17 Februar 2022

New Policy Paper: Strengthening European Political Parties

Deckblatt des Policy Paper: Abstimmung im Europäischen Parlament

With the deepening of European integration and the parliamentarization of the EU’s political system, European political parties must play an important role for creating democratic legitimacy at the supranational level by structuring transnational political discourses and offering citizens political identification patterns that transcend national perspectives. In political practice, however, they are not yet able to fulfil the typical functions of parties in a representative democracy. This new policy paper describes the challenges and the necessary steps to build fully-functioning European parties.

The policy paper, which I wrote on behalf of the Institut für Europäische Politik Berlin for the Brussels office of the Friedrich Ebert Foundation, can be downloaded here.

Picture: European Union 2019 – Source: EP/Fred Marvaux, via Friedrich Ebert Foundation.

14 Februar 2022

Das europapolitische Quartett: Wer werden die Spitzenkandidat:innen zur Europawahl 2024?

Mit:
  • Julian Plottka, Universität Passau / Universität Bonn
  • Sophie Pornschlegel, European Policy Centre, Brüssel
  • Manuel Müller, Universität Duisburg-Essen / Der (europäische) Föderalist, Berlin
Dieses Gespräch entstand als Online-Chat und wurde redaktionell bearbeitet.

Ursula von der Leyen im Europäischen Parlament
2019 ist Ursula von der Leyen nicht als Spitzenkandidatin angetreten. Holt sie das 2024 nach?

Manuel
Im Europäischen Parlament hat gerade die zweite Halbzeit der Wahlperiode begonnen: noch zweieinhalb Jahre bis zur nächsten Europawahl! Und auch wenn es eigentlich natürlich viel zu früh dafür ist, ist das doch ein guter Anlass, um ein paar Spekulationen zu wagen. Wen stellen die europäischen Parteien 2024 als Spitzenkandidat:innen auf, und wer gewinnt die Kommissionspräsidentschaft?

Unser heutiges Quartett (bzw. Terzett, da Carmen leider kurzfristig absagen musste) ist inspiriert von den primary drafts des US-Blogs FiveThirtyEight. Jede:r von uns nennt in vier Runden reihum eine Politiker:in, die bei der nächsten Wahl als europäische Spitzenkandidat:in nominiert werden könnte (von egal welcher Partei). Dabei darf kein Name doppelt vorkommen – insgesamt sprechen wir also über 12 mögliche Kandidat:innen. Es gewinnt, wer die meisten tatsächlichen Spitzenkandidat:innen von 2024 nennt. Einen Bonuspunkt gibt es, wenn die nächste Kommissionspräsident:in dabei ist.

Damit alles fair zugeht, habe ich unsere Reihenfolge per Zufallsgenerator ermittelt: Julian, Sophie, Manuel. Die zweite und vierte Runde erfolgen umgekehrt. Uuund los! 🏁

Ursula von der Leyen (EVP)

Julian
Mein erster Tipp ist Ursula von der Leyen.

Manuel
Das kommt nicht sehr überraschend.

Julian
Drei Dinge sprechen meiner Ansicht nach für sie:

  1. Die EVP steht derzeit nicht voll hinter dem Konzept der Spitzenkandidat:innen.
  2. Für die CDU ist eine deutsche Spitzenkandidatin die einzige (halbwegs) realistische Chance, in der nächsten Kommission vertreten zu sein.
  3. Entsprechend dem Koalitionsvertrag hätte sie wider Willen auch die Unterstützung der deutschen Ampelkoalition.

Sophie
… sofern Frau von der Leyens Handys aus der Zeit im deutschen Verteidigungsministerium und die SMS-Nachrichten mit den Chef:innen der Pharma-Unternehmen aus der Corona-Krise nicht mehr auftauchen. Aber das beiseite: Mir erscheint es auch realistisch, dass von der Leyen bei der nächsten Europawahl die EVP-Spitzenkandidatin wird.

Julian
Und falls der Skandal in den Europawahlkampf fällt, könnte das zumindest die Medienberichterstattung über die Wahl fördern. 😉

Manuel
Ich halte von der Leyen auch für eine naheliegende Spitzenkandidatin. Wenn sie noch eine zweite Amtszeit haben will und kein Skandal dazwischenkommt, kann ich mir kaum vorstellen, dass die EVP jemand anderen nominiert. Vor einem Jahr gab es im Zusammenhang mit der Corona-Impfstoffbeschaffung zwar auch einige Kritik an ihrem Regierungsstil. Aber selbst José Manuel Durão Barroso hat seinerzeit eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsident bekommen.

Sophie
Und wenn man die beiden vergleicht, ist mir doch eine zweite Amtszeit von der Leyens lieber. Trotz aller Kritik letztes Jahr hat sie als Kommissionspräsidentin im Rückblick schon viel geschafft, insbesondere in Anbetracht der Corona-Krise, die alles überschattet hat. Es gibt jetzt den Wiederaufbaufonds NGEU; der Digital Markets Act und Digital Services Act und das Klimapaket Fitfor55 sind wichtige Gesetzesvorhaben. Ich würde da, wie so oft, die Kritik eher an die Regierungen im Rat richten, die sich in der Krise nicht genügend koordiniert haben und weiterhin vieles blockieren.

Manuel
Jedenfalls wäre von der Leyen für die EVP auch ein einfacher Ausweg aus der Frage, wie sehr man den Kampf um das Spitzenkandidatenverfahren führen will. Wenn sie als Spitzenkandidatin gewinnt, würde auch der Europäische Rat ihre Wiederwahl wohl einfach abnicken, und man könnte einem neuen institutionellen Konflikt aus dem Weg gehen.

Spannend wäre es allerdings, wenn die EVP bei der Europawahl nicht stärkste Kraft wird und von der Leyen keine Mehrheit im Parlament hat, der Europäische Rat sie aber trotzdem nominiert – und argumentiert, sie sei ja schließlich Spitzenkandidatin gewesen. Das würde uns sicher die nächste Diskussion bringen, was genau das „Spitzenkandidatenverfahren“ überhaupt bedeutet.

Julian
Ich bin mir auch nicht sicher, ob von der Leyen dem Spitzenkandidatenprinzip gut tun würde. Ich fürchte, der Wahlkampf würde nur ihre Unbekanntheit als Kommissionspräsidentin offenlegen und den Europaskeptiker:innen eine Steilvorlage bieten, die Europawahl zu einer Denkzettelwahl gegen die EU zu machen.

Stéphane Séjourné (RE)

Stéphane Séjourné
Stéphane Séjourné.

Manuel
Gehen wir weiter. Sophie, was ist dein erster Tipp?

Sophie
Ich denke, dass Stéphane Séjourné, der derzeitige Vorsitzende von Renew Europe und „Protégé“ von Emmanuel Macron, der Spitzenkandidat für die Liberalen wird. Zwar hatte Renew Europe bei der letzten Europawahl das Spitzenkandidatenverfahren noch abgelehnt und stattdessen ein Team mit sieben Personen vorgeschlagen. Aber wenn Macron jetzt Séjourné als seine Person positionieren kann, dann denke ich, könnten sie sich auf ihn einigen.

Übrigens geht dieses Szenario davon aus, dass Macron nach den nationalen Wahlen im April weiterhin französischer Staatspräsident bleibt. Wenn nicht, dann könnte ich mir auch vorstellen, dass Macron selbst versucht, Kommissionspräsident zu werden.

Julian
Macron hatte ich auch auf der Liste für Renew, wenn er nicht wiedergewählt wird. Da kann ich mir vorstellen, dass er als Person zieht. Allerdings bin ich etwas skeptisch, ob er gut genug in der ALDE verankert ist, um einen Protégé durchsetzen zu können.

Manuel
Séjourné hat jedenfalls einen beeindruckenden Aufstieg im Europäischen Parlament hingelegt – vom weitgehend unbekannten Newcomer zum Fraktionschef. Aber ich sehe auch das Problem, dass seine und Macrons Partei LREM bis heute nur Mitglied der Fraktion Renew Europe ist, nicht der dazugehörigen Europapartei ALDE. Es wird interessant zu sehen, ob sie die ALDE dazu bringen können, einen „Fraktions-Spitzenkandidaten“ statt eines „Partei-Spitzenkandidaten“ zu nominieren.

Macron selbst halte ich für unwahrscheinlicher. Wenn er bei der Präsidentschaftswahl verliert, ist er erst mal weg, denkt ihr nicht?

Julian
Dafür ist er ein wenig jung, oder? Als Researcher an das Delors-Institut wird er nun wohl nicht mehr gehen. Und dass es ein abgewählter Präsident ein zweites Mal auf nationaler Ebene versucht, kann ich mir auch nicht vorstellen.

Sophie
Das mit der ALDE ist ein guter Punkt, Manuel – aber die europäischen Parteien werden auch bis 2024 nicht so mächtig sein, dass sie sich durchsetzen können. Ich gehe davon aus, dass in der Praxis letztlich die nationalen Parteien innerhalb der Fraktionen entscheiden, wer Spitzenkandidat:in wird.

Julian
Ja, wobei: Wenn die liberalen Parteien auf nationaler Ebene ein Interesse an der Position haben, wäre das Renew-ist-nicht-ALDE-Argument natürlich opportun, um unliebsame Konkurrenz aus Frankreich fernzuhalten. Die Frage ist nur, ob es da ein Hauen und Stechen geben wird.

Sophie
Außerdem würde ich auch sagen, dass Macron weiterhin eine Machtposition einnehmen würde, wenn er die Präsidentschaftswahl verliert. Und er ist aus meiner Sicht nicht nur aus Opportunismus pro-europäisch. Der Posten des Kommissionspräsidenten wäre also für ihn eine spannende Karriere-Option.

Enrico Letta (SPE)

Enrico Letta
Enrico Letta.

Manuel
Von mir kommt der erste mögliche SPE-Spitzenkandidat: Enrico Letta, derzeit Chef des italienischen Partito Democratico. Er war 2013/14 nationaler Premierminister, hat also das nötige Pedigree für den Europäischen Rat. Gleichzeitig hat er aber auch nie eine Wahl verloren (er wurde seinerzeit innerparteilich von Matteo Renzi abgesägt), und er ist auf nationaler Ebene in den Umfragen einigermaßen erfolgreich: Der PD hat sich unter seiner Führung als stärkste Einzelpartei stabilisiert, auch wenn das rechte Lager aus FdI (EKR) und Lega (ID) in der Summe deutlich vorne liegt.

2023 wird Letta wohl als italienischer Premierminister kandidieren, hat aber nur wenig Chancen, tatsächlich gewählt zu werden. Danach könnte die EU-Spitzenkandidatur ein naheliegender nächster Schritt für ihn sein. Umso mehr als er europapolitisch interessiert ist, von den „Vereinigten Staaten von Europa“ träumt und (anders als Macron) tatsächlich schon mal Präsident des Jacques-Delors-Instituts war.

Julian
Das würde gut in die Erzählung vom Wandel Italiens passen und wäre eine symbolische Anerkennung der aktuellen italienischen Politik, sodass ich mir vorstellen kann, dass ein Italiener im Europäischen Rat gute Chancen hätte, nominiert zu werden.

Allerdings widersprichst du dir ein wenig selbst, wenn du sagst, er hat noch nie eine Wahl verloren, dann aber davon ausgehst, dass er das 2023 nachholen wird. 😉 Das könnte dann schon ein Makel sein.

Sophie
Ja, das scheint mir eine Möglichkeit zu sein. Allerdings bin ich mir nicht sicher, dass er ein guter Kommissionspräsident wäre. Für mich ist er der Inbegriff des Europapolitikers aus der „Bubble“ – seine Station am Jacques-Delors-Institut in Frankreich macht das deutlich. Er ist sicherlich ein Kandidat, mit dem auch die EVP zufrieden wäre, aber angesichts der Tatsache, dass die Kommission eine starke Figur braucht, um sich gegenüber dem Rat zu behaupten, weiß ich nicht, ob er die richtige Person wäre. Wichtig ist, dass die nächste Kommissionspräsident:in zwar eine Vision hat (zum Beispiel die „Vereinigten Staaten von Europa“), aber gleichzeitig auch einen realistischen Plan, um die Institution und die EU als Ganzes nach vorne zu bringen.

Julian
Allerdings waren es in den letzten Jahren eher die Kommissionspräsident:innen, die nicht aus der Bubble kamen, die dem Europäischen Rat nahe standen. Im Sinne einer Vertretung des supranationalen Interesses durch die Kommission halte ich jemanden aus der Blase für gar nicht so schlecht. Zudem erleichtert dies ungemein, den „Laden“ intern unter Kontrolle und auf Trab zu bringen.

Manuel
Ich denke auch, dass Letta gerade diese Kombination aus Vision und Pragmatismus eigentlich recht glaubwürdig verkörpert. Als seinen Hauptschwachpunkt sehe ich, dass seine föderalistischen Neigungen für einige im Europäischen Rat ein rotes Tuch sein könnten. Und wenn 2023 in Italien eine Rechtskoalition übernimmt, könnte er wohl auch keine Hilfe von seiner eigenen nationalen Regierung erwarten.

Um wirklich Kommissionspräsident zu werden, bräuchte er deshalb viel Unterstützung aus dem Europäischen Parlament. Aber ich würde nicht ausschließen, dass ihm das gelingen könnte. Erfahrung in der großkoalitionären Konsensbildung hat er aus der nationalen Politik jedenfalls.

Sophie
Manuel, wir werden uns da nicht einig – Letta ist für mich der Inbegriff von Brüsseler Kompromiss und einer Riege an Politiker:innen, die nicht die Zugkraft haben, um Europa in Zukunft stärker aufzustellen. Mir wäre ein Macron lieber als ein Letta!

Julian
Das klingt wie ein Empfehlungsschreiben für Letta, um ihm den Skeptiker:innen im Europäischen Rat schmackhaft zu machen. 🙃

Alice Bah Kuhnke (EGP)

Alice Bah Kuhnke
Alice Bah Kuhnke.

Manuel
Letta vs. Macron wäre jedenfalls eine bemerkenswerte Paarung … Aber machen wir mal lieber weiter. Runde 2 beginne ich mit einer möglichen grünen Spitzenkandidat:in: Alice Bah Kuhnke. Sie war ab 2014 Kulturministerin in Schweden, wurde 2019 ins Europäische Parlament gewählt und ist dort Vize-Fraktionschefin. Zuletzt stellte die Grüne/EFA-Fraktion sie als Kandidatin für die Parlamentspräsidentschaft auf, was auch als Signal für 2024 zu verstehen sein könnte.

Außerdem wäre Bah Kuhnke die erste Spitzenkandidatin mit Migrationshintergrund – ihr Vater stammt aus Gambia. Für die grüne Wählerschaft wäre das ein starkes Symbol. Und: Bah Kuhnkes nationale Partei steht in Schweden sehr knapp an der Vier-Prozent-Hürde. Ein bisschen Rückenwind durch den Spitzenkandidateneffekt könnte hier wahltaktisch sehr gelegen kommen.

Julian
Stimme dir zu! Unter der Prämisse, das Ska Keller nicht den Merz macht, glaube ich vor allem, dass sie innerhalb der Partei sehr gute Chancen hat. Zudem hatten wir ja schon bei Weber vs. Stubb 2013 die Diskussion, ob nicht mal die Nordics an der Reihe seien sollten.

Auch thematisch deckt sie mit dem Bereich Medien ein Thema ab, das die EU noch weiter beschäftigen wird und gut zu den Grünen passt, wenn man es Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auslegt. Und sie war in Schweden ja nicht nur Kultur-, sondern auch Demokratieministerin.

Sophie
Grundsätzlich fände ich sie eine sehr gute Kandidatin. Natürlich ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Grünen die nächste Kommissionspräsident:in stellen – auch wenn sie im Europäischen Parlament inhaltlich sehr stark aufgestellt sind und junge und dynamische Parlamentarier:innen haben.

Julian hat auch Recht, dass die skandinavischen Länder in den EU-Spitzenpositionen nicht besonders gut vertreten sind. Allerdings darf man auch nicht vergessen, dass sie relativ euroskeptisch sind und Schweden zum Beispiel auch nicht zur Eurozone gehört. Insgesamt hat Bah Kuhnke deshalb wenig Chancen, Kommissionspräsidentin zu werden. Aber sie würde den Wahlkampf definitiv bereichern und wäre auch ein erfrischendes Gesicht im Vergleich zu den sonst oft etwas drögen Kandidat:innen.

Manuel
Fein, dann haben wir ja zumindest für die Grünen einen Konsens. 😄

Viktor Orbán (Rechte)

Viktor Orbán
Viktor Orbán.

Sophie
So, dann kommen wir jetzt zu den Rechtsextremen. Ich lehne mich etwas aus dem Fenster, aber wenn wir davon ausgehen, dass Viktor Orbán die Wahlen am 3. April verliert und Péter Márki-Zay der neue ungarische Premierminister wird, kann ich mir vorstellen, dass er sich 2024 als Spitzenkandidat aufstellen lassen würde. Immerhin hat er eine sehr klare europapolitische Linie – ein christliches Europa der souveränen Staaten. Das unterscheidet ihn von vielen seiner rechtsextremen Kolleg:innen.

Da Fidesz aus der EVP rausgeworfen wurde, würde er dafür eine neue rechte Europa-Partei gründen. Die aktuelle Justizministerin Judit Varga würde im Hintergrund die Strippen ziehen.

Manuel
Ui, jetzt wird es spannend! Das mit der neuen rechten Europapartei wird aber eine ganz schöne Herausforderung für Orbán. Sein Plan einer rechten Einheitsfraktion im Europäischen Parlament ist ja zuletzt eher ins Wasser gefallen. Und mit der aktuellen Ukraine-Krise ist gerade auch noch ein Thema sehr salient, über das sich die europäischen Rechten notorisch uneinig sind: der Umgang mit Russland und der Putin-Regierung. Auch das Verhältnis zwischen Orbán und der polnischen PiS (EKR), seinem wichtigsten europäischen Verbündeten, hat darunter zuletzt gelitten.

Sophie
Grundsätzlich wäre das ja keine schlechte Sache, wenn Orbán es nicht schafft. Aber leider glaube ich, dass die rechtsextremen Parteien genügend machtpolitisches Verständnis haben, um zu erkennen, wann es für sie hilfreich ist, eine gemeinsame Partei zu gründen. Und zu Russland stimme ich dir absolut zu – aber ich glaube nicht, dass diese Krise bis 2024 so tagesaktuell bleiben wird.

Manuel
Bis 2024 nicht, aber vielleicht bis zum Sommer. Und wenn Orbán die nationale Parlamentswahl verliert, braucht er ein schnelles Comeback.

Julian
Ich bin auch etwas skeptisch, dass er das versuchen wird. Zum einen sehe ich die Chancen ähnlich gering wie Manuel – zumal die Frage ist, wie die EKR sich dazu verhalten sollte: sich selbst auflösen, um eine Orbán-Show mitzuinitiieren?

Zum anderen hat er wenig zu gewinnen. Ich glaube kaum, dass er sich die Rolle als Europaabgeordneter antun wird, und mehr ist für ihn als Spitzenkandidat nicht drin. Auch muss jemand für Fidesz nach einer gescheiterten Wahl in Ungarn die Blockade demokratischer Reformen organisieren. Da ist er auf jeden Fall als graue Eminenz gefragt.

Manuel
Was die EKR bei der Europawahl macht, ist auch sonst spannend: 2014 hatten sie ja noch gar keine Spitzenkandidat:in, 2019 stellten sie dann den gut vernetzten, aber wenig prominenten Jan Zahradil auf. Im Vergleich dazu würde Orbán zumindest mehr öffentliche Aufmerksamkeit wecken. Aber die bekäme er vielleicht auch, ohne formal Spitzenkandidat zu sein.

Julian
Und es würde ihm den Anschein von etwas mehr Bürgerlichkeit geben, wenn er bei der EKR landet. Eigentlich wäre sie für ihn ein guter Ersatz für die EVP, aber dafür hätte er freiwillig gehen müssen und nicht als Bittsteller nach dem Rausschmiss.

Sophie
Julian, ist Fidesz nicht freiwillig gegangen? Offiziell wurden sie ja nicht rausgeschmissen … 😉

Katarina Barley (SPE)

Katarina Barley
Katarina Barley.

Julian
Mit meinem nächsten Tipp möchte ich daran erinnern, dass das Spitzenkandidatenprinzip immer eine deutschsprachig dominierte Veranstaltung war. Also tippe ich auf ein Rennen Von der Leyen gegen Barley.

Manuel
😂

Julian
Die SPD muss ja noch was tun, damit sie den Grünen den Kommissarsposten abluchsen kann. Außerdem wäre das eine Nominierung in guter Schulz-Tradition: Für Europa, aber von anderen politischen Parteien wenig unterscheidbar.

Sophie
Das ist ein wichtiger Punkt – die Spitzenkandidatenfrage ist immer noch eine deutsch-deutsche Debatte zu Europa.

Manuel
Na ja, aber eine Kandidatur 🇩🇪 vs. 🇩🇪 … Hat hier jemand „Hegemon wider Willen“ gesagt?

Sophie
Neeeeeeeein. Niemals!

Julian
Nein, weil du es nicht für realistisch hältst oder nein, bitte nicht Barley?

Sophie
Nein zu „Hegemonie wider Willen“: weil es die Deutschen ja nicht wahrhaben wollen, dass sie zu viel Macht in Europa haben, auf ihrer Führungsposition sitzen, aber wenig damit anfangen – weil genau das deutschen Interessen dient, man es aber öffentlich niemals zugeben würde. Außerdem sehen sich die Deutschen immer noch als die „vorbildlichen Europäer“, was dann schnell auch mal in ein Narrativ der „besseren Europäer“ umschlägt.

Julian
Mit Volker Kauder: „In Europa wird Deutsch gesprochen.“

Manuel
Ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass die SPE eine deutsche Kandidat:in nominiert. Klar, die SPD hätte gute Gründe, das zu wollen. Aber Barley hat in der Europapartei bei weitem nicht die Stellung, die Martin Schulz 2014 hatte. Und wahlstrategisch macht es für die SPE mehr Sinn, ein breites geografisches Spektrum anzusprechen, als diesen Europawahlkampf zu einem deutsch-deutschen Spitzenkandidatinnenduell zu machen.

Sophie
Ich glaube auch nicht, dass die SPE Barley nominiert. Sie wurde ja 2019 nach Brüssel geschickt, weil die SPD anscheinend keine anderen Kandidat:innen hatte, die sich genügend mit Europa auskannten. Das sagt viel über die europapolitische Aufstellung der SPD aus.

Manuel
Na, die SPD hatte 2019 auch Udo Bullmann, der sogar S&D-Fraktionschef war. Nur kannte den in der deutschen Öffentlichkeit kaum jemand, und deshalb erschien er der nationalen Parteispitze nicht wahlkampftauglich genug.

Sophie
Ja, genau das meine ich – keine Europapolitiker:innen, die genügend Profil haben.

Julian
Die SPD und die Europapolitik ist in der Tat ein spannendes Thema. Einerseits gibt es seit Schulz keine klare Führungspersönlichkeit mehr, die sich für Europa einsetzt. Andererseits finden sich aber so viele Proeuropäer:innen in der Partei, dass sie es geschafft haben, die CDU bei der europapolitischen Programmatik zu überholen. Und genau dieses Profil trifft auf Barley zu. Deshalb glaube ich schon, dass die SPD und sie es versuchen werden.

Rutte, Marin, Meloni

Sanna Marin
Sanna Marin.

Manuel
Zum Abschluss noch zwei Blitzrunden, in denen wir nur noch die Namen nennen, aber nicht mehr ausführlich kommentieren. Julian, du bist gleich noch einmal dran.

Julian
OK. In der ersten Schnellrunde werfe ich den Nicht-Spitzenkandidaten Mark Rutte ein. Ich glaube, dass er als Vertreter der „frugal four“ oder „transformative five“ Profil in der Europapolitik hat. Aber wenn er Kommissionspräsident wird, dann geht er über den Europäischen Rat ohne Spitzenkandidatur.

Sophie
Dann mache ich weiter – auch eine der „frugal five“, aber für die Sozialdemokrat:innen: Sanna Marin aus Finnland. Sie ist noch jung, hat Regierungserfahrung und vertritt ein kleines Land, das aber viel Übung mit Koalitionen hat – und das ist ja bekanntlich in der EU besonders wichtig.

Manuel
He, Sanna Marin wollte ich als Nächstes sagen! 😠 Wobei eine mögliche Kandidatur von ihr stark davon abhängen dürfte, wie die finnische Parlamentswahl nächstes Jahr verläuft.

Na gut, dann stattdessen wieder eine Italienerin – diesmal aus dem rechten Spektrum: Giorgia Meloni, derzeit Parteichefin sowohl der nationalen Partei FdI als auch der Europapartei EKR. Meloni wird 2023 versuchen, italienische Regierungschefin zu werden, aber falls sie damit scheitert, muss sie sich neu erfinden. Dann könnte eine europäische Zweitkarriere vielleicht ein Ausweg sein.

Eickhout, Dombrovskis, Kurz

Sebastian Kurz
Sebastian Kurz.

Und weil ich gleich noch mal dran bin, auch noch ein Grüner (die EGP wird ja sicher wieder zwei Spitzenkandidat:innen haben – das erhöht die Trefferchancen): Bas Eickhout, der bereits 2019 Spitzenkandidat war, könnte noch einmal antreten. Tatsächlich gibt es bei den Grünen fast schon eine Tradition, von der Doppelspitze im Fraktionsvorsitz und bei den Spitzenkandidat:innen in jeder Wahlperiode nur eine Person auszutauschen.

Sophie
Noch ein potenzieller Kandidat für die EVP: Valdis Dombrovskis, derzeit Exekutiver Vizepräsident der Kommission und Kommissar für Handel. Er hat in der Von-der-Leyen-Kommission ziemlich viel Macht, kommt aus einem kleinen Land und ist sehr kompromissfähig – kein großer Rhetoriker, aber jemand, der Brüssel sehr gut kennt. Natürlich würde er aber nur antreten, sofern von der Leyen nicht mehr kandidiert.

Manuel
Dombrovskis wäre jedenfalls ein plausibler Kandidat, wenn man Akzeptanz durch den Europäischen Rat gegenüber Charisma und öffentlicher Sichtbarkeit priorisiert.

Julian
Oder Sebastian Kurz nutzt die Europawahl für ein Comeback auf die politische Bühne. Wenn er bis 2024 in Österreich einen zumindest halbgaren Freispruch bekommt, wäre er parteiintern sicherlich ein mehrheitsfähiger Kandidat. Und PR-technisch ist er auch ohne Manipulationen nicht vollständig verloren.

Manuel
Ha – zum Abschluss noch ein Political-fiction-Szenario von Julian! Aber wer eine von der Leyen im Team hat, kann sich wohl auch einen Kurz leisten. 😉

Hier unsere finalen Aufstellungen:

Julian Sophie Manuel
Ursula von der Leyen Stéphane Séjourné Enrico Letta
Katarina Barley Viktor Orbán Alice Bah Kuhnke
Mark Rutte Sanna Marin Giorgia Meloni
Sebastian Kurz Valdis Dombrovskis Bas Eickhout

Wer die meisten Treffer hat, werden wir 2024 sehen. Die symbolische Preisverleihung gibt es dann im ersten europapolitischen Quartett nach der Europawahl – stay tuned! 🏆



Julian Plottka ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Jean-Monnet-Lehrstuhl für Europäische Politik an der Universität Passau und an der Universität Bonn.


Sophie Pornschlegel ist Senior Policy Analyst am European Policy Centre in Brüssel.

Manuel Müller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Duisburg-Essen und betreibt das Blog „Der (europäische) Föderalist“.

Bilder: Ursula von der Leyen: European Union 2020 – Source: EP [CC BY-NC 4.0], via Flickr; Stéphane Séjourné: ALDE Party [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Enrico Letta: The Jacques Delors Institute [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons; Alice Bah Kuhnke: Fredrik Hjerling [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Viktor Orbán: Steffen Prößdorf [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons; Katarina Barley: schnittstelle berlin / Marco Jentsch [CC BY-ND 2.0], via Flickr; Sanna Marin: Laura Kotila / Finnish Government [CC BY 2.0], via Flickr; Sebastian Kurz: European People’s Party [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons; Porträts Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Manuel Müller: privat [alle Rechte vorbehalten].

The European Policy Quartet: Who will be the leading candidates in the 2024 European elections?

With:
  • Julian Plottka, University of Passau / University of Bonn
  • Sophie Pornschlegel, European Policy Centre, Brussels
  • Manuel Müller, University of Duisburg-Essen / Der (europäische) Föderalist, Berlin
This conversation was conducted as an online chat in German. The transcript below has been edited and translated.

Ursula von der Leyen in the European Parliament
In 2019, Ursula von der Leyen did not run as a leading candidate. Will she make up for it in 2024?

Manuel
In the European Parliament, the second half of the parliamentary term has just begun: it’s only two and a half years until the next European elections! And even though in reality it’s much too early for that, we want to use this occasion to venture a few speculations. Who will the European parties put forward as their leading candidates in 2024, and who will become the next Commission president?

Today’s quartet (or rather tercet, since Carmen unfortunately had to cancel at short notice) is inspired by the primary drafts of the US blog FiveThirtyEight. In four rounds, we will take turns in naming politicians who could be nominated as European leading candidates (by any party) in the next election. No name may be picked twice – so in total we’ll be talking about twelve possible candidates. The winner is whoever names the most real 2024 leading candidates. A bonus point goes to who picks the actual next Commission President.

To make sure everything is fair, I have determined our order using a random generator: Julian, Sophie, Manuel. The second and fourth rounds are in reverse order. And off we go! 🏁

Ursula von der Leyen (EPP)

Julian
My first pick is Ursula von der Leyen.

Manuel
Well, that’s not a big surprise.

Julian
In my opinion, three things speak for her:

  1. The EPP is currently not fully behind the concept of the leading candidates.
  2. For the CDU, a German leading candidate is the only (halfway) realistic chance of being represented in the next Commission.
  3. According to the coalition agreement, she would also have the grudging support of the German traffic light coalition.

Sophie
… as long as Ms von der Leyen’s mobile phones from her time in the German Ministry of Defence and the text messages she exchanged with the heads of the pharmaceutical companies during the Corona crisis don’t turn up. But leaving that aside: to me, it also seems realistic that von der Leyen will be the EPP’s leading candidate in the next European elections.

Julian
And if the scandal happens to break during the electoral campaign, that could at least boost media coverage of the election. 😉

Manuel
I also think that von der Leyen is an obvious candidate. If she wants to have a second term and no scandal intervenes, I can hardly imagine that the EPP will nominate someone else. A year ago, there was some criticism of her style of government in connection with the Corona vaccine procurement. But even José Manuel Durão Barroso got a second term as Commission President at his time.

Sophie
And if you compare the two, I prefer a second term for von der Leyen. Despite all the criticism last year, in retrospect she has achieved quite a lot as Commission President, especially in view of the Corona crisis that has overshadowed everything. We now have the recovery fund; and the Digital Markets Act and Digital Services Act and the
Fit for 55 climate package are important legislative projects. As so often, I would rather criticise the governments in the Council for not coordinating enough during the crisis and for continuing to block many things.

Manuel
In any case, for the EPP von der Leyen could also be an easy way out of the question of how much you want to fight for the leading candidates process. If she wins as a leading candidate, the European Council would simply nod off her re-election, and a new institutional conflict could be avoided.

However, things might get interesting if the EPP is not the strongest force in the European elections and von der Leyen does not have a majority in Parliament, but the European Council nominates her anyway – arguing that she was a leading candidate after all. That would certainly bring us back to discussing what exactly is the meaning of the “leading candidates procedure”.

Julian
I’m also not sure whether von der Leyen would do the leading candidates principle any good. I’m afraid that the election campaign would only reveal her lack of public visibility as Commission President and offer Eurosceptics a great opportunity to turn the European elections into a vote against the EU.

Stéphane Séjourné (RE)

Stéphane Séjourné
Stéphane Séjourné.

Manuel
Let’s move on. Sophie, what is your first pick?

Sophie
I think that Stéphane Séjourné, the current leader of Renew Europe and “protégé” of Emmanuel Macron, will be the leading candidate for the Liberals. In the last European elections, Renew Europe still rejected the leading candidate procedure and instead proposed a team of seven people. But if Macron can now position Séjourné as his person, then I think they could agree on him.

Of course, this scenario assumes that Macron remains President of France after the national elections in April. If not, then I could also imagine Macron trying to become Commission President himself.

Julian
I also had Macron on my list for Renew if he is not re-elected. I think he has traction as a person. But I am a bit skeptical as to whether he is strong enough within the ALDE to be able to push through a protégé.

Manuel
Séjourné has certainly made an impressive rise in the European Parliament – from a largely unknown newcomer to the leader of the parliamentary group. But I also see the problem that his and Macron’s LREM party is only a member of the parliamentary group Renew Europe, not of the associated European party ALDE. It will be interesting to see if they can get the ALDE to nominate a “group leading candidate” instead of a “party leading candidate”.

Macron himself seems less likely to me. If he loses the presidential election, he’ll be gone, don’t you think?

Julian
He’s a little young for that, isn’t he? He probably won’t go to the Delors Institute as a researcher now. And I can’t imagine that a French President who has been voted out of office will try to run again at national level.

Sophie
That’s a good point about the ALDE, Manuel – but the European parties won’t be so powerful by 2024 that they can assert themselves. I assume that in practice it is ultimately the national parties within the parliamentary groups who will decide who becomes the leading candidate.

Julian
Yes, although: If the liberal parties at the national level have an interest in the position, the Renew-is-not-ALDE argument would of course be opportune to keep out unwanted French competition. The only question is whether there will be that much battle anyway.

Sophie
I would also say that Macron will continue to hold a position of power if he loses the presidential election. In my view, he is not only pro-European out of opportunism. The post of Commission President would therefore be an interesting career option for him.

Enrico Letta (PES)

Enrico Letta
Enrico Letta.

Manuel
Here comes a possible PES leading candidate: Enrico Letta, currently leader of Italy’s Partito Democratico. He was national Prime Minister in 2013/14, so he has the necessary pedigree for the European Council. Moreover, he never lost an election (at the time he was ousted in an intra-party cabal by Matteo Renzi), and he is doing reasonably well in the polls at national level: under his leadership, the PD has stabilized as the strongest single party, even if the right-wing camp, consisting of FdI (ECR) and Lega (ID), is clearly ahead overall.

In 2023, Letta is likely to run for Italy’s prime minister, but has little chance of actually being elected. After that, EU leading candidate could be an obvious next career step for him. All the more so because he is interested in European politics, dreams of a “United States of Europe” and (unlike Macron) has actually been President of the Jacques Delors Institute.

Julian
That would fit well with the narrative of Italy’s transformation and would be a symbolic acknowledgment of current Italian politics, so I can imagine an Italian having a good chance of being nominated in the European Council.

However, you’re contradicting yourself a little when you say that he’s never lost an election, but then assume that he will do so in 2023. 😉 That could be a flaw after all.

Sophie
Yes, that seems like a possibility to me. However, I am not sure that he would make a good Commission President. For me he is the epitome of a European politician from the “bubble” – his station at the Jacques Delors Institute in France makes that clear. He is certainly a candidate that the EPP would also be happy with, but given that the Commission needs a strong figure to hold its own against the Council, I don’t know if he would be the right person. It is important that the next Commission President has a vision (such as the “United States of Europe”) but also a realistic plan to move the institution and the EU as a whole forward.

Julian
However, in recent years it was rather the Commission Presidents who did not come out of the bubble who were close to the European Council. In terms of the Commission representing the supranational interest, I don’t think someone from the bubble is all that bad. In addition, having some EU experience makes it a lot easier to get the “shop” under control internally.

Manuel
I also think that Letta actually embodies this combination of vision and pragmatism quite credibly. I see as his main weakness that his federalist leanings could be a red rag for some in the European Council. And if a right-wing coalition takes over in Italy in 2023, he could probably not expect any help from his own national government either.

In order to really become President of the Commission, he would therefore need a lot of support from the European Parliament. But I wouldn’t rule out that he might succeed. In any case, he has experience in building cross-party consensus from national politics.

Sophie
Manuel, we won’t agree on that – for me, Letta is the epitome of a Brussels compromise and represents a squad of politicians who do not have the traction to make Europe stronger in the future. I’d rather have a Macron than a Letta!

Julian
That sounds like a letter of recommendation for Letta to make him palatable to the skeptics in the European Council. 🙃

Alice Bah Kuhnke (EGP)

Alice Bah Kuhnke
Alice Bah Kuhnke.

Manuel
In any case, Letta vs. Macron would be a remarkable pairing … But let’s get on with it. I start round 2 with a possible Green leading candidate: Alice Bah Kuhnke. She was Minister of Culture in Sweden from 2014, was elected to the European Parliament in 2019 and is vice-president of the Greens/EFA parliamentary group. Recently, the group nominated her as a candidate for President of the Parliament, which could be understood as a signal for 2024.

Moreover, Bah Kuhnke would be the first leading candidate with a migration background – her father comes from Gambia. This could be a strong symbol for the Green electorate. And: Bah Kuhnke’s national party is very close to the four-percent threshold in Sweden. A little tailwind from the leading-candidates effect could come in very handy here in terms of electoral tactics.

Julian
I agree with you! Under the premise that Ska Keller does not run for a third time, I believe above all that Bah Kuhnke has very good chances within the party. In addition, during the Weber vs. Stubb campaign in 2013 we already had a discussion as to whether it shouldn’t be the Nordics’ turn now.

As a media expert, she also covers a topic that the EU will continue to work on and that fits well with the Greens if you look at it in the context of democracy and the rule of law. And in Sweden she was not only Minister of Culture, but also for Democracy.

Sophie
In general, I think she’s a very good candidate. Of course, it is very unlikely that the next Commission President will be a member of the Greens – even if they are very strong in terms of content and have many young and dynamic people in the European Parliament.

Julian is also right that the Scandinavian countries have not been particularly well represented in the top EU positions. However, one must also not forget that they are relatively Eurosceptic and that Sweden, for example, is not part of the euro zone either. All in all, Bah Kuhnke therefore has little chance of becoming Commission President. But she would definitely enrich the election campaign and would also be a refreshing face compared to the otherwise often somewhat boring candidates.

Manuel
Fine, we have a consensus then – at least for the Greens. 😄

Viktor Orbán (far right)

Viktor Orbán
Viktor Orbán.

Sophie
So let’s go to the far right. I’m going out on a limb here, but assuming Viktor Orbán loses the April 3 elections and Péter Márki-Zay becomes Hungary’s new prime minister, I imagine Orbán would put himself forward as the leading candidate in 2024. After all, he has a very clear line on European policy – a Christian Europe of sovereign states. This distinguishes him from many of his colleagues on the far right.

Since Fidesz was kicked out of the EPP, he would set up a new right-wing European party for this. His current justice minister, Judit Varga, would pull the strings in the background.

Manuel
Wow, now it’s getting exciting! But that part with setting up a new right-wing European party will be quite a challenge for Orbán. His plan for a unified right-wing group in the European Parliament turned out a blow in the water. And with the current Ukraine crisis, the question of how to deal with Russia and the Putin government has become very salient – a topic on which the European far right notoriously disagrees. The relationship between Orbán and the Polish PiS (ECR), his most important European ally, has already suffered as a result.

Sophie
In principle, it wouldn’t be a bad thing if Orbán didn’t make it. But unfortunately I believe that the far-right parties have enough understanding of power politics to recognize when it helps them to found a common party. And I totally agree with you on Russia – but I don’t think this crisis will stay as salient as today until 2024.

Manuel
Not until 2024, but maybe until summer. And if Orbán loses the national parliamentary election, he needs a quick comeback.

Julian
I’m also a bit skeptical whether he’ll try that. First, I agree with Manuel that his chances are pretty slim. Just look at it from the point of view of the ECR: should they disband themselves only in order to help initiate an Orbán show?

Second, he has little to gain. I don’t think he’ll want to take on the role of an MEP – and that’s all there is in it for him if he becomes a leading candidate. Also, if Fidesz fails at the Hungarian election, someone has to organize the blocking of national democratic reforms. They will definitely need him as a gray eminence there.

Manuel
What the ECR will do in the European elections is also interesting in other respects: in 2014 they didn’t have a leading candidate at all, in 2019 they put forward the well-connected but little-known Jan Zahradil. In comparison, Orbán would at least attract more public attention. But he might also get that without formally being a leading candidate.

Julian
And ending up with the ECR could give him a little more centre-right appearance. Actually, from his point of view they might have been a good replacement for the EPP, but he should have gone there voluntarily and not as a supplicant after being kicked out.

Sophie
Julian, didn’t Fidesz leave voluntarily? Officially, they were not kicked out after all … 😉

Katarina Barley (PES)

Katarina Barley
Katarina Barley.

Julian
With my next pick, I would like to remind you that the leading candidates principle was always an event dominated by German speakers. So I guess it will come down to a face-off between von der Leyen and Katarina Barley.

Manuel
😂

Julian
Remember that the SPD still has to do something to wrest the commissioner post from the Greens. Besides, this would be a nomination in the tradition of Martin Schulz: for Europe, but little distinguishable from other political parties.

Sophie
That is an important point there – the leading candidates question is still a rather German debate about Europe.

Manuel
Well, but a candidacy 🇩🇪 vs. 🇩🇪 ... Did someone say “reluctant hegemon” here?

Sophie
Nooooooo. Never!

Julian
No, because you don’t think it’s realistic or no, not Barley, please?

Sophie
No to “reluctant hegemony”: because Germans don’t want to admit that they have too much power in Europe, that they sit in their leadership position, but don’t do much with it – because that is exactly what serves German interests, but nobody would ever admit it publicly. And then, Germans still see themselves as the “exemplary Europeans”, which then quickly turns into a narrative of “better Europeans”.

Julian
To quote Volker Kauder: “Europe is speaking German now.”

Manuel
Honestly, I don’t think the PES will nominate a German candidate. Sure, the SPD might have good reasons to want that. But Barley is far from having the position within the European party that Martin Schulz had in 2014. And in terms of electoral strategy, it makes more sense for the PES to appeal to a broad geographical spectrum than to turn this European election campaign into an all-German leading candidates duel.

Sophie
I don’t believe that the PES will nominate Barley either. She was sent to Brussels in 2019 because the SPD apparently had no other candidates who knew enough about Europe. That says a lot about the SPD’s position on European policy.

Manuel
Well, the SPD also had Udo Bullmann in 2019, who was even the leader of the S&D parliamentary group. But hardly anyone in the German public knew him, and that’s why the national party leadership thought he wasn’t suitable for the election campaign.

Sophie
Yes, that’s exactly what I mean – no European politicians who have enough profile.

Julian
The SPD and European politics is indeed an exciting topic. On the one hand, since the days of Martin Schulz there has not been a party leader with a clear commitment to Europe. On the other hand, there are so many pro-Europeans in the party that they have managed to overtake the CDU in terms of European policy. And that profile fits Barley. That’s why I do believe that she and the SPD will try.

Rutte, Marin, Meloni

Sanna Marin
Sanna Marin.

Manuel
To finish, two lightning rounds in which we only mention the names, but don’t comment them in detail. Julian, it’s your turn again.

Julian
OK. In the first quick round, I throw in the non-leading-candidate Mark Rutte. I think he has a strong profile in EU politics as a representative of the “frugal four” or “transformative five”. But if he becomes Commission President, he will go through the European Council without being a leading candidate.

Sophie
I’ll continue – also with one of the “frugal five”, but for the Social Democrats: Sanna Marin from Finland. She is still young, has government experience and represents a small country that has a lot of practice with coalitions – and as we all know, that is particularly important in the EU.

Manuel
Hey, Sanna Marin is who I wanted to say next! 😠 Although a possible candidacy of hers will depend heavily on how the Finnish parliamentary elections go next year.

Well, then another Italian instead – this time from the far right: Giorgia Meloni, currently party leader of both the national party FdI and the European party ECR. Meloni will try to become Italy’s prime minister in 2023, but if she fails, she will have to reinvent herself. A second career at the European level might be a way out then.

Eickhout, Dombrovskis, Kurz

Sebastian Kurz
Sebastian Kurz.

And because it’s my turn again, here’s another Green, too (the EGP will surely have two leading candidates again – that increases the chances of a correct pick): Bas Eickhout, who was already a leading candidate in 2019, could run again. In fact, it has almost become a tradition among the Greens to change only one of their two co-leaders in each electoral term, both regarding the parliamentary group presidents and the leading candidates.

Sophie
Another potential candidate for the EPP: Valdis Dombrovskis, currently Executive Vice-President of the Commission and Commissioner for Trade. He has quite a lot of power in the von der Leyen Commission, comes from a small country and is very capable of compromise – not a great rhetorician, but someone who knows Brussels very well. Of course, he would only be a leading candidate if von der Leyen does not run again.

Manuel
Dombrovskis would certainly be a plausible candidate if one prioritises acceptance by the European Council over charisma and public visibility.

Julian
Or Sebastian Kurz could use the European elections to make a comeback to the political stage. If he gets at least a half-baked acquittal in Austria by 2024, he would certainly be a candidate capable of achieving a majority within the party. And in terms of publicity, he is not completely lost even without manipulating polls.

Manuel
Ha – Julian ends this with a political fiction scenario! But if you have a von the Leyen in your team, you can probably also afford a Kurz. 😉

So, here are our final line-ups:

Julian Sophie Manuel
Ursula von der Leyen Stéphane Séjourné Enrico Letta
Katarina Barley Viktor Orbán Alice Bah Kuhnke
Mark Rutte Sanna Marin Giorgia Meloni
Sebastian Kurz Valdis Dombrovkis Bas Eickhout

We will see who has the most hits in 2024. The symbolic award ceremony will take place during the first European Policy Quartet after the European elections – stay tuned! 🏆



Julian Plottka is a research associate at the Jean Monnet Chair of European Politics at the University of Passau and at the University of Bonn.


Manuel Müller ist a postdoctoral researcher at the University of Duisburg-Essen and runs the blog „Der (europäische) Föderalist“.

Pictures: Ursula von der Leyen: European Union 2020 – Source: EP [CC BY-NC 4.0], via Flickr; Stéphane Séjourné: ALDE Party [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Enrico Letta: The Jacques Delors Institute [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons; Alice Bah Kuhnke: Fredrik Hjerling [CC BY-NC-ND 2.0], via Flickr; Viktor Orbán: Steffen Prößdorf [CC BY-SA 4.0], via Wikimedia Commons; Katarina Barley: schnittstelle berlin / Marco Jentsch [CC BY-ND 2.0], via Flickr; Sanna Marin: Laura Kotila / Finnish Government [CC BY 2.0], via Flickr; Sebastian Kurz: European People’s Party [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons; portraits Julian Plottka, Sophie Pornschlegel, Manuel Müller: private [all rights reserved].

08 Februar 2022

„Wir wünschen uns, dass wir in der EU gemeinsam den Mut zu einer neuen Verfassung finden“: Ein Interview mit Vincent-Immanuel Herr und Martin Speer

Vincent-Immanuel Herr (r) und Martin Speer (l).

D(e)F: Viele Interviews auf diesem Blog beginnen mit der Frage: „Wenn Sie eines an der EU ändern könnten, was wäre es?“ Bei euch erscheint diese Frage etwas redundant, schließlich habt ihr erst letztes Jahr ein Buch mit 95 Vorschlägen zur Rettung der EU veröffentlicht. Trotzdem: Gibt es darunter einen, der euch besonders am Herzen liegt oder den ihr besonders wichtig findet?

Herr & Speer: Danke für die Frage und dein Interesse an dem Buch. Wie du schon gesagt hast, sind wir der Überzeugung, dass die EU zu einer ganzen Reihe von Themen Reformen umsetzen sollte. Als Grundlage für einen Neustart der EU oder eine vertiefte Integration sehen wir aber ganz klar die Erarbeitung und Ratifizierung einer Europäischen Verfassung. Der Vorschlag findet sich entsprechend auch gleich in der ersten These von Europe For Future.

Einen Verfassungsanlauf hat es bereits 2004/05 gegeben, letztlich ist die Europäische Verfassung dann an nationalen Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert. Wir finden, es ist Zeit, einen neuen Versuch zu wagen. In einer Verfassung sehen wir nicht nur ein rechtliches Rahmengerüst, sondern auch ein Bekenntnis zu europäischen Grundwerten und einer gemeinsamen europäischen Identität. Im Buch schreiben wir: „Nur eine Verfassung beschreibt, wie wir operieren und zusammenleben wollen, und zugleich, wer wir sein wollen.“

Wie wir leben und wer wir sein wollen

Auf unseren Europaforschungsreisen durch über 20 EU-Staaten ist uns in Gesprächen immer wieder das Fehlen oder zumindest die geringe Relevanz gemeinsamer europäische Werte aufgefallen. In Diskursen zur EU geht es viel um Finanzen, Wirtschaft, politischen Einfluss und Sicherheitsfragen, aber zu selten um die tieferen Fragen, die sich mit den Grundwerten hinter diesen eher logistischen und operativen Aspekten beschäftigen. Welche Werte sind uns wichtig? Welche Überzeugungen sind nicht verhandelbar? Welche Rolle spielen Europas Bürger:innen auch über den Nationalstaat hinaus? Wie wollen wir zusammenleben? Wo sehen wir das europäische Projekt langfristig?

Es ist unsere Hoffnung, dass der Weg hin zu einer Europäischen Verfassung die Möglichkeit bietet, ehrlich und in der Breite über diese und andere Fragen zu sprechen und so ein wenig mehr ein gemeinsames Gerüst des Selbstverständnisses und europäischen Identität aufzubauen. Wir sehen an vielen aktuellen Entwicklungen, sei es bei den Angriffen auf Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit, beim Umgang mit Migration oder der LGBTQI-Community oder auch im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, dass das fehlende Gerüst an europäischen Werten und Überzeugungen die Union zunehmend im Inneren schwächt und zersetzt. Eine Verfassung kann hier zu einem wichtigen europäischen Stabilitätsanker werden und Orientierung auch über temporäre nationale Stimmungslagen hinaus liefern.

Verfassungsgebung als partizipativer Prozess

Worin genau würde sich eine europäische Verfassung denn von den heutigen EU-Verträgen unterscheiden? Inhaltlich wurden die 2004/05 geplanten Reformen ja im Vertrag von Lissabon umgesetzt. Unter Jurist:innen ist die Bezeichnung der Verträge als „europäisches Verfassungsrecht“ heute gang und gäbe. Und auch auf die Frage, wer wir sein wollen, bietet das Vertragswerk doch schon einige ganz brauchbare Antworten, zum Beispiel mit den Werten und Zielen in Art. 2 und 3 EUV und natürlich mit der Grundrechtecharta.

Ist der Vorschlag, die Verträge durch eine Verfassung zu ersetzen, also mehr eine Frage der Symbolik – dass wir ein einheitliches, möglichst allgemeinverständlich formuliertes Dokument bekommen, das nicht mehr mit „Seine Majestät der König der Belgier, Ihre Majestät die Königin von Dänemark …“ beginnt, sondern mit „Wir, die europäischen Bürger:innen“? Oder geht es eher um den Prozess – um die Hoffnung, dass ein neuer Verfassungskonvent mit zivilgesellschaftlicher Beteiligung dringend benötigte Reform- und Wertedebatten anstoßen könnte?

Uns geht es um beides, den Prozess und das Resultat. Lernen sollten wir in jedem Fall aus den Fehlern des Verfassungsversuchs der 2000er Jahre. Damals wurde der Prozess als bürgerinnenfern und elitär kritisiert. In diesem Sinne muss der neue Anlauf deutlich mehr in die Breite gehen und Bürger:innen möglichst über den gesamten Prozess hinweg mitnehmen. Die aktuelle Konferenz zur Zukunft Europas geht schon in eine gute Richtung. Doch es wurden nicht ausreichend Anstrengungen unternommen, die Konferenz wirklich bekannt und auch relevant zu machen. Das große Ziel fehlt am Ende.

Eine Europäische Verfassung könnte Ziel für solch einen partizipativen Prozess sein. Ein neuer Verfassungskonvent, der Bürger:innen aus allen Mitgliedstaaten sowie Politiker:innen der EU- und nationalstaatlichen Ebene zusammenbringt. Alle, die nicht Teil des Verfassungskonvents sein können, sollten die Möglichkeit erhalten, über eine Online-Plattform ihre Perspektiven einzubringen. Außerdem sollten in den Regionen Europas, ähnlich wie es im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas auch möglich ist, Zusammenkünfte und Gesprächsrunden stattfinden, die helfen, Stimmen und Perspektiven aus der Breite der Gesellschaft in den Prozess einfließen zu lassen.

Europaweites Ratifikationsreferendum

In der Verfassungsthese in Europe For Future schlagen wir auch die Idee vor, die Verfassung nicht bloß national ratifizieren zu lassen, sondern durch ein EU-weites Referendum. Zu Volksabstimmungen äußern wir uns noch mehr im Detail in These 22, aber wir finden die Idee eines solchen direktdemokratischen Instruments im Kontext einer Verfassung besonders interessant: Hier bestünde die Möglichkeit, zu solch fundamentalen Fragen eine europäische Öffentlichkeit herzustellen (und damit den Fehler von 2005, diese Fragen zu nationalisieren, zu vermeiden). Der Vorschlag eines EU-Referendums zur Verfassungsratifizierung ist übrigens inspiriert von einem ZEIT-Online-Artikel von Steffen Dobbert und Stefan Lorenzmeier.

Wir wünschen uns, dass wir in der EU gemeinsam den Mut finden, das Verfassungsvorhaben mit Energie und Frische neu aufzulegen. Dabei geht es uns keinesfalls nur um die Symbolik einer Verfassung, wir glauben, dass gerade der partizipative Prozess auf dem Weg hin zu diesem Dokument, zu einem gesteigerten europäischen Bewusstsein und zu mehr Ernsthaftigkeit und Ambition im Umgang mit dem europäischen Einigungsprojekt selbst führen kann. Das ist auch nötig. Gerade weil Europa vor so gewaltigen Herausforderungen im Angesicht von Klimawandel, dem Aufstieg Chinas und der digitalen Wende steht, braucht die EU eine Verfassung, die als Kompass in unruhiger See dient und den Kontinent zusammenhält.

Blockaden lösen durch unterschiedliche Geschwindigkeiten

Wäre es nach dem Europäischen Parlament gegangen, dann wäre die Idee, die Konferenz zur Zukunft Europas in eine europäische Verfassung münden zu lassen, wahrscheinlich längst umgesetzt. Gescheitert ist dieser Ansatz an den nationalen Regierungen im Rat, unter denen es viele gibt, die ambitionierte EU-Reformen scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Vermutlich würden auch viele andere der Vorschläge in Europe For Future im Parlament eine Mehrheit finden, aber nicht im Rat. Wie soll man mit dieser Blockadesituation in der Praxis umgehen?

Das ist eine schöne Formulierung für die Trägheit manch nationaler Regierungen, was große Reformprojekte angeht. Grundsätzlich sprichst du damit eine Kernfrage der Zukunft des Europäischen Projektes an: Wo soll die Reise hingehen? Brauchen wir mehr Europa oder haben wir schon mehr als genug? Richtig ist, dass bei diesen großen Fragen – also besonders wenn es um eine weitere Vertiefung der Europäischen Integration geht – auf absehbare Zeit wenig Einigung zwischen den 27 nationalen Regierungen zu erwarten ist. Das wird insofern ein Problem, da für manche Staaten perspektivisch ein Austritt in der Rhetorik, im Denken und womöglich im Handeln näherliegt als ein Verbleib in der EU. Wir wollen keine weiteren EU-Mitglieder verlieren.

Hinzu kommt, dass durch die potenzielle Aufnahme weiterer Staaten das aktuelle Set-up schon wirklich stark an seine Grenzen kommt. Wir müssen Druck aus dem Kessel nehmen. Wir machen daher im Buch bewusst ein Thema auf, das uns bisher zu oft als Tabu erschienen ist und in den letzten Jahren nicht noch einmal ernsthaft und in der Breite diskutiert wurde: ein Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten. In These 11 schlagen wir die Gründung einer weiteren europäischen supranationalen Organisation vor – wir nennen diese provisorisch European Pioneers.

„European Pioneers“

Die Grundidee ist nicht von uns, sondern inspiriert von verschiedenen Vordenker:innen. Klaus Brummer hat in einem bpb-Artikel herausgearbeitet, dass unterschiedliche Geschwindigkeiten möglicherweise leichter zu bewerkstelligen sind, wenn die integrationsfreudigsten EU-Staaten einfach eine weitere Organisation gründen, die sich den Themen widmen kann, die innerhalb der EU in ihrer aktuellen Form nicht zu verwirklichen sind. Besonders betrifft das die Felder Außenpolitik, Sozialpolitik, gemeinsame Steuern und Ähnliches. Beispielsweise bei unseren Thesen für einen gemeinsamen EU-Außen- und Sicherheitsrat (These 25), eine EU-Armee (These 26), einen verpflichtenden Europäischen Zivildienst (These 74) oder auch zu einem gemeinschaftlichen sozialen Netz durch Europäische Basisversicherung im Bereich der Arbeitslosen- oder auch Krankenversicherung (These 36).

Nach unserer Vorstellung sollen die European Pioneers explizit keinen Gegenentwurf zur EU darstellen, sondern eher eine Art Schwesterorganisation, ein Testraum für vertiefte Integration. Dadurch werden EU-Staaten, denen der Status quo schon genug ist, nicht überfordert und können gegebenenfalls später auch den Pioneers beitreten. In diesem Sinne können den Pioneers auch immer nur aktuelle EU-Staaten angehören. Letztlich hoffen wir, dass die Integration so gut läuft, dass sich nach und nach alle Staaten auch den Pioneers anschließen und diese Organisation dann überflüssig wird. Wir finden diese Lösung charmant und zumindest eine Debatte wert.

Fragen der Ausgestaltung

Diese European Pioneers bräuchten dann aber auch ein eigenes Parlament und eine eigene Kommission (bzw. Regierung), oder? Eine so intensive Zusammenarbeit müsste ja demokratisch legitimiert werden, wofür die heutigen Verfahren der EU – mit national fragmentierten Europawahlen und von den nationalen Regierungen nominierten Kommissionsmitgliedern – schnell an ihre Grenzen stoßen würden. Andererseits wäre es dann möglich, dass die Mehrheitsverhältnisse in einem Pioneers-Parlament anders lägen als in der Gesamt-EU. Sind da nicht doch Konflikte vorprogrammiert?

Wie genau die European Pioneers ausgestaltet werden, liegt in der Hand derer, die sie politisch auf den Weg bringen. Uns ist es wichtig, der Debatte um eine EU der zwei oder drei Geschwindigkeiten, die eigentlich ja schon längst Realität ist (u.a. in der Währungspolitik und im Schengen-Raum), wieder neuen Schwung zu verleihen und auf die Ideen und Vorschläge derer zu verweisen, die an den Fragen einer EU der Mehrfachgeschwindigkeit schon länger arbeiten.

Über Institutionen sprechen

Tatsächlich ist es euch mit Europe For Future gelungen, große europäische Reformdebatten anschaulich zu machen – gerade auch zu institutionellen Fragen, die gemeinhin in dem Ruf stehen, „die Bürger:innen“ nicht sehr zu interessieren. Politiker:innen und Journalist:innen vermeiden es oft, sie direkt anzusprechen, sondern gehen lieber den Umweg über „greifbare“ Themen wie Klimaschutz, Migration oder soziale Gerechtigkeit. In eurem Buch kommen diese Punkte auch vor, aber die Verfassungs- und Demokratiefragen stehen ganz vorne. Welche Erfahrungen habt ihr mit dieser Herangehensweise gemacht? Wie reagieren Leser:innen darauf?

Wir freuen uns, dass du das Buch so wahrnimmst. Denn genau so ist es gedacht. Vielfach werden Diskussionen zur Zukunft Europas im Elfenbeinturm geführt und hochqualifizierte EU-Expert:innen tauschen miteinander Ideen aus, ohne dass diese eine breite Öffentlichkeit erreichen oder von ihr verstanden werden. In Europe For Future versuchen wir sowohl große als auch kleine Ideen zur Zukunft der EU so zu erklären und weiterzudenken, dass sie von vielen Leuten verstanden werden können, und laden zugleich mit weiterführenden Links ein, sich tiefer über die angesprochenen Themen zu informieren. Dabei spielen gerade die grundlegenden Fragen wie eine Verfassung für die EU, institutionelle Reformen oder das Wahlrecht eine entscheidende Rolle – deswegen stehen diese am Anfang des Buches.

Die EU kann ihre besten Tage noch vor sich haben

Fragen von Klimaschutz oder Sozialpolitik können dann effektiver und gemeinschaftlicher beantwortet werden, wenn wir auch am Fundament der EU Reformen durchführen. Wir können so sowohl die europäischen Institutionen als auch die Demokratie stärken, widerstands- und leistungsfähiger machen, was uns befähigt, agiler und fokussierter mit den vielen anderen politischen Herausforderungen umzugehen. Viel Energie geht in der EU verloren, weil wir uns mit innereuropäischen Konfliktlinien und institutionellen Schwächen beschäftigen, während der externe Druck (Klima, Digitalisierung, China, Russland) unaufhörlich zunimmt. Diesen Kreislauf müssen wir selbstbewusst durchbrechen. Das Buch ist eine Einladung, mutig darüber nachzudenken und Handlungen davon abzuleiten.

Es ist unser Eindruck, dass auch viele Leser:innen einen ähnlichen Wunsch nach einem großen Wurf zur Zukunft der EU haben oder zumindest nach einer ehrlichen Diskussion dazu. So haben wir es zumindest in Lesungen zum Buch in den letzten Wochen wahrgenommen. Wir hoffen, hier auch in Zukunft weitere Gespräche führen zu dürfen, und können uns nichts Schöneres vorstellen, als dass die Lektüre des Buches möglichst viele Menschen inspiriert mit Offenheit und auch Vorfreude über unsere gemeinsame Zukunft in der EU zu sprechen. Wir sind einfach überzeugt: Die EU kann ihre besten Tage noch vor sich haben. Es liegt an uns.

Herr & Speer: Europe for Future. 95 Thesen, die Europa retten – was jetzt geschehen muss, München (Droemer-Knaur) 2021, 336 Seiten, Paperback: 16,99 Euro, E-Book: 14,99 Euro.

Bilder: Porträt Herr & Speer: Phil Dera [alle Rechte vorbehalten]; Buch: Henrik Andree, meka factory [alle Rechte vorbehalten].