den nationalen Haushalt gingen, antwortete der
belgische EU-Botschafter, sein Land wolle die Option einer
Eigenmittelreform auf jeden Fall offen halten. Und auch das
Europäische Parlament ist bislang nicht von seiner Position
abgerückt, dass die Reform des Eigenmittelsystems eine zwingende Bedingung für seine Zustimmung zum nächsten mehrjährigen Finanzrahmen ist.
Es ist der Europäischen
Union zu wünschen, dass sich die Reformfraktion zuletzt durchsetzt.
Das derzeitige System, das in erster Linie auf nationalen Beiträgen
beruht, vergiftet die öffentliche Debatte, da es die
Interessengegensätze zwischen den Mitgliedsländern, zwischen
„Nettozahlern“ und „Nettoempfängern“, in den Vordergrund
stellt. Doch die EU dient nicht
einzelnen Staaten, sondern den gemeinsamen Interessen aller
europäischen Bürger. Entsprechend sollte auch ihre Finanzierung so
weit wie möglich von der nationalen Ebene entkoppelt werden und auf
echten Eigenmitteln, das heißt: auf eigenen europäischen Steuern
beruhen. Die EU-Finanztransaktionssteuer, so viele Probleme sie im
Einzelnen auch aufwerfen mag, ist auf jeden Fall ein Schritt in die
richtige Richtung.
PS
In
dem letzten Papier zum mehrjährigen Finanzrahmen, das Ratspräsident
Herman Van Rompuy (CD&V/EVP) vergangene Woche präsentierte, war
der Vorschlag einer Finanztransaktionssteuer als Eigenmittel übrigens vorhanden.
Wenn ich richtig verstanden habe, will Van Rompuy dabei allerdings
für jeden Staat, der sich an der verstärkten Zusammenarbeit
beteiligt, einzeln den Ertrag berechnen, der sich aus der Steuer
ergibt – und diesen Betrag dann von den BNE-Eigenmitteln des
betreffenden Landes abziehen. Diese Lösung soll offenbar ein
Kompromiss zwischen den verschiedenen Positionen sein; sie ist aber
nichts als ein alberner Trick, da die Beiträge ja weiterhin Land
für Land ausgerechnet würden und letztlich nur vom Bruttonationaleinkommen abhängig wären. Dann aber wird sich auch an der öffentlichen
Wahrnehmung und der Nettozahler-Diskussion nichts ändern.
Worum es bei der ganzen Sache geht, ist doch, dass die Einnahmen aus der Finanztransaktionssteuer eben nicht mehr einzelnen Staaten zuzuordnen sein sollen. Wenn überhaupt, müsste man also die Mitgliedstaaten, die sich an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligen, als eine Einheit betrachten und ihre BNE-Eigenmittel jeweils anteilig um den Gesamtbetrag der Einnahmen aus der Finanztransaktionssteuer reduzieren. Aber wie es aussieht, hat der Europäische Rat bis heute nicht so recht begriffen, worin der tiefere Sinn des Kommissionsvorschlags überhaupt besteht.
Worum es bei der ganzen Sache geht, ist doch, dass die Einnahmen aus der Finanztransaktionssteuer eben nicht mehr einzelnen Staaten zuzuordnen sein sollen. Wenn überhaupt, müsste man also die Mitgliedstaaten, die sich an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligen, als eine Einheit betrachten und ihre BNE-Eigenmittel jeweils anteilig um den Gesamtbetrag der Einnahmen aus der Finanztransaktionssteuer reduzieren. Aber wie es aussieht, hat der Europäische Rat bis heute nicht so recht begriffen, worin der tiefere Sinn des Kommissionsvorschlags überhaupt besteht.
Bild: By User:Anameofmyveryown [GFDL or CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons.
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Manuel Müller
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17:56
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Schlagwörter:
Europäische Öffentlichkeit,
Haushalt der Europäischen Union
15 November 2012
Die besseren Eurobonds
- Dass Schuldenmachen schlecht ist, wusste man schon im Mittelalter. Aber vielleicht hat die Volkswirtschaftslehre seitdem auch dazugelernt.
Zu den Dauerbrennern der
europäischen Finanzkrise gehört die Forderung nach Eurobonds, also
nach gemeinsamen Staatsanleihen der Euro-Mitgliedstaaten. Schon seit
2008 sehen ihre Befürworter wie Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) darin
das beste Mittel, um den Zinsdruck auf die Krisenstaaten zu
reduzieren und die gegenwärtige Misere schnell zu überwinden.
Umgekehrt fürchten ihre Gegner wie Angela Merkel (CDU/EVP) kaum
etwas mehr als die Vergemeinschaftung von Anleihen, da dies, so die Angst, die
eskalierende Verschuldung nur weiter antreiben und auch die bislang
stabilen Staaten mit in die Krise ziehen würde. Seit Merkel im
Sommer ankündigte, sie werde keine Eurobonds zulassen, „solange ich lebe“, ist die europaweite Debatte inzwischen weitgehend
zum Stillstand gelangt. Da sich allerdings die SPD (SPE) in den
letzten Monaten immer mal wieder für Eurobonds ausgesprochen hat, könnte sie durch die deutsche
Bundestagswahl 2013 wieder an Dynamik gewinnen.
Gemeint ist dabei mit
„Eurobonds“ in der Regel ein Konstrukt, in dem einzelne
Mitgliedstaaten (bis zu gewissen Grenzen und unter gewissen
Bedingungen) nationale Staatsanleihen herausgeben, für die im Fall
einer Staatspleite auch alle anderen Mitgliedstaaten haften.
Erstaunlich wenig wird hingegen über ein anderes Modell diskutiert,
das eigentlich aus der Perspektive föderaler Staatsorganisation
näherliegend ist und auch in der politischen Debatte schon früher
aufgeworfen wurde. Gemeint ist der Vorschlag einer Anleihe, die nicht
die Mitgliedstaaten, sondern die EU selbst begeben würde. Die
Einnahmen aus dieser Anleihe würden dann in den Haushalt der Union
fließen und könnten zum Beispiel verwendet werden, um nötige
Investitionen und Konjunkturmaßnahmen zu finanzieren, wenn
Mitgliedstaaten dazu aufgrund ihrer eigenen Überschuldung nicht mehr
in der Lage sind. Anders als bei Eurobonds würden also nicht die
nationalen Etats der Mitgliedstaaten gestützt, sondern das
gemeinsame EU-Budget durch Kredite ausgeweitet und damit die
Handlungsfähigkeit der Union bei der Krisenbekämpfung erhöht.
Erstmals wurde der
Vorschlag einer solchen Unionsanleihe im Jahr 2003 vom ehemaligen
Kommissionspräsidenten Jacques Delors (PS/SPE) vorgebracht; 2008 lag
dieses Modell auch Junckers ersten Vorschlägen zugrunde, bevor sich die Diskussion in
Richtung der heute gängigen Eurobond-Konstrukte verlagerte. Aber
wurde hier vielleicht ein guter Gedanke allzu schnell begraben? Der
neue EU-Eigenmittelbeschluss, der voraussichtlich 2013 parallel zum
neuen mehrjährigen Finanzrahmen verabschiedet werden soll, könnte
ein Anlass sein, noch einmal über diese Frage nachzudenken.
Warum (manche)
Schulden sinnvoll sind
Insbesondere
in Deutschland hat sich (nicht erst seit Ausbruch der Krise) in der
öffentlichen Diskussion die Vorstellung verbreitet, dass
Staatsschulden immer auf Kosten künftiger Generationen gingen und
deshalb in allen Ländern eine strenge verfassungsrechtliche Regelung
existieren sollte, die die Aufnahme neuer Schulden möglichst
komplett verbietet. An diesem Maßstab gemessen scheint das
derzeitige europäische System zunächst einmal optimal zu sein: Da
es keine europäischen Anleihen gibt, kann die EU (von wenigen
Ausnahmen abgesehen) auch keine Schulden aufnehmen und beendet ihr
Haushaltsjahr theoretisch immer mit einer schwarzen Null. Durch die
Einführung von Unionsanleihen hingegen würde sich das ändern –
kann man das also überhaupt wollen?
Die Antwort lautet Ja,
denn die Vorstellung, dass Staatsschulden an sich ein Übel wären,
ist ökonomisch schlicht falsch. Eine gute Erklärung dafür bietet
der deutsche Sachverständigenrat zur Begutachtung der
gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Gutachten aus dem Jahr 2007. Zum einen ist die Staatsverschuldung ein
notwendiges Puffer, um kurzfristige Konjunkturschwankungen
auszugleichen. Zum anderen sind öffentliche Schulden auch
langfristig nützlich, wenn sie dazu dienen, öffentliche
Investitionen zu tätigen, die dazu beitragen, das künftige
Bruttoinlandsprodukt zu erhöhen. Entsprechend besagt die „goldene
Regel der Finanzpolitik“ (über die ich in diesem Blog an anderer Stelle schon ausführlicher geschrieben habe), dass die
öffentliche Hand durchaus Kredite aufnehmen sollte – aber eben nur
zur Finanzierung von Investitions-, nicht von Konsumausgaben.
Gleiches gilt
selbstverständlich auch für die Europäische Union. Während
EU-Anleihen zur Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik sicher
keine gute Idee wären, könnten zahlreiche Infrastrukturausgaben,
wie sie etwa die Regionalfonds leisten, durchaus kreditfinanziert
werden. Und natürlich ließen sich dadurch in einer Rezession
europäische Konjunkturmaßnahmen (sagen wir: ein europäisches
Kurzarbeitergeld) finanzieren – vorausgesetzt, die EU baut die
dadurch angehäuften Schulden im nächsten Aufschwung wieder ab.
Ordnungspolitische Vorteile gegenüber
Eurobonds
Für die Stabilität der
Eurozone würde dies entscheidende Vorteile bringen. Bekanntlich ist
die zentrale Schwäche der europäischen Währungsunion ihre
Unfähigkeit, auf asymmetrische Schocks zu reagieren, bei denen manche Mitgliedstaaten härter
betroffen sind als andere: Angesichts der vereinheitlichten
Wechselkurs- und Geldpolitik können solche Krisenländer die
Rezession nur durch höhere Staatsausgaben bekämpfen. Dies
allerdings führt rasch zu einer Eskalation des nationalen
Schuldenstands, wodurch die Bonität des Landes in Gefahr gerät und
die Staaten für ihre Anleihen immer höhere Zinsen zahlen müssen –
siehe Portugal, Irland oder Spanien. Für die EU als Ganzes wäre es
hingegen kein Problem, die entsprechenden Konjunkturausgaben zu
finanzieren, denn gerade bei einem asymmetrischen Schock gibt es ja
immer auch Mitgliedstaaten, die sich weiterhin in einer
wirtschaftlich guten Lage befinden. Die Bonität von Unionsanleihen
würde deshalb bei einer asymmetrischen Krise nicht gefährdet, so
wie auch die Bonität der USA nicht darunter leidet, wenn einzelne
ihrer Staaten in die Rezession geraten.
Ein ganz ähnlicher
Mechanismus liegt auch den gängigen Eurobonds-Vorschlägen zugrunde:
Auch diese sollen Schuldenkrisen bei asymmetrischen Schocks
verhindern, indem sie die Bonität aller Mitgliedstaaten
vergemeinschaften. Der wesentliche Unterschied liegt jedoch in der
Frage, wer über die Verwendung der Finanzmittel bestimmt, die durch
die Anleihen aufgetrieben werden: Im Falle der Eurobonds wären dies
die einzelnen Mitgliedstaaten, bei einer Unionsanleihe hingegen die
EU als Ganzes. Eurobonds wären deshalb immer mit einem moral
hazard verbunden, also einem
Missbrauchsrisiko, das sich daraus ergäbe, dass ein Land allein über
die Verwendung von Krediten entscheiden würde, für die alle übrigen
Mitgliedstaaten mit haften. Bei Unionsanleihen hingegen würde dies
vermieden: Ob eine bestimmte Investition oder Konjunkturmaßnahme
sinnvoll ist oder nicht, würden in diesem Fall nicht die nationalen
Regierungen und Parlamente der Krisenländer entscheiden, sondern die
europäischen Haushaltsorgane, also das Europäische Parlament und
der Ministerrat.
Demokratische Vorteile gegenüber
dem ESM
In
der Wirklichkeit nun hat sich der Europäische Rat in den letzten
Monaten bekanntlich weder für Eurobonds noch für Unionsanleihen
entschieden, sondern für ein drittes Modell der
Schuldenvergemeinschaftung: den Europäischen Stabilitätsmechanismus
(ESM). Wie ich bereits vor einigen Monaten geschrieben habe, erfüllt
dieser in gewisser Weise die Aufgabe eines europäischen Schattenhaushalts. Und tatsächlich
zeigen sich in seiner Funktionsweise gewisse Parallelen zu dem Modell
der Unionsanleihen: Insbesondere begibt der ESM (auf der Grundlage
seines Stammkapitals von 700 Milliarden Euro) eigene Anleihen, um mit
dem dadurch eingenommenen Geld notwendige Staatsausgaben in
Krisenländern zu finanzieren. Diese Finanzierung erfolgt allerdings
nicht direkt, sondern über die nationalen Haushalte der betroffenen
Staaten, an die der ESM Kredite vergibt. Im Gegenzug müssen die
Krisenländer zur Vermeidung von moral hazard in sogenannte memoranda of understanding einwilligen, die ihnen strikte Reformprogramme vorschreiben – womit
sie de facto einen Großteil ihrer wirtschaftspolitischen Souveränität
an den ESM abgeben.
Auch
der ESM hat jedoch wesentliche Nachteile, die eine direkte
Finanzierung von Konjunkturmaßnahmen über Unionsanleihen nicht
hätte. Dies betrifft vor allem die demokratische Legitimation:
Während über den Haushalt der EU das Europäische Parlament sowie
der Ministerrat gemeinsam entscheiden, setzen sich die wichtigsten
Gremien des ESM allein aus den nationalen Regierungen zusammen. Auch
wenn zahlreiche Länder (darunter Deutschland) eine verpflichtende
Zustimmung des nationalen Parlaments zu allen ESM-Entscheidungen
vorsehen, können die Abgeordneten hier kaum Gestaltungsmacht ausüben. Welche wirtschaftspolitischen
Strategien der ESM in den Krisenländern verfolgt, wird in erster
Linie von den Regierungen ausgehandelt – und ist deshalb stark von
den diplomatischen Machtverhältnissen zwischen den Mitgliedstaaten
abhängig.
Dies
wiederum führt zu einem zweiten Nachteil des ESM: der geringen
sozialen Akzeptanz, auf die seine Politik in den Krisenstaaten stößt.
Seine memoranda of understanding gelten
oft als ein Mittel der Fremdherrschaft, da sie der nationalen
Haushaltspolitik kaum Spielräume lassen – und die Bürger zugleich
so gut wie keine Möglichkeit haben, durch politische Wahlen auf die
Inhalte der memoranda Einfluss zu nehmen. Eine Finanzierung über Unionsanleihen und den EU-Haushalt würde hier einen doppelten Vorteil bieten: Zum einen würde sich das
Problem eines moral hazard hier von Anfang an nicht stellen, sodass auch keine so gravierenden Eingriffe in die nationalen Haushaltspolitiken notwendig wären. Und
zum anderen hätten alle Bürger die Möglichkeit, durch ihre Stimme
bei der Europawahl die Entwicklung der europäischen Haushaltspolitik
unmittelbar zu beeinflussen, denn schließlich hat das Europäische
Parlament hier ein Mitentscheidungsrecht. Egal, ob man zuletzt
Austerität oder Keynesianismus wählt – die Legitimität
wirtschaftspolitischer Entscheidungen ist immer höher, wenn die Bürger selbst dabei mitreden durften.
Warum es keine
Unionsanleihen gibt
Viel
würde also für Unionsanleihen sprechen. Mehr noch: Vergleicht man
die EU mit anderen föderalen Systemen wie den USA oder der
Bundesrepublik Deutschland, wo Konjunkturschocks ebenfalls jeweils
durch den Haushalt der höchsten föderalen Ebene abgefedert werden,
so sind Unionsanleihen eigentlich die nächstliegende Lösung.
Dennoch kommen sie in der politischen Debatte kaum vor. Woran liegt
das?
Ein
Grund sind sicher die institutionellen Interessen der nationalen
Regierungen, ohne deren Zustimmung die Einführung von Unionsanleihen
nicht möglich wäre. Wenn die EU Kredite aufnehmen könnte, so würde
dies zu einer Ausweitung ihres Haushaltsvolumens führen und
letztlich den supranationalen Institutionen mehr finanziellen
Einfluss geben. Insbesondere das Europäische Parlament als
Haushaltsorgan würde dadurch an Macht gewinnen. Eine Konstruktion
wie der ESM hingegen bündelt lediglich die wirtschaftliche Macht der
Regierungen und ist für diese deshalb eher akzeptabel, auch wenn das
auf Kosten der demokratischen Qualität des europäischen politischen
Systems geht.
Noch
wichtiger jedoch ist ein anderer Grund: Wollte man nämlich unter den
jetzigen Bedingungen Unionsanleihen einführen, so wäre es
zweifelhaft, ob die Europäische Union auch nur ansatzweise an die
Bonität ihrer reichsten Mitgliedstaaten herankäme. Denn zum einen
ist der Haushalt der Union erschreckend klein – ihr jährlicher
Etat beträgt kaum ein Fünftel des Stammkapitals des ESM. Und zum
anderen hat das Europäische Parlament auch keine Möglichkeit,
dieses Budget kurzfristig auszuweiten, wie das nationale Parlamente
mithilfe von Steuererhöhungen tun könnten – denn die EU hat kein
eigenes Besteuerungsrecht, und die Höhe ihres Etats muss jeweils in
mühevollen Verhandlungen zwischen dem Europäischen Parlament und
den nationalen Regierungen festgelegt werden. Erst vor wenigen Tagen
sind die entsprechenden Gespräche über den Nachtragshaushalt für 2013 geplatzt, da die
Regierungen sich einer Erhöhung des Etats um neun Milliarden Euro
widersetzten. Ernsthaft: Welcher Investor würde einer politischen
Institution Geld leihen wollen, die so einfach in die finanzielle
Handlungsunfähigkeit abgleitet?
Die
ordnungspolitisch und demokratisch beste Lösung für die Eurokrise
bestünde in der Einführung von Unionsanleihen, um daraus
Konjunkturmaßnahmen finanzieren zu können, mit denen sich asymmetrische Schocks abfedern lassen. Doch dafür müssten wir erst einmal den Haushalt der
Europäischen Union selbst reformieren, indem wir ihr ein eigenes
Besteuerungsrecht übertragen und zugleich die Mitspracherechte der
nationalen Regierungen in der europäischen Budgetpolitik
einschränken. Und wenn wir dafür ein neues deutsches Grundgesetz benötigen, dann soll es uns willkommen
sein: Besser als die halbherzigen bisherigen Lösungsansätze wäre es
allemal!
Bild: By Polylerus at en.wikipedia (Transferred from en.wikipedia) [Public domain], from Wikimedia Commons.
Eingestellt von
Manuel Müller
um
17:55
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Schlagwörter:
Eurobonds,
Eurokrise,
Haushalt der Europäischen Union,
Vertragsreform
05 November 2012
Die Jungen Europäischen Föderalisten und die außereuropäische Welt
Vor
zwei Wochen habe ich hier über die Europa-Union Deutschland geschrieben, die
sich anschickte, ein neues Grundsatzprogramm zu verabschieden. Am 28.
Oktober war es so weit, und inzwischen ist das Papier auch online zu finden. Inhaltlich entspricht es ungefähr dem
Erwartbaren; unter den zahlreichen Titelvorschlägen hat sich zuletzt
die Version „Die
europäische Einigung im 21. Jahrhundert: Unser
Ziel ist der europäische Bundesstaat“ durchgesetzt. Doch
nicht nur die Europa-Union, sondern auch ihre Jugendorganisation ist
gerade dabei, sich ein neues Programm zu geben. Die deutsche Sektion
der Jungen Europäischen Föderalisten (JEF) zählt rund 3.500 Mitglieder – europaweit sind es etwa
15.000 – und damit nur ein Fünftel der Europa-Union. Wenigstens in der Öffentlichkeit ist sie
jedoch der deutlich aktivere Teil. Und auch inhaltlich bietet ihr neues Grundsatzprogramm, das am nächsten Sonntag auf einem
Kongress in Saarbrücken verabschiedet werden soll, mehr
Angriffsfläche. Während die Europa-Union zum
großen Teil feierliche Selbstverständlichkeiten verkündete,
entwickeln die JEF auf nicht weniger als dreizehn Seiten eine recht
detaillierte Agenda. Vieles davon ist ganz großartig – etwas ins Schlingern aber geraten die Jungen Europäischen Föderalisten, wo es um die Welt jenseits der europäischen Grenzen geht.
Neues
Grundsatzprogramm
Fangen wir mit den Vorzügen an. Ähnlich
wie die Europa-Union fordern die JEF, dass Unionsbürger auch bei
nationalen Wahlen im Land ihres Wohnsitzes wählen dürfen, dass das
Europäische Parlament ein eigenes Besteuerungsrecht erhält und dass
die Außenpolitik zur allein europäischen Kompetenz wird. Zu den
weiteren Vorschlägen gehören die Vereinheitlichung des
Europawahlrechts sowie eine Reform der Kommission, die künftig
allein vom Europäischen Parlament gewählt und deren Größe
„sachorientiert“ statt durch die Anzahl der Mitgliedstaaten
festgelegt würde. Außerdem soll die Sozialpolitik der
Mitgliedstaaten „dort wo notwendig“ harmonisiert werden; und um
„ausgleichende und gestaltende Maßnahmen“ im gemeinsamen
Binnenmarkt durchzuführen, soll die europäische Ebene „erhebliche
eigene Mittel“ erhalten. Das
Beste aber findet sich etwas versteckt: Unter dem Stichpunkt
„Erweiterung“ erklären die JEF, „dass
eine weitere Vertiefung der Union zunehmend schwerer realisiert
werden kann, wenn die ohnehin schon große Zahl der Mitgliedsstaaten
weiter anwächst, ohne dass gleichzeitig das Einstimmigkeitsprinzip
bei Vertragsänderungen entfällt“.
Chapeau, wenn das nicht nur eine leere Floskel ist! Vertragsreformen ohne Veto wären ein Ziel, das manchen Einsatz
lohnen würde.
Angesichts
dessen scheinen auch die kleineren Schwächen des Programmentwurfs
verzeihlich: So wollen die JEF etwa die Unterschiede bei der
Stimmgewichtung im Rat verringern, bei der „bisher“ jeder Staat
„zwischen 3 und 39 Stimmen“ erhält – obwohl letztere Regelung
bereits durch den Vertrag von Lissabon mit Wirkung ab 2014
abgeschafft wurde. Und wenn die JEF als „Voraussetzung für die
Abgabe von Kompetenzen an einen obersten Europäischen Gerichtshof“
die „Sicherstellung eines äquivalenten Grundrechtsschutzes, wie
ihn derzeit das Bundesverfassungsgericht garantiert“, fordern, dann
ist das insofern verwunderlich, als das BVerfG selbst genau diese
Forderung längst für erfüllt hält – und zwar bereits seit
seinem Solange-II-Beschluss
von 1986.
Weltföderalismus
Aber
noch ist der Programmentwurf nicht verabschiedet; auf dem Kongress
am Wochenende sollen noch einige offene Fragen geklärt werden. Wie
der JEF-Vorsitzende Lars Becker vor einem Monat in
seinem Blog zusammenfasste, geht es dabei vor allem um vier
Kontroversen: Erstens sind sich die JEF uneinig darüber, ob es
europaweite Volksentscheide geben sollte. Zweitens scheint nicht so
ganz klar zu sein, ob die Idee, die EU in „Vereinigte Staaten von
Europa“ umzubenennen, ein Zeichen visionärer Kraft oder nur
utopischer Realitätsfremdheit ist. (Ich persönlich habe eher letzteren Eindruck. Und warum dem Programmentwurf zufolge die
Kommission künftig „Regierung“ und der Rat „Staatenvertretung“
heißen soll, erschließt sich mir, ehrlich gesagt, ebenfalls nicht
so ganz.) Drittens ist, wie so oft, das Verhältnis zwischen
Vertiefung und Erweiterung umstritten. Und viertens diskutieren die
JEF über die Rolle des Weltföderalismus – und hier wird es besonders interessant.
Im
Einzelnen verkündet der Programmentwurf zu diesem Thema, der
Föderalismus müsse als „ein sinnvolles politisches Ordnungssystem
auf allen politischen Ebenen“ auch weltweit angewandt werden, wenn
auch nur für „die wichtigsten globalen Probleme“, insbesondere
die Sicherheitspolitik, den Umweltschutz und die
Finanzmarktregulierung. Dafür sollen „[l]angfristig“ die
Vereinten Nationen in einen „Staatenverbund
mit einem Weltparlament“ umgewandelt werden. Außerdem wollen die
JEF die globale Rechtsstaatlichkeit stärken, wobei im Programm jedoch nur vom Internationalen Strafgerichtshof die Rede ist, nicht von einem
globalen Verfassungsgericht, wie es der tunesische Präsident kürzlich vorgeschlagen hat. Erstaunlich
inkonsequent wird es dann allerdings bei der globalen Exekutive: Eine
demokratisch legitimierte „Weltregierung
mit einem Weltpräsidenten“ ist dem Entwurf zufolge unnötig –
stattdessen soll nur der UN-Sicherheitsrat ein bisschen überarbeitet
und „fairer“ gestaltet werden.
„Hegemonialer
Anspruch“ Europas?
Was
unter den JEF für Kontroversen gesorgt hat, ist allerdings
anscheinend nicht so sehr dieser schlecht begründete Verzicht
darauf, die Prinzipien supranationaler Demokratie auch für die
globale Ebene konsequent auszubuchstabieren. Stattdessen wurde Lars
zufolge kritisiert, dass der Weltföderalismus den „Ausdruck eines
‚hegemonialen‘ Anspruchs“ darstelle, „da nicht geklärt sei,
ob der Föderalismus als universelles Prinzip auch über Europa
hinaus sinnvoll sei“. Anders formuliert: Sollen die Europäer, die
seit dem Ende des Mittelalters jahrhundertelang gewaltsam die übrigen
Kontinente erobert und kolonisiert haben, jetzt schon wieder
versuchen, dem Rest der Welt ihr politisches Modell aufzudrängen?
Liest
man die entsprechenden Passagen im Programmentwurf der JEF
aufmerksam, so scheint es tatsächlich bisweilen, als ob die Welt am
europäischen Wesen genesen solle. Europa,
so heißt es da, solle „Inspiration und Vorbild für weitere
regionale Integrationsprojekte sein“, einen „prototypischen
Charakter“ haben und „auch auf globaler Ebene dabei helfen,
zivilisierte und faire Antworten auf globale Probleme zu finden“.
Kurz: Die „Globalisierung politisch zu gestalten“ müsse ein
„zentrales
europäisches Projekt werden“. Doch verbirgt sich hinter diesen Ideen
wirklich ein versteckter
hegemonialer Anspruch? Ich denke, das Problem ist ein
anderes: Was an dem Programmentwurf so schief klingt, ist, dass er
Konzepte einer europäischen Außen- und einer globalen Innenpolitik
miteinander vermengt.
Föderalismus
ist eine verfassungspolitische
Überzeugung, die an keine geografischen Grenzen gebunden ist. Die Europäer haben darauf auch kein Patent, im
Gegenteil: Die Federalist
Papers
wurden bekanntlich von Amerikanern geschrieben, in einer Zeit, als
man in Europa noch über die Legitimität der absoluten Monarchie
nachdachte. Auch Befürworter einer globalen Demokratie wird man
in allen Teilen der Welt finden. Und Postkolonialismus hin oder her: Es spricht überhaupt nichts
dagegen, sich mit diesen anderen zusammenzutun, um als
föderalistisch gesinnte Weltbürger gemeinsam
das globale politische System umzugestalten.
Doch
das politische Subjekt, an das sich der JEF-Programmentwurf wendet,
sind nicht die föderalistischen Weltbürger, sondern die europäischen Außenpolitiker.
In der Kurzfassung des Programms heißt es unmittelbar hinter dem
Stichwort „Weltföderalismus“, dass Europa durch ein
einheitliches Auftreten auf der internationalen Bühne „politische
Interessen wirksamer […] vertreten“ könne; und auch später ist
es die EU, die als
Vorbild für andere Staatenverbünde fungieren, die
„Herausbildung weiterer regionaler Integrationsprojekte
unterstützen“
und die „Globalisierung politisch […] gestalten“ soll. Mit
diesen Bezügen auf eine europäische Außenpolitik aber entsteht ein
gedanklicher Gegensatz zwischen dem europäischen Wir
und
dem außereuropäischen Anderen
–
genau das also, was das Konzept eines kosmopolitischen Föderalismus
doch eigentlich überwinden sollte. Es ist deshalb zu hoffen, dass
die JEF an diesem Punkt noch nachbessern: Nicht Europa
oder die Europäer haben ein Interesse am Weltföderalismus, sondern
all jene Bürger, die, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem
Wohnort, das globale System der Zukunft demokratisch ausgestalten
wollen.
Wem
hat Migration zu nutzen?
Und
wenn wir schon dabei sind: Noch an einer anderen Stelle zeugt der
Programmentwurf von einem eklatanten Mangel an Kosmopolitismus.
Gemeint ist die Passage zur Einwanderungspolitik, wo zunächst völlig
zu Recht eine solidarische Asylpolitik und eine Abschaffung der
Dublin-II-Verordnung gefordert wird. Dann aber heißt es dort:
Migrationspolitik unterscheidet sich grundsätzlich von Asylpolitik dadurch, dass hier von nicht erzwungener Migration ausgegangen wird. Die europäische Migrationspolitik sollte sich deshalb an den Interessen der Union orientieren.
Mit
Verlaub: Wenn man dieses Argument akzeptiert, müsste man auch die
innereuropäische Freizügigkeit abschaffen, die doch zu den
wichtigsten Errungenschaften der Europäischen Union gehört! Wenn
heute ein Tscheche nach Portugal oder ein Malteser nach Schweden zieht,
dann ist das ebenfalls „nicht erzwungene Migration“. Dennoch
dürfen Portugal und Schweden die Einwanderung dieser anderen
Unionsbürger nicht aus Gründen ihres nationalen Interesses
verbieten, mehr noch: innerhalb des Schengen-Raums dürfen sie die
Einwanderer nicht einmal an der Landesgrenze kontrollieren. Und sind nicht
die JEF vor wenig mehr als einem Jahr genau für diese Reisefreiheit an der deutsch-dänischen Grenze demonstrieren gewesen?
Will
man nun nicht für Europäer und Außereuropäer zwei
unterschiedliche Maßstäbe anlegen, so kann man Letzteren nicht
grundsätzlich verwehren, was man bei Ersteren als ein elementares Grundrecht betrachtet. Aus föderalistischer (oder sagen wir besser:
aus humanistischer) Sicht kann das Fernziel nichts anderes als die
weltweite persönliche Freizügigkeit aller Menschen sein.
Pragmatische Gründe mögen Restriktionen heute noch notwendig machen
– angesichts des Wohlstandsgefälles zwischen der EU und einem
Großteil des Restes der Welt würde eine völlige Liberalisierung
der europäischen Einwanderungspolitik wohl so große
Migrationsströme auslösen, dass das soziale Gefüge sowohl in
Europa als auch in den Auswanderungsländern in Gefahr geriete. Aber
daraus entsteht zunächst einmal vor allem eine Verpflichtung, durch
wirtschaftliche Zusammenarbeit dieses Wohlstandsgefälle abzubauen,
um dann so bald wie möglich eben doch eine Grenzöffnung zu ermöglichen. Eine Festung Europa, die Einwanderer immer nur dann
zulässt, wenn sie darin einen Nutzen für ihre eigenen Interessen sieht, wäre hingegen kein
Ausdruck eines supranationalen Föderalismus, sondern eines
europäisch gewendeten Nationalismus. Und darauf können wir wirklich
verzichten.
Kontroverse
Diskussionen
Die
Jungen Europäischen Föderalisten, so heißt es in dem
Grundsatzprogramm, „zeichnen
sich durch eine freundschaftliche politische
Streitkultur aus,
die von gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Achtung geprägt ist.
[…] Kontroverse Diskussionen sind sind
bei uns kein Tabu. Sie sind sogar erwünscht
[…]“.
Es
ist dem neuen Programmentwurf zu wünschen, dass vor seiner
Verabschiedung am Wochenende noch die ein oder andere kontroverse
Diskussion darüber stattfindet. Zunächst einmal aber ist es bereits
ein Verdienst, dass er umstrittenen Fragen nicht aus
dem Weg geht, sondern auch hier eine Positionierung
anstrebt und Langzeitperspektiven zu formulieren versucht. Zu viel politischer Mut hat der europäischen Integration bis jetzt jedenfalls noch niemals geschadet.
Bild: jef.europe [CC-BY-NC-2.0], via Flickr.
Eingestellt von
Manuel Müller
um
12:27
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Schlagwörter:
Europabewegung,
Gemeinsame Außenpolitik,
Grenzen und Freizügigkeit,
Weltinnenpolitik
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