29 November 2012

Podiumsdiskussion: Weltföderalismus als Friedensprojekt

Vor einigen Wochen habe ich hier die Jungen Europäischen Föderalisten dafür kritisiert, wie im Entwurf ihres Grundsatzprogramms mit der außereuropäischen Welt umgegangen wurde – und nun haben sie mich prompt zu einer Podiumsdiskussion zu diesem Thema eingeladen. Am kommenden Freitag, 7. Dezember, spreche ich mit Lars Becker, Präsidiumsmitglied der Europa-Union Deutschland, und Andreas Bummel, Vorsitzender des „Komitees für eine demokratische UNO“, über Weltföderalismus als Friedensprojekt. Die Veranstaltung findet ab 19 Uhr in der Galerie im Innenhof der Sophienstraße 28/29 in Berlin-Mitte statt; sie ist öffentlich, der Eintritt ist frei, und im Anschluss gibt es Häppchen. Also herzlich willkommen!

24 November 2012

Borgen und Tonio Borg: Wie ein EU-Kommissar gewählt wird

Der Chefredakteur: Redet über die EU in eurer Freizeit, aber lesen will das keiner. Das ist total langweilig, kompliziert und unsexy.
Die Politikredakteurin: Kompliziert? Das ist nicht die Bohne kompliziert. Die Premierministerin ernennt einen EU-Kommissar, ganz einfach.
Der Chefredakteur: Kein Däne weiß, was diese Kommission wirklich macht. […] Die Leute interessiert nur, was dort verdient wird und ob einer in die Kasse gegriffen hat.
Die Politikredakteurin: Nein, also wirklich! Der EU-Kommissar-Posten ist Dänemarks Stimme in Europa!
Borgen“, Staffel 2, Folge 2
Es ist nur ein Zufall, dass Tonio Borg (PN/EVP) so ähnlich heißt wie eine dänische Politserie.
Es kommt nicht häufig vor, dass in einer Fernsehserie von der Europäischen Kommission die Rede ist, aber die sehenswerte dänische Politikserie Borgen, deren zweite Staffel gerade auf Arte angelaufen ist, machte diese Woche eine Ausnahme. In der Folge „Wer wird EU-Kommissar?“ geht es um die Ernennung des neuen dänischen Kommissionsmitglieds, die der fiktionalen Premierministerin Birgitte Nyborg zu schaffen macht. Ausgestrahlt wurde die Sendung passenderweise nur einen Tag, nachdem am Mittwochvormittag tatsächlich über die Ernennung eines neuen EU-Kommissars abgestimmt wurde – allerdings nicht aus Dänemark, sondern aus Malta. In einer hart umkämpften Abstimmung akzeptierte das Europäische Parlament den umstrittenen Christdemokraten Tonio Borg (PN/EVP) als neues Mitglied der Kommission.

Nun ist die Ernennung eines Kommissionsmitglieds keine Kleinigkeit. Als die „Regierung“ der EU, die zudem das alleinige Initiativrecht bei der Gesetzgebung besitzt, kann die Kommission im Guten wie im Schlechten entscheidenden Einfluss auf die europäische Politik nehmen. Obwohl sie nach einem strikten Nationalproporz besetzt ist (ein Kommissar pro Land), sind ihre Mitglieder nach Art. 17 EU-Vertrag ausschließlich den „allgemeinen Interessen der Union“ verpflichtet. Ausgewählt werden sie „aufgrund ihrer allgemeinen Befähigung und ihres Einsatzes für Europa unter Persönlichkeiten […], die volle Gewähr für ihre Unabhängigkeit bieten“. So weit jedenfalls die verfassungsrechtliche Theorie. Wie aber sieht die Praxis dieses Auswahlprozesses aus? Und welche Folgen hat das für die demokratische Legitimation und das öffentliche Ansehen der Kommissare?

Borgen: Parteifreunde werden nach Brüssel weggelobt

In der fiktionalen Welt von Borgen spielt die allgemeine Befähigung der Kandidaten jedenfalls von Anfang an nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr geht es bei der Auswahl des dänischen Kommissars vor allem um eine parteiinterne Intrige: Die Premierministerin muss sich zwischen einem alten, inzwischen etwas unbequem gewordenen Weggefährten und einem schmierigen, karrieresüchtigen Europaminister entscheiden. Einigkeit besteht darüber, dass man einen so wichtigen Posten nicht einfach dem Koalitionspartner überlassen kann. Wirklich haben will ihn aber auch keiner der Kandidaten, denn, wie ein Berater der Premierministerin nach wenigen Minuten feststellt, „in Brüssel hört dich keiner schreien“. Die Ernennung der EU-Kommission dient aus Sicht der nationalen Regierungen vor allem dazu, unliebsame Parteifreunde wegzuloben: Der deutsche Zuschauer erinnert sich an die Wahl von Günther Oettinger (CDU/EVP) vor drei Jahren und nickt verstehend.

Wie aber steht es mit dem europäischen Gemeinwohl? Sollten bei der Auswahl nicht auch die Bürger der übrigen Staaten ein Wörtchen mitzureden haben? Tatsächlich sind es dem EU-Vertrag zufolge keineswegs die nationalen Regierungen allein, die den Kommissar aus ihrem Land ernennen. Vielmehr machen diese nach Art. 17 Abs. 7 EU-Vertrag lediglich „Vorschläge“, auf deren Grundlage dann der Ministerrat „im Einvernehmen mit dem gewählten [Kommissions-]Präsidenten“ eine Liste mit Nominierten zusammenstellt. Durchaus realistischerweise macht Borgen jedoch keinen Hehl daraus, dass dieses Prozedere in der Praxis weitgehend bedeutungslos ist. Zwar ruft der neu gewählte Kommissionspräsident im Verlauf der Folge mehrmals an, um die dänische Premierministerin zu einer Entscheidung zu drängen. Echten Einfluss aber übt er nur auf die Ressortverteilung aus: Falls die Dänen sich dazu herablassen, einen kompetenten Kandidaten zu benennen, so könnte dieser ein wichtiges Amt übernehmen; falls sie hingegen einen Anfänger schicken, wird er nur Kommissar für Mehrsprachigkeit.

Und das Europäische Parlament, ohne dessen Zustimmungsvotum die neue Kommission nicht ins Amt kommt? Das wird bei Borgen zunächst einmal überhaupt nicht erwähnt und spielt auch keine Rolle für die Entscheidung der Regierung. Jedenfalls beinahe: Als nämlich der mit großer Mühe endlich gefundene Kandidat in Minute 40 der Folge davon erfährt, dass er sich in der kommenden Woche in einer sechs- bis siebenstündigen Anhörung den Fragen der Europaabgeordneten unterziehen soll, da erleidet er (ja, wirklich!) einen Schlaganfall und fällt für den Rest der Sendung aus. Welch bitteres Symbol: So viel europäische Demokratie übersteigt offenbar die Kräfte bei den Protagonisten einer dänischen Politserie.

Tonio Borg: Landsleuten fällt man nicht in den Rücken

Etwas besser ging die Sache für den real existierenden Tonio Borg aus, der seine Anhörung erfolgreich überstand und am Mittwoch vom Europäischen Parlament als neues Kommissionsmitglied bestätigt wurde. Was aber das Verhältnis von nationalem und europäischem Interesse betrifft, so war sein Fall kaum weniger lehrreich als derjenige des fiktionalen Dänen.

Tonio Borg gehört zum rechtskatholischen Flügel der maltesischen Regierungspartei PN (EVP) und war seit 1998 erst Innen-, dann seit 2008 Außenminister von Malta. Nachdem sein Parteifreund John Dalli vor einigen Wochen wegen einer Korruptionsaffäre als EU-Gesundheitskommissar hatte zurücktreten müssen, wurde er von der maltesischen Regierung recht schnell zu dessen Nachfolger auserkoren. Dann allerdings wurden Vorwürfe laut, dass Borg in der Vergangenheit nicht nur durch homophobe Äußerungen aufgefallen war, sondern auch zugelassen hatte, dass ein international gesuchter kasachischer Ex-Politiker ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Malta erhielt. Außerdem hatte er in seiner Zeit als Innenminister die Abschiebung von zweihundert eritreischen Flüchtlingen zu verantworten, von denen mehrere anschließend in ihrem Herkunftsland verhaftet und gefoltert wurden. Die Fraktionen der Linken (GUE/NGL), Liberalen (ALDE) und Grünen (G/EFA) kündigten deshalb an, sie würden Borgs Ernennung im Europäischen Parlament ablehnen. Nur die Christdemokraten (EVP), Rechtskonservativen (ECR) und Europaskeptiker (EFD) sprachen ihm weiterhin ihre Unterstützung aus.

Da dies jedoch für eine Mehrheit noch nicht ganz genügte, kam es entscheidend auf die Abgeordneten der sozialdemokratischen Fraktion S&D an. Von diesen sprach sich in einer fraktionsinternen Abstimmung eine Mehrheit gegen Borg aus – die vier Abgeordneten der Malta Labour Party aber stemmten sich massiv gegen diese Haltung ihrer Parteigenossen. Offenbar wollten sich die maltesischen Sozialdemokraten, die den Umfragen zufolge bei den nationalen Wahlen in einem halben Jahr die PN an der Regierung ablösen werden, nicht dem Vorwurf aussetzen, einem Landsmann in den Rücken zu fallen. Die Malta Times jedenfalls zitierte den MLP-Abgeordneten Edward Scicluna mit der Aussage, für ihn „als Malteser“ sei die S&D-Kritik an Borg eine „erniedrigende Erfahrung“ gewesen. Am Ende wurde Borg in geheimer Wahl mit 386 zu 281 Stimmen bestätigt, was auf mindestens 30 bis 60 Unterstützer aus der S&D-Fraktion hindeutet. Und während deutsche Christdemokraten in diesem Votum eine „schallende Ohrfeige für Linke und Liberale“ sahen, wurde es in den Online-Leserkommentaren der Malta Times als großer nationaler Erfolg gefeiert.

Spitzenkandidaten für Europawahlen

Dass die Europäische Kommission ein bürgerfernes und wenig demokratisches Organ sei, gehört zum Standardrepertoire der EU-Kritik. Betrachtet man die Ernennung der neuen Kommissare, wie sie diese Woche im Fernsehen und in Wirklichkeit zu sehen war, so ist diesem Vorwurf in einer Hinsicht ohne Zweifel Recht zu geben: Es kann nicht angehen, dass die Mitglieder eines Gremiums, das dem Wohlergehen aller Europäer verpflichtet sein soll, nach einem Verfahren gewählt werden, welches so sehr die nationalen Interessen in den Vordergrund stellt. Solange die Mehrheit der europäischen Öffentlichkeit so wie die Politikredakteurin des fiktionalen Boulevardblattes aus Borgen den Posten eines EU-Kommissars als „Dänemarks Stimme in Europa“ sieht, wird die Kommission kaum als ein Organ supranationaler Demokratie wahrgenommen werden. Und solange die Bürger nicht den Eindruck bekommen, dass die Zusammensetzung der Kommission auf eine politische Wahl zurückgeht, bei der sie selbst mit ihrer Stimme Einfluss ausüben können, wird sie an der europäischen Exekutive auch in Zukunft nur interessieren, was dort verdient wird und ob einer in die Kasse gegriffen hat.

Wenn die politische Legitimation der Kommissionsmitglieder verbessert werden soll, so muss bei ihrer Ernennung künftig also nicht mehr die nationale Herkunft, sondern die parteipolitische Ausrichtung im Vordergrund stehen. Es ist bedauerlich genug, dass die irische Regierung 2008 (nach dem gescheiterten ersten Referendum über den Vertrag von Lissabon) durchsetzte, dass auch in Zukunft immer genau ein Kommissar aus jedem Mitgliedstaat stammen muss. Umso wichtiger ist es, ihre Wahl nicht primär den nationalen Regierungen zu überlassen, sondern die Fraktionen des Europäischen Parlaments in den Mittelpunkt des Verfahrens zu stellen.

Ein erster Schritt in diese Richtung wurde bereits getan: In den letzten Monaten haben die großen europäischen Parteien – die sozialdemokratische SPE und die christdemokratische EVP – beschlossen, vor der nächsten Europawahl 2014 europaweite Spitzenkandidaten zu benennen. Der Kandidat der stärksten Fraktion soll dann vom Europäischen Rat (der gemäß Art. 17 Abs. 7 EU-Vertrag das Ergebnis der Europawahl „berücksichtigen“ muss) als Kommissionspräsident vorschlagen werden. Wenigstens das wichtigste Amt der Kommission würde also nicht nach nationalen Kriterien, sondern entsprechend dem Votum der europäischen Wähler für die eine oder andere Partei vergeben werden. Gerade an diesem Freitag hat das Europäische Parlament dieses Vorhaben noch einmal durch eine Resolution bestätigt (hier der Wortlaut), die der Blogger Protesilaos Stavrou völlig zu Recht als „bold step towards European democracy“ bezeichnet hat.

Europäische Schattenkabinette

Klar ist allerdings auch, dass es hierbei nicht bleiben kann. Denn der Kommissionspräsident hat zwar nach Art. 248 AEU-Vertrag eine Richtlinienkompetenz, doch zuletzt werden sämtliche Beschlüsse des Gremiums gemäß Art. 250 AEU-Vertrag von allen Kommissaren gemeinsam in einem Mehrheitsentscheid getroffen. Auf die Dauer wird es deshalb nicht genügen, wenn nur der Präsident nach seiner parteipolitischen Zugehörigkeit gewählt wird. Auch die Ernennung der übrigen Mitglieder darf nicht der nationalen Politik ihrer jeweiligen Länder überlassen bleiben.

Eine Lösung hierfür könnte darin bestehen, dass vor der Europawahl nicht nur jede europäische Partei einen Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten ernennt, sondern diese auch mit einer Art Schattenkabinett ausstattet: mit Kandidaten für die einzelnen Ressorts, die innerhalb der Kommission zu vergeben sind. Gemäß den Vertragsbestimmungen müsste dabei natürlich aus jedem Mitgliedstaat genau ein Kandidat stammen; doch die Auswahl dieser Kandidaten wäre eben nicht mehr Sache der nationalen Regierungen, sondern der europäischen Parteien, die sich bei der Europawahl dem Votum der Bürger stellen. Nach den Wahlen müsste dann eine Koalition von Parteien, die zusammen eine Mehrheit im Europäischen Parlament besitzen, aus ihren jeweiligen Schattenkabinetten eine gemeinsame Kandidatenliste erstellen und diese den nationalen Regierungen vorlegen versehen mit einem Hinweis, dass das Parlament keinem Vorschlag zustimmen wird, der nicht dieser Liste entspricht. Und natürlich würde auch im Fall des überraschenden Rücktritts eines Kommissionsmitglieds der Nachfolger zunächst zwischen den Koalitionsfraktionen abgesprochen, bevor die nationale Regierung einen Kandidaten nominiert.

Vermutlich würde ein solches Vorgehen der europäischen Parteien zunächst einmal zu einer institutionellen Krise zwischen dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat führen. Aber wenn die Abgeordneten diese durchzustehen bereit sind, dann spricht nichts dagegen, dass das beschriebene Verfahren im Laufe der Jahre zur üblichen Praxis wird – so wie heute noch der Zugriff jeder Regierung auf ihren jeweiligen „nationalen“ Kommissionsposten gängig ist. Nötig ist dafür noch nicht einmal eine Änderung des EU-Vertrags, sondern lediglich ein wenig Mut der europäischen Parteien. Und wir Bürger bekämen endlich die Möglichkeit, durch die Europawahl in demokratischer Weise auf die Zusammensetzung der europäischen Exekutive Einfluss zu nehmen.

Bild: Flickr_-_europeanpeoplesparty_-_EPP_LEADERS_MEET_IN_DUBLIN_14_April_2008_(43).jpg: European People's Party; derivative work: Herzi Pinki [CC-BY-2.0], via Wikimedia Commons.

19 November 2012

Das Eigenmittelsystem, die Finanztransaktionssteuer und die Wahrnehmung der Europäischen Union in der Öffentlichkeit

Die Union stattet sich mit den erforderlichen Mitteln aus, um ihre Ziele erreichen und ihre Politik durchführen zu können.

Der Nettozahlerdebatte verdanken wir manche bunte Grafik. Und manchen sinnlosen Streit.
Ich weiß nicht, ob das Wort „Eigenmittelsystem“ jemals in der Tagesschau oder im Aufmacher einer großen deutschen Zeitung verwendet wurde: Es klingt so technisch und sperrig, dass jeder gute Journalist befürchten müsste, damit seine Leser und Zuschauer zu vergraulen. Für diejenigen, die sich intensiver mit Europapolitik beschäftigen, bezeichnet dieses Wort hingegen ein Thema, über das mit größter Leidenschaft diskutiert wird. Denn es handelt sich dabei um nichts anderes als um die Frage, wie sich die EU finanzieren soll – und damit indirekt auch um die Frage, ob sie sich als eine Union der europäischen Bürger oder nur ein Bündnis ihrer Mitgliedstaaten versteht.

Und darum geht es: Wie jeder Staat und jede internationale Organisation benötigt die EU zur Erfüllung ihrer Aufgaben finanzielle Mittel. Zu deren Beschaffung gibt es typischerweise zwei Modelle: Staaten finanzieren sich größtenteils über Steuern, die sie von ihren Bürgern erheben; internationale Organisationen hingegen leben meist von den Beiträgen ihrer Mitgliedstaaten. Unabhängig von der Höhe des Budgets haben internationale Organisationen deshalb in finanziellen Fragen weniger Autonomie, da sie letztlich Jahr für Jahr auf den guten Willen ihrer Mitglieder angewiesen sind. Insbesondere die reichen Staaten, die für den größten Teil des Budgets aufkommen, können dies zur Ausübung von Macht nutzen – was beispielsweise die USA gegenüber den Vereinten Nationen auch recht unverblümt tun.

Die „Eigenmittel“ der EU

Damit so etwas in der Europäischen Union nicht geschieht, wurde bereits in den 1960er Jahren beschlossen, dass die europäische Ebene über Finanzautonomie verfügen und nicht auf nationale Beitragszahlungen angewiesen sein sollte. Allerdings schreckten die Mitgliedstaaten davor zurück, den Europäischen Gemeinschaften ein eigenes Besteuerungsrecht einzuräumen. Stattdessen sollten sich die „Eigenmittel“ der EG aus deren eigenen Tätigkeiten ergeben. Im Wesentlichen handelte es sich dabei um die Einnahmen aus den Importzöllen auf Produkte aus Nicht-EG-Staaten, die in einer Wirtschaftsgemeinschaft mit einheitlichen Außenzöllen und freiem Binnenhandel ohnehin nicht mehr sinnvoll einzelnen Mitgliedstaaten zugerechnet werden konnten.

Für einige Jahre ging dies gut. Doch mit den Jahren stiegen einerseits die Aufgaben – und damit der Finanzbedarf – der EG, während andererseits die Einnahmen zurückgingen, da die EU mit den übrigen Mitgliedern der Welthandelsorganisation immer neue Zollsenkungen vereinbarte. Um diese Lücke zu füllen, wurden seit den 1980er Jahren die sogenannten Mehrwertsteuer- und BNE-Eigenmittel eingeführt, die heute zusammen rund 85 Prozent des EU-Haushalts ausmachen.

Bei diesen BNE-Eigenmitteln handelt es sich letztlich doch wieder um nationale Beiträge der Mitgliedstaaten, die sich nach dem Bruttonationaleinkommen des Landes berechnen. „Eigenmittel“ der EU sind sie nur insofern, als sie (anders als etwa die Beiträge zu den Vereinten Nationen) formal nicht aus den nationalen Haushalten stammen, sondern nur von den Mitgliedstaaten für die EU eingetrieben werden, wobei den Mitgliedstaaten die Art der Erhebung freigestellt ist. Auch dieser feine Unterschied wird in der Praxis allerdings von mehreren Mitgliedstaaten ignoriert – und so finden sich die BNE-Eigenmittel nicht selten als Ausgabenpunkt in den nationalen Haushaltsplänen wieder. Es ist nur Glück, dass dabei noch niemals der verfassungsrechtliche Ernstfall eingetreten ist, bei dem ein nationales Parlament die volle Überweisung dieser Beiträge an die Europäische Union verweigert oder einseitig an politische Forderungen geknüpft hätte.

Der Nettozahlerstreit

Doch auch so richtete die faktische Rückkehr zu nationalen Beiträgen einigen Schaden an. Denn die Tatsache, dass die BNE-Eigenmittel jeweils einzelnen Mitgliedstaaten zugeordnet werden können, verleitete viele nationale Politiker und Medien dazu, sie als den „Preis“ anzusehen, den das eigene Land für die EU-Mitgliedschaft zu entrichten hat. Von dort ist der Schritt nicht weit, auch die finanziellen Rückflüsse aus dem EU-Haushalt in das eigene Land zu berechnen und einen Saldo aufzustellen. Das Ergebnis ist die leidige Nettozahler-Debatte, die seit den 1980er Jahren die öffentliche Auseinandersetzung vor allem in den reichen Mitgliedstaaten dominiert.

Wie absurd diese Diskussion ist, zeigt sich schon an der Vielzahl von Methoden, nach denen die nationalen Nettosalden je nach Belieben groß oder klein gerechnet werden können. Für die öffentliche Wahrnehmung der europäischen Finanzpolitik jedoch spielte dies keine Rolle: Die Vorstellung, dass Deutschland als „größter Nettozahler“ für alle Kosten aufkommen müsse, während sich die „Nettoempfänger“ ein schönes Leben machen, ist fest in vielen Köpfen verankert. Und die EU wusste sich dagegen lange Zeit nicht anders zu helfen, als etlichen Nettozahlern (vor allem Großbritannien, aber auch Deutschland, den Niederlanden, Schweden und Österreich) Beitragsrabatte zuzugestehen, die das Eigenmittelsystem nach und nach immer komplizierter machten und zuletzt doch nicht zu einer größeren Akzeptanz in der Öffentlichkeit beitrugen. Es ist wie beim deutschen Länderfinanzausgleich: Wenn staatliche Umverteilung in erster Linie als ein Transfer zwischen Gebietskörperschaften wahrgenommen wird, stößt sie fast immer auf Ablehnung. Wird sie dagegen als ein Transfer von reichen zu armen Bürgern verstanden, ist die öffentliche Zustimmung höher – selbst wenn die interregionalen Effekte dabei in der Praxis genauso groß sind.

Die Finanztransaktionssteuer als Eigenmittel

In den letzten Jahren forderten deshalb vor allem die supranationalen Organe der EU immer wieder eine Reform des Eigenmittelsystems, bei der die nationalen Beiträge durch eigene europäische Steuern ersetzt würden (hier ein Arbeitsdokument der Kommission, hier ein gemeinsames Papier dreier prominenter Europaabgeordneter). Einen entscheidenden Vorstoß machte die Kommission schließlich in diesem Sommer, als sie ihren Vorschlag für den nächsten „mehrjährigen Finanzrahmen“ (das Grundgerüst für den EU-Haushalt im Zeitraum 2014-2020) präsentierte. Darin sah sie insbesondere die Einführung einer europaweiten Finanztransaktionssteuer vor, die als neuer Eigenmittel-Typ unmittelbar das europäische Budget speisen sollte. Die Einnahmen von geschätzt 50 Milliarden Euro jährlich würden etwa ein Drittel der gesamten EU-Ausgaben abdecken und damit den Bedarf an BNE-Eigenmitteln deutlich reduzieren.

Dass die Wahl auf die Finanztransaktionssteuer fiel, ist dabei auf den ersten Blick durchaus passend. Außer fiskalischen Zwecken soll diese Steuer auf alle Bankentätigkeiten nämlich vor allem der Finanzmarktregulierung dienen, die seit Ausbruch der Eurokrise als ein wichtiges Politikfeld der EU gilt. Und zudem herrscht Einigkeit darüber, dass eine Finanztransaktionssteuer nicht nur in einzelnen Ländern eingeführt werden sollte, sondern möglichst den gesamten Binnenmarkt abdecken muss, um eine Steuerflucht der Banken zu verhindern. Wenn man also eine Finanztransaktionssteuer will, dann sollte sie europaweit einheitlich gelten – und es ist durchaus naheliegend, ihre Einnahmen dann auch für den europäischen Haushalt zu nutzen.

Doch während das Europäische Parlament diese Reformpläne der Kommission nachdrücklich unterstützte, regte sich in einigen Mitgliedstaaten Widerstand. Bemerkenswerterweise war es dabei insbesondere die deutsche Bundesregierung, die schon 2011 auf die ersten Ideen einer Eigenmittelreform mit einer scharfen Ablehnung reagierte. Auf eine Begründung für dieses strikte Nein verzichteten die Politiker von CDU/CSU (EVP) und FDP (ELDR) allerdings weitgehend. Eine Pressemitteilung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion erklärte, es bestehe „überhaupt kein Handlungsbedarf, das bewährte System der EU-Finanzierung zu ändern“; und der finanzpolitische Sprecher der FDP behauptete etwas dreist, die Kommission suche lediglich nach Mitteln, „wie sie den ohnehin schon durch die Eurokrise stark belasteten Bürgern der Geberländer verstärkt und nun auch noch ohne Umwege an den Geldbeutel kann“. Dass die Umstellung des Eigenmittelsystems nichts mit der (aus anderen Gründen notwendigen) Erhöhung des EU-Haushalts zu tun hat, wurde dabei schlicht ignoriert. Letztlich drängt sich nur eine Schlussfolgerung auf: Gerade in Deutschland, wo die Nettozahler-Diskussion besonders virulent ist, will die Regierung offenbar auch in Zukunft nicht darauf verzichten, politisches Kapital aus der Größe ihres nationalen Beitrags zu schlagen.

Verstärkte Zusammenarbeit

Immerhin aber war Deutschland wenigstens grundsätzlich zur Einführung einer europaweiten Finanztransaktionssteuer bereit; nur sollten die Einnahmen daraus eben in den eigenen nationalen Haushalt fließen. Noch schärfer hingegen war die Kritik vonseiten anderer Länder wie Großbritannien und Schweden, die – vor allem aus wirtschaftspolitischen Gründen – eine Besteuerung der Bankaktivitäten vollständig ablehnen. Da diese Gegensätze nicht zu überwinden waren, bildete sich in den letzten Monaten eine Gruppe von elf Mitgliedstaaten der Eurozone (unter ihnen Deutschland, Frankreich und Österreich) heraus, die eine Finanztransaktionssteuer auf Basis einer verstärkten Zusammenarbeit anstreben. Demnach soll die Steuer europaweit einheitlich ausgestaltet werden, aber lediglich für diejenigen Mitgliedstaaten gelten, die sich an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligen.

Doch auch in der Pioniergruppe ist weiterhin umstritten, in welchen Haushalt die Einnahmen aus der neuen Steuer letztlich einfließen sollen. Zuletzt zeigte sich dies in einem kleinen Disput zwischen der niederländischen und der belgischen Regierung: Nachdem der neu ernannte niederländische Finanzminister vergangenen Dienstag erklärt hatte, sein Land werde sich der verstärkten Zusammenarbeit möglicherweise anschließen, aber nur, wenn die Einnahmen daraus in den nationalen Haushalt gingen, antwortete der belgische EU-Botschafter, sein Land wolle die Option einer Eigenmittelreform auf jeden Fall offen halten. Und auch das Europäische Parlament ist bislang nicht von seiner Position abgerückt, dass die Reform des Eigenmittelsystems eine zwingende Bedingung für seine Zustimmung zum nächsten mehrjährigen Finanzrahmen ist.

Es ist der Europäischen Union zu wünschen, dass sich die Reformfraktion zuletzt durchsetzt. Das derzeitige System, das in erster Linie auf nationalen Beiträgen beruht, vergiftet die öffentliche Debatte, da es die Interessengegensätze zwischen den Mitgliedsländern, zwischen „Nettozahlern“ und „Nettoempfängern“, in den Vordergrund stellt. Doch die EU dient nicht einzelnen Staaten, sondern den gemeinsamen Interessen aller europäischen Bürger. Entsprechend sollte auch ihre Finanzierung so weit wie möglich von der nationalen Ebene entkoppelt werden und auf echten Eigenmitteln, das heißt: auf eigenen europäischen Steuern beruhen. Die EU-Finanztransaktionssteuer, so viele Probleme sie im Einzelnen auch aufwerfen mag, ist auf jeden Fall ein Schritt in die richtige Richtung.

PS

In dem letzten Papier zum mehrjährigen Finanzrahmen, das Ratspräsident Herman Van Rompuy (CD&V/EVP) vergangene Woche präsentierte, war der Vorschlag einer Finanztransaktionssteuer als Eigenmittel übrigens vorhanden. Wenn ich richtig verstanden habe, will Van Rompuy dabei allerdings für jeden Staat, der sich an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligt, einzeln den Ertrag berechnen, der sich aus der Steuer ergibt – und diesen Betrag dann von den BNE-Eigenmitteln des betreffenden Landes abziehen. Diese Lösung soll offenbar ein Kompromiss zwischen den verschiedenen Positionen sein; sie ist aber nichts als ein alberner Trick, da die Beiträge ja weiterhin Land für Land ausgerechnet würden und letztlich nur vom Bruttonationaleinkommen abhängig wären. Dann aber wird sich auch an der öffentlichen Wahrnehmung und der Nettozahler-Diskussion nichts ändern.

Worum es bei der ganzen Sache geht, ist doch, dass die Einnahmen aus der Finanztransaktionssteuer eben nicht mehr einzelnen Staaten zuzuordnen sein sollen. Wenn überhaupt, müsste man also die Mitgliedstaaten, die sich an der verstärkten Zusammenarbeit beteiligen, als eine Einheit betrachten und ihre BNE-Eigenmittel jeweils anteilig um den Gesamtbetrag der Einnahmen aus der Finanztransaktionssteuer reduzieren. Aber wie es aussieht, hat der Europäische Rat bis heute nicht so recht begriffen, worin der tiefere Sinn des Kommissionsvorschlags überhaupt besteht.

Bild: By User:Anameofmyveryown [GFDL or CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons.

15 November 2012

Die besseren Eurobonds

Dass Schuldenmachen schlecht ist, wusste man schon im Mittelalter. Aber vielleicht hat die Volkswirtschaftslehre seitdem auch dazugelernt.
Zu den Dauerbrennern der europäischen Finanzkrise gehört die Forderung nach Eurobonds, also nach gemeinsamen Staatsanleihen der Euro-Mitgliedstaaten. Schon seit 2008 sehen ihre Befürworter wie Jean-Claude Juncker (CSV/EVP) darin das beste Mittel, um den Zinsdruck auf die Krisenstaaten zu reduzieren und die gegenwärtige Misere schnell zu überwinden. Umgekehrt fürchten ihre Gegner wie Angela Merkel (CDU/EVP) kaum etwas mehr als die Vergemeinschaftung von Anleihen, da dies, so die Angst, die eskalierende Verschuldung nur weiter antreiben und auch die bislang stabilen Staaten mit in die Krise ziehen würde. Seit Merkel im Sommer ankündigte, sie werde keine Eurobonds zulassen, „solange ich lebe“, ist die europaweite Debatte inzwischen weitgehend zum Stillstand gelangt. Da sich allerdings die SPD (SPE) in den letzten Monaten immer mal wieder für Eurobonds ausgesprochen hat, könnte sie durch die deutsche Bundestagswahl 2013 wieder an Dynamik gewinnen.

Gemeint ist dabei mit „Eurobonds“ in der Regel ein Konstrukt, in dem einzelne Mitgliedstaaten (bis zu gewissen Grenzen und unter gewissen Bedingungen) nationale Staatsanleihen herausgeben, für die im Fall einer Staatspleite auch alle anderen Mitgliedstaaten haften. Erstaunlich wenig wird hingegen über ein anderes Modell diskutiert, das eigentlich aus der Perspektive föderaler Staatsorganisation näherliegend ist und auch in der politischen Debatte schon früher aufgeworfen wurde. Gemeint ist der Vorschlag einer Anleihe, die nicht die Mitgliedstaaten, sondern die EU selbst begeben würde. Die Einnahmen aus dieser Anleihe würden dann in den Haushalt der Union fließen und könnten zum Beispiel verwendet werden, um nötige Investitionen und Konjunkturmaßnahmen zu finanzieren, wenn Mitgliedstaaten dazu aufgrund ihrer eigenen Überschuldung nicht mehr in der Lage sind. Anders als bei Eurobonds würden also nicht die nationalen Etats der Mitgliedstaaten gestützt, sondern das gemeinsame EU-Budget durch Kredite ausgeweitet und damit die Handlungsfähigkeit der Union bei der Krisenbekämpfung erhöht.

Erstmals wurde der Vorschlag einer solchen Unionsanleihe im Jahr 2003 vom ehemaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors (PS/SPE) vorgebracht; 2008 lag dieses Modell auch Junckers ersten Vorschlägen zugrunde, bevor sich die Diskussion in Richtung der heute gängigen Eurobond-Konstrukte verlagerte. Aber wurde hier vielleicht ein guter Gedanke allzu schnell begraben? Der neue EU-Eigenmittelbeschluss, der voraussichtlich 2013 parallel zum neuen mehrjährigen Finanzrahmen verabschiedet werden soll, könnte ein Anlass sein, noch einmal über diese Frage nachzudenken.

Warum (manche) Schulden sinnvoll sind

Insbesondere in Deutschland hat sich (nicht erst seit Ausbruch der Krise) in der öffentlichen Diskussion die Vorstellung verbreitet, dass Staatsschulden immer auf Kosten künftiger Generationen gingen und deshalb in allen Ländern eine strenge verfassungsrechtliche Regelung existieren sollte, die die Aufnahme neuer Schulden möglichst komplett verbietet. An diesem Maßstab gemessen scheint das derzeitige europäische System zunächst einmal optimal zu sein: Da es keine europäischen Anleihen gibt, kann die EU (von wenigen Ausnahmen abgesehen) auch keine Schulden aufnehmen und beendet ihr Haushaltsjahr theoretisch immer mit einer schwarzen Null. Durch die Einführung von Unionsanleihen hingegen würde sich das ändern – kann man das also überhaupt wollen?

Die Antwort lautet Ja, denn die Vorstellung, dass Staatsschulden an sich ein Übel wären, ist ökonomisch schlicht falsch. Eine gute Erklärung dafür bietet der deutsche Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Gutachten aus dem Jahr 2007. Zum einen ist die Staatsverschuldung ein notwendiges Puffer, um kurzfristige Konjunkturschwankungen auszugleichen. Zum anderen sind öffentliche Schulden auch langfristig nützlich, wenn sie dazu dienen, öffentliche Investitionen zu tätigen, die dazu beitragen, das künftige Bruttoinlandsprodukt zu erhöhen. Entsprechend besagt die „goldene Regel der Finanzpolitik“ (über die ich in diesem Blog an anderer Stelle schon ausführlicher geschrieben habe), dass die öffentliche Hand durchaus Kredite aufnehmen sollte – aber eben nur zur Finanzierung von Investitions-, nicht von Konsumausgaben.

Gleiches gilt selbstverständlich auch für die Europäische Union. Während EU-Anleihen zur Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik sicher keine gute Idee wären, könnten zahlreiche Infrastrukturausgaben, wie sie etwa die Regionalfonds leisten, durchaus kreditfinanziert werden. Und natürlich ließen sich dadurch in einer Rezession europäische Konjunkturmaßnahmen (sagen wir: ein europäisches Kurzarbeitergeld) finanzieren – vorausgesetzt, die EU baut die dadurch angehäuften Schulden im nächsten Aufschwung wieder ab.

Ordnungspolitische Vorteile gegenüber Eurobonds

Für die Stabilität der Eurozone würde dies entscheidende Vorteile bringen. Bekanntlich ist die zentrale Schwäche der europäischen Währungsunion ihre Unfähigkeit, auf asymmetrische Schocks zu reagieren, bei denen manche Mitgliedstaaten härter betroffen sind als andere: Angesichts der vereinheitlichten Wechselkurs- und Geldpolitik können solche Krisenländer die Rezession nur durch höhere Staatsausgaben bekämpfen. Dies allerdings führt rasch zu einer Eskalation des nationalen Schuldenstands, wodurch die Bonität des Landes in Gefahr gerät und die Staaten für ihre Anleihen immer höhere Zinsen zahlen müssen – siehe Portugal, Irland oder Spanien. Für die EU als Ganzes wäre es hingegen kein Problem, die entsprechenden Konjunkturausgaben zu finanzieren, denn gerade bei einem asymmetrischen Schock gibt es ja immer auch Mitgliedstaaten, die sich weiterhin in einer wirtschaftlich guten Lage befinden. Die Bonität von Unionsanleihen würde deshalb bei einer asymmetrischen Krise nicht gefährdet, so wie auch die Bonität der USA nicht darunter leidet, wenn einzelne ihrer Staaten in die Rezession geraten.

Ein ganz ähnlicher Mechanismus liegt auch den gängigen Eurobonds-Vorschlägen zugrunde: Auch diese sollen Schuldenkrisen bei asymmetrischen Schocks verhindern, indem sie die Bonität aller Mitgliedstaaten vergemeinschaften. Der wesentliche Unterschied liegt jedoch in der Frage, wer über die Verwendung der Finanzmittel bestimmt, die durch die Anleihen aufgetrieben werden: Im Falle der Eurobonds wären dies die einzelnen Mitgliedstaaten, bei einer Unionsanleihe hingegen die EU als Ganzes. Eurobonds wären deshalb immer mit einem moral hazard verbunden, also einem Missbrauchsrisiko, das sich daraus ergäbe, dass ein Land allein über die Verwendung von Krediten entscheiden würde, für die alle übrigen Mitgliedstaaten mit haften. Bei Unionsanleihen hingegen würde dies vermieden: Ob eine bestimmte Investition oder Konjunkturmaßnahme sinnvoll ist oder nicht, würden in diesem Fall nicht die nationalen Regierungen und Parlamente der Krisenländer entscheiden, sondern die europäischen Haushaltsorgane, also das Europäische Parlament und der Ministerrat.

Demokratische Vorteile gegenüber dem ESM

In der Wirklichkeit nun hat sich der Europäische Rat in den letzten Monaten bekanntlich weder für Eurobonds noch für Unionsanleihen entschieden, sondern für ein drittes Modell der Schuldenvergemeinschaftung: den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Wie ich bereits vor einigen Monaten geschrieben habe, erfüllt dieser in gewisser Weise die Aufgabe eines europäischen Schattenhaushalts. Und tatsächlich zeigen sich in seiner Funktionsweise gewisse Parallelen zu dem Modell der Unionsanleihen: Insbesondere begibt der ESM (auf der Grundlage seines Stammkapitals von 700 Milliarden Euro) eigene Anleihen, um mit dem dadurch eingenommenen Geld notwendige Staatsausgaben in Krisenländern zu finanzieren. Diese Finanzierung erfolgt allerdings nicht direkt, sondern über die nationalen Haushalte der betroffenen Staaten, an die der ESM Kredite vergibt. Im Gegenzug müssen die Krisenländer zur Vermeidung von moral hazard in sogenannte memoranda of understanding einwilligen, die ihnen strikte Reformprogramme vorschreiben – womit sie de facto einen Großteil ihrer wirtschaftspolitischen Souveränität an den ESM abgeben.

Auch der ESM hat jedoch wesentliche Nachteile, die eine direkte Finanzierung von Konjunkturmaßnahmen über Unionsanleihen nicht hätte. Dies betrifft vor allem die demokratische Legitimation: Während über den Haushalt der EU das Europäische Parlament sowie der Ministerrat gemeinsam entscheiden, setzen sich die wichtigsten Gremien des ESM allein aus den nationalen Regierungen zusammen. Auch wenn zahlreiche Länder (darunter Deutschland) eine verpflichtende Zustimmung des nationalen Parlaments zu allen ESM-Entscheidungen vorsehen, können die Abgeordneten hier kaum Gestaltungsmacht ausüben. Welche wirtschaftspolitischen Strategien der ESM in den Krisenländern verfolgt, wird in erster Linie von den Regierungen ausgehandelt – und ist deshalb stark von den diplomatischen Machtverhältnissen zwischen den Mitgliedstaaten abhängig.

Dies wiederum führt zu einem zweiten Nachteil des ESM: der geringen sozialen Akzeptanz, auf die seine Politik in den Krisenstaaten stößt. Seine memoranda of understanding gelten oft als ein Mittel der Fremdherrschaft, da sie der nationalen Haushaltspolitik kaum Spielräume lassen – und die Bürger zugleich so gut wie keine Möglichkeit haben, durch politische Wahlen auf die Inhalte der memoranda Einfluss zu nehmen. Eine Finanzierung über Unionsanleihen und den EU-Haushalt würde hier einen doppelten Vorteil bieten: Zum einen würde sich das Problem eines moral hazard hier von Anfang an nicht stellen, sodass auch keine so gravierenden Eingriffe in die nationalen Haushaltspolitiken notwendig wären. Und zum anderen hätten alle Bürger die Möglichkeit, durch ihre Stimme bei der Europawahl die Entwicklung der europäischen Haushaltspolitik unmittelbar zu beeinflussen, denn schließlich hat das Europäische Parlament hier ein Mitentscheidungsrecht. Egal, ob man zuletzt Austerität oder Keynesianismus wählt – die Legitimität wirtschaftspolitischer Entscheidungen ist immer höher, wenn die Bürger selbst dabei mitreden durften.

Warum es keine Unionsanleihen gibt

Viel würde also für Unionsanleihen sprechen. Mehr noch: Vergleicht man die EU mit anderen föderalen Systemen wie den USA oder der Bundesrepublik Deutschland, wo Konjunkturschocks ebenfalls jeweils durch den Haushalt der höchsten föderalen Ebene abgefedert werden, so sind Unionsanleihen eigentlich die nächstliegende Lösung. Dennoch kommen sie in der politischen Debatte kaum vor. Woran liegt das?

Ein Grund sind sicher die institutionellen Interessen der nationalen Regierungen, ohne deren Zustimmung die Einführung von Unionsanleihen nicht möglich wäre. Wenn die EU Kredite aufnehmen könnte, so würde dies zu einer Ausweitung ihres Haushaltsvolumens führen und letztlich den supranationalen Institutionen mehr finanziellen Einfluss geben. Insbesondere das Europäische Parlament als Haushaltsorgan würde dadurch an Macht gewinnen. Eine Konstruktion wie der ESM hingegen bündelt lediglich die wirtschaftliche Macht der Regierungen und ist für diese deshalb eher akzeptabel, auch wenn das auf Kosten der demokratischen Qualität des europäischen politischen Systems geht.

Noch wichtiger jedoch ist ein anderer Grund: Wollte man nämlich unter den jetzigen Bedingungen Unionsanleihen einführen, so wäre es zweifelhaft, ob die Europäische Union auch nur ansatzweise an die Bonität ihrer reichsten Mitgliedstaaten herankäme. Denn zum einen ist der Haushalt der Union erschreckend klein – ihr jährlicher Etat beträgt kaum ein Fünftel des Stammkapitals des ESM. Und zum anderen hat das Europäische Parlament auch keine Möglichkeit, dieses Budget kurzfristig auszuweiten, wie das nationale Parlamente mithilfe von Steuererhöhungen tun könnten – denn die EU hat kein eigenes Besteuerungsrecht, und die Höhe ihres Etats muss jeweils in mühevollen Verhandlungen zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Regierungen festgelegt werden. Erst vor wenigen Tagen sind die entsprechenden Gespräche über den Nachtragshaushalt für 2013 geplatzt, da die Regierungen sich einer Erhöhung des Etats um neun Milliarden Euro widersetzten. Ernsthaft: Welcher Investor würde einer politischen Institution Geld leihen wollen, die so einfach in die finanzielle Handlungsunfähigkeit abgleitet?

Die ordnungspolitisch und demokratisch beste Lösung für die Eurokrise bestünde in der Einführung von Unionsanleihen, um daraus Konjunkturmaßnahmen finanzieren zu können, mit denen sich asymmetrische Schocks abfedern lassen. Doch dafür müssten wir erst einmal den Haushalt der Europäischen Union selbst reformieren, indem wir ihr ein eigenes Besteuerungsrecht übertragen und zugleich die Mitspracherechte der nationalen Regierungen in der europäischen Budgetpolitik einschränken. Und wenn wir dafür ein neues deutsches Grundgesetz benötigen, dann soll es uns willkommen sein: Besser als die halbherzigen bisherigen Lösungsansätze wäre es allemal!

Bild: By Polylerus at en.wikipedia (Transferred from en.wikipedia) [Public domain], from Wikimedia Commons.

05 November 2012

Die Jungen Europäischen Föderalisten und die außereuropäische Welt

Eigentlich sind die JEF für ein visafreies Europa. In Armenien jedenfalls.
Vor zwei Wochen habe ich hier über die Europa-Union Deutschland geschrieben, die sich anschickte, ein neues Grundsatzprogramm zu verabschieden. Am 28. Oktober war es so weit, und inzwischen ist das Papier auch online zu finden. Inhaltlich entspricht es ungefähr dem Erwartbaren; unter den zahlreichen Titelvorschlägen hat sich zuletzt die Version „Die europäische Einigung im 21. Jahrhundert: Unser Ziel ist der europäische Bundesstaat“ durchgesetzt. Doch nicht nur die Europa-Union, sondern auch ihre Jugendorganisation ist gerade dabei, sich ein neues Programm zu geben. Die deutsche Sektion der Jungen Europäischen Föderalisten (JEF) zählt rund 3.500 Mitglieder – europaweit sind es etwa 15.000 – und damit nur ein Fünftel der Europa-Union. Wenigstens in der Öffentlichkeit ist sie jedoch der deutlich aktivere Teil. Und auch inhaltlich bietet ihr neues Grundsatzprogramm, das am nächsten Sonntag auf einem Kongress in Saarbrücken verabschiedet werden soll, mehr Angriffsfläche. Während die Europa-Union zum großen Teil feierliche Selbstverständlichkeiten verkündete, entwickeln die JEF auf nicht weniger als dreizehn Seiten eine recht detaillierte Agenda. Vieles davon ist ganz großartig – etwas ins Schlingern aber geraten die Jungen Europäischen Föderalisten, wo es um die Welt jenseits der europäischen Grenzen geht.

Neues Grundsatzprogramm

Fangen wir mit den Vorzügen an. Ähnlich wie die Europa-Union fordern die JEF, dass Unionsbürger auch bei nationalen Wahlen im Land ihres Wohnsitzes wählen dürfen, dass das Europäische Parlament ein eigenes Besteuerungsrecht erhält und dass die Außenpolitik zur allein europäischen Kompetenz wird. Zu den weiteren Vorschlägen gehören die Vereinheitlichung des Europawahlrechts sowie eine Reform der Kommission, die künftig allein vom Europäischen Parlament gewählt und deren Größe „sachorientiert“ statt durch die Anzahl der Mitgliedstaaten festgelegt würde. Außerdem soll die Sozialpolitik der Mitgliedstaaten „dort wo notwendig“ harmonisiert werden; und um „ausgleichende und gestaltende Maßnahmen“ im gemeinsamen Binnenmarkt durchzuführen, soll die europäische Ebene „erhebliche eigene Mittel“ erhalten. Das Beste aber findet sich etwas versteckt: Unter dem Stichpunkt „Erweiterung“ erklären die JEF, „dass eine weitere Vertiefung der Union zunehmend schwerer realisiert werden kann, wenn die ohnehin schon große Zahl der Mitgliedsstaaten weiter anwächst, ohne dass gleichzeitig das Einstimmigkeitsprinzip bei Vertragsänderungen entfällt“. Chapeau, wenn das nicht nur eine leere Floskel ist! Vertragsreformen ohne Veto wären ein Ziel, das manchen Einsatz lohnen würde.

Angesichts dessen scheinen auch die kleineren Schwächen des Programmentwurfs verzeihlich: So wollen die JEF etwa die Unterschiede bei der Stimmgewichtung im Rat verringern, bei der „bisher“ jeder Staat „zwischen 3 und 39 Stimmen“ erhält – obwohl letztere Regelung bereits durch den Vertrag von Lissabon mit Wirkung ab 2014 abgeschafft wurde. Und wenn die JEF als „Voraussetzung für die Abgabe von Kompetenzen an einen obersten Europäischen Gerichtshof“ die „Sicherstellung eines äquivalenten Grundrechtsschutzes, wie ihn derzeit das Bundesverfassungsgericht garantiert“, fordern, dann ist das insofern verwunderlich, als das BVerfG selbst genau diese Forderung längst für erfüllt hält – und zwar bereits seit seinem Solange-II-Beschluss von 1986.

Weltföderalismus

Aber noch ist der Programmentwurf nicht verabschiedet; auf dem Kongress am Wochenende sollen noch einige offene Fragen geklärt werden. Wie der JEF-Vorsitzende Lars Becker vor einem Monat in seinem Blog zusammenfasste, geht es dabei vor allem um vier Kontroversen: Erstens sind sich die JEF uneinig darüber, ob es europaweite Volksentscheide geben sollte. Zweitens scheint nicht so ganz klar zu sein, ob die Idee, die EU in „Vereinigte Staaten von Europa“ umzubenennen, ein Zeichen visionärer Kraft oder nur utopischer Realitätsfremdheit ist. (Ich persönlich habe eher letzteren Eindruck. Und warum dem Programmentwurf zufolge die Kommission künftig „Regierung“ und der Rat „Staatenvertretung“ heißen soll, erschließt sich mir, ehrlich gesagt, ebenfalls nicht so ganz.) Drittens ist, wie so oft, das Verhältnis zwischen Vertiefung und Erweiterung umstritten. Und viertens diskutieren die JEF über die Rolle des Weltföderalismus – und hier wird es besonders interessant.

Im Einzelnen verkündet der Programmentwurf zu diesem Thema, der Föderalismus müsse als „ein sinnvolles politisches Ordnungssystem auf allen politischen Ebenen“ auch weltweit angewandt werden, wenn auch nur für „die wichtigsten globalen Probleme“, insbesondere die Sicherheitspolitik, den Umweltschutz und die Finanzmarktregulierung. Dafür sollen „[l]angfristig“ die Vereinten Nationen in einen „Staatenverbund mit einem Weltparlament“ umgewandelt werden. Außerdem wollen die JEF die globale Rechtsstaatlichkeit stärken, wobei im Programm jedoch nur vom Internationalen Strafgerichtshof die Rede ist, nicht von einem globalen Verfassungsgericht, wie es der tunesische Präsident kürzlich vorgeschlagen hat. Erstaunlich inkonsequent wird es dann allerdings bei der globalen Exekutive: Eine demokratisch legitimierte „Weltregierung mit einem Weltpräsidenten“ ist dem Entwurf zufolge unnötig – stattdessen soll nur der UN-Sicherheitsrat ein bisschen überarbeitet und „fairer“ gestaltet werden.

Hegemonialer Anspruch“ Europas?

Was unter den JEF für Kontroversen gesorgt hat, ist allerdings anscheinend nicht so sehr dieser schlecht begründete Verzicht darauf, die Prinzipien supranationaler Demokratie auch für die globale Ebene konsequent auszubuchstabieren. Stattdessen wurde Lars zufolge kritisiert, dass der Weltföderalismus den „Ausdruck eines ‚hegemonialen‘ Anspruchs“ darstelle, „da nicht geklärt sei, ob der Föderalismus als universelles Prinzip auch über Europa hinaus sinnvoll sei“. Anders formuliert: Sollen die Europäer, die seit dem Ende des Mittelalters jahrhundertelang gewaltsam die übrigen Kontinente erobert und kolonisiert haben, jetzt schon wieder versuchen, dem Rest der Welt ihr politisches Modell aufzudrängen?

Liest man die entsprechenden Passagen im Programmentwurf der JEF aufmerksam, so scheint es tatsächlich bisweilen, als ob die Welt am europäischen Wesen genesen solle. Europa, so heißt es da, solle „Inspiration und Vorbild für weitere regionale Integrationsprojekte sein“, einen „prototypischen Charakter“ haben und „auch auf globaler Ebene dabei helfen, zivilisierte und faire Antworten auf globale Probleme zu finden“. Kurz: Die „Globalisierung politisch zu gestalten“ müsse ein „zentrales europäisches Projekt werden“. Doch verbirgt sich hinter diesen Ideen wirklich ein versteckter hegemonialer Anspruch? Ich denke, das Problem ist ein anderes: Was an dem Programmentwurf so schief klingt, ist, dass er Konzepte einer europäischen Außen- und einer globalen Innenpolitik miteinander vermengt.

Föderalismus ist eine verfassungspolitische Überzeugung, die an keine geografischen Grenzen gebunden ist. Die Europäer haben darauf auch kein Patent, im Gegenteil: Die Federalist Papers wurden bekanntlich von Amerikanern geschrieben, in einer Zeit, als man in Europa noch über die Legitimität der absoluten Monarchie nachdachte. Auch Befürworter einer globalen Demokratie wird man in allen Teilen der Welt finden. Und Postkolonialismus hin oder her: Es spricht überhaupt nichts dagegen, sich mit diesen anderen zusammenzutun, um als föderalistisch gesinnte Weltbürger gemeinsam das globale politische System umzugestalten.

Doch das politische Subjekt, an das sich der JEF-Programmentwurf wendet, sind nicht die föderalistischen Weltbürger, sondern die europäischen Außenpolitiker. In der Kurzfassung des Programms heißt es unmittelbar hinter dem Stichwort „Weltföderalismus“, dass Europa durch ein einheitliches Auftreten auf der internationalen Bühne „politische Interessen wirksamer […] vertreten“ könne; und auch später ist es die EU, die als Vorbild für andere Staatenverbünde fungieren, die „Herausbildung weiterer regionaler Integrationsprojekte unterstützen“ und die „Globalisierung politisch […] gestalten“ soll. Mit diesen Bezügen auf eine europäische Außenpolitik aber entsteht ein gedanklicher Gegensatz zwischen dem europäischen Wir und dem außereuropäischen Anderen – genau das also, was das Konzept eines kosmopolitischen Föderalismus doch eigentlich überwinden sollte. Es ist deshalb zu hoffen, dass die JEF an diesem Punkt noch nachbessern: Nicht Europa oder die Europäer haben ein Interesse am Weltföderalismus, sondern all jene Bürger, die, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrem Wohnort, das globale System der Zukunft demokratisch ausgestalten wollen.

Wem hat Migration zu nutzen?

Und wenn wir schon dabei sind: Noch an einer anderen Stelle zeugt der Programmentwurf von einem eklatanten Mangel an Kosmopolitismus. Gemeint ist die Passage zur Einwanderungspolitik, wo zunächst völlig zu Recht eine solidarische Asylpolitik und eine Abschaffung der Dublin-II-Verordnung gefordert wird. Dann aber heißt es dort:
Migrationspolitik unterscheidet sich grundsätzlich von Asylpolitik dadurch, dass hier von nicht erzwungener Migration ausgegangen wird. Die europäische Migrationspolitik sollte sich deshalb an den Interessen der Union orientieren.
Mit Verlaub: Wenn man dieses Argument akzeptiert, müsste man auch die innereuropäische Freizügigkeit abschaffen, die doch zu den wichtigsten Errungenschaften der Europäischen Union gehört! Wenn heute ein Tscheche nach Portugal oder ein Malteser nach Schweden zieht, dann ist das ebenfalls „nicht erzwungene Migration“. Dennoch dürfen Portugal und Schweden die Einwanderung dieser anderen Unionsbürger nicht aus Gründen ihres nationalen Interesses verbieten, mehr noch: innerhalb des Schengen-Raums dürfen sie die Einwanderer nicht einmal an der Landesgrenze kontrollieren. Und sind nicht die JEF vor wenig mehr als einem Jahr genau für diese Reisefreiheit an der deutsch-dänischen Grenze demonstrieren gewesen?

Will man nun nicht für Europäer und Außereuropäer zwei unterschiedliche Maßstäbe anlegen, so kann man Letzteren nicht grundsätzlich verwehren, was man bei Ersteren als ein elementares Grundrecht betrachtet. Aus föderalistischer (oder sagen wir besser: aus humanistischer) Sicht kann das Fernziel nichts anderes als die weltweite persönliche Freizügigkeit aller Menschen sein. Pragmatische Gründe mögen Restriktionen heute noch notwendig machen – angesichts des Wohlstandsgefälles zwischen der EU und einem Großteil des Restes der Welt würde eine völlige Liberalisierung der europäischen Einwanderungspolitik wohl so große Migrationsströme auslösen, dass das soziale Gefüge sowohl in Europa als auch in den Auswanderungsländern in Gefahr geriete. Aber daraus entsteht zunächst einmal vor allem eine Verpflichtung, durch wirtschaftliche Zusammenarbeit dieses Wohlstandsgefälle abzubauen, um dann so bald wie möglich eben doch eine Grenzöffnung zu ermöglichen. Eine Festung Europa, die Einwanderer immer nur dann zulässt, wenn sie darin einen Nutzen für ihre eigenen Interessen sieht, wäre hingegen kein Ausdruck eines supranationalen Föderalismus, sondern eines europäisch gewendeten Nationalismus. Und darauf können wir wirklich verzichten.

Kontroverse Diskussionen

Die Jungen Europäischen Föderalisten, so heißt es in dem Grundsatzprogramm, „zeichnen sich durch eine freundschaftliche politische Streitkultur aus, die von gegenseitigem Respekt und gegenseitiger Achtung geprägt ist. […] Kontroverse Diskussionen sind sind bei uns kein Tabu. Sie sind sogar erwünscht […]“.

Es ist dem neuen Programmentwurf zu wünschen, dass vor seiner Verabschiedung am Wochenende noch die ein oder andere kontroverse Diskussion darüber stattfindet. Zunächst einmal aber ist es bereits ein Verdienst, dass er umstrittenen Fragen nicht aus dem Weg geht, sondern auch hier eine Positionierung anstrebt und Langzeitperspektiven zu formulieren versucht. Zu viel politischer Mut hat der europäischen Integration bis jetzt jedenfalls noch niemals geschadet.

Bild: jef.europe [CC-BY-NC-2.0], via Flickr.