29 August 2019

Das Wahljahr ist noch nicht zu Ende: In welchen großen EU-Mitgliedstaaten demnächst Neuwahlen anstehen könnten

In mehreren großen EU-Ländern könnten sich bald wieder die Wahlurnen füllen.
Das Europäische Parlament hat sich konstituiert, die Zusammensetzung der neuen Europäischen Kommission steht weitgehend fest – aber das europäische Wahljahr 2019 ist noch lange nicht vorbei. In gleich mehreren EU-Ländern rumort und kriselt es, und es sieht sehr danach aus, dass die bevorstehenden Wahlen in Österreich (29. September) und Portugal (6. Oktober) und Polen (13. Oktober) nicht die letzten in diesem Jahr bleiben werden.

Insbesondere in den größten Mitgliedstaaten herrschte in den letzten Wochen einige Unruhe. Werfen wir also einen Blick in die Glaskugel: Hier eine Übersicht über die sieben einwohnerreichsten EU-Länder in der Reihenfolge der Wahrscheinlichkeit, dass in ihnen in den nächsten Monaten Neuwahlen stattfinden.

Polen: Vielleicht ein Endspiel um die nationale Demokratie

Das einzige große Mitgliedsland, in dem mit Sicherheit noch in diesem Jahr gewählt wird, ist Polen. Am 13. Oktober werden beide Kammern des polnischen Parlaments, der Sejm und der Senat, neu gewählt. Und es steht einiges auf dem Spiel: Die Angriffe der rechtskonservativen polnischen Regierung auf die gemeinsamen Werte von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit waren in den letzten fünf Jahren eine permanente Herausforderung für die EU und führten zu einer massiven Schwächung einiger polnischer Verfassungsinstitutionen, insbesondere des Verfassungsgerichts. Nun bietet sich für die polnische Bevölkerung die Chance, einen Regierungswechsel herbeizuführen, ehe die Lage weiter eskaliert.

Wie die Wahl ausgeht, ist indessen völlig offen; die (in Polen üblicherweise stark schwankenden) Umfragen sagen ein knappes Rennen zwischen Regierung und Opposition voraus. Es könnte ein Endspiel um die nationale Demokratie werden. Mitte August bot PiS-Parteichef Jarosław Kaczyński jedenfalls schon einmal einen Vorgeschmack auf den Wahlkampf, als er in einem Atemzug die Demonstrationsfreiheit von LGBT-Aktivisten, die EU und das polnische Gerichtswesen angriff.

Vereinigtes Königreich: Ausweg aus der Verfassungskrise?

Das Vereinigte Königreich steuert nicht nur auf den härtest möglichen Brexit, sondern auch auf eine veritable Verfassungskrise zu: Premierminister Boris Johnson (Cons./EKR) scheint entschlossen, zum 31. Oktober aus der EU auszutreten – obwohl das von seiner Vorgängerin Theresa May ausgehandelte Abkommen, das die schlimmsten Folgen dieser Trennung abfedern könnte, keine Mehrheit im britischen Parlament gefunden hat, und eine Alternativlösung nicht in Sicht ist. Allerdings ist dieser No-Deal-Austritt auch unter den regierenden Conservatives umstritten, und ohnehin ist die Regierungsmehrheit nach einer Nachwahlniederlage Anfang August auf einen einzigen Sitz zusammengeschmolzen. Um nicht vom Parlament bei seinen Brexit-Plänen gehindert zu werden, hat Johnson deshalb eine lange Tagungspause vom 12. September bis 14. Oktober angesetzt. Bei vielen Abgeordneten stößt dieser Schritt auf heftige Ablehnung.

Die Wahrscheinlichkeit ist deshalb hoch, dass es entweder vor oder nach der Parlamentsschließung zu einem Misstrauensantrag gegen Johnson kommen wird. Sollte dieser erfolgreich sein, würde nach der britischen Verfassung eine Vierzehn-Tage-Frist zu laufen beginnen, in der eine neue Regierung gebildet werden kann. In dieser Zeit würde voraussichtlich der Chef der oppositionellen Labour Party (SPE), Jeremy Corbyn, eine Übergangsregierung zu bilden versuchen, die mit der EU eine Verlängerung der Austrittsfrist vereinbart und dann möglichst schnell Neuwahlen herbeiführt. (Statt Corbyn könnte auch ein zentristischer Kompromisskandidat zum Zug kommen, der allerdings im Grundsatz dieselbe Agenda verfolgen würde.) Sollte während der Vierzehn-Tage-Frist niemand eine Mehrheit im Parlament erreichen, käme es automatisch zu Neuwahlen.

Alternativ könnte das Parlament auch versuchen, in der verbleibenden Zeit bis zur Tagungspause noch ein Gesetz zu verabschieden, das einen No-Deal-Brexit verhindert und die Regierung zwingt, bei der EU um eine Fristverlängerung zu bitten. In diesem Fall dürfte allerdings Johnson selbst Neuwahlen suchen, um die Stimmen von harten Austrittsbefürwortern und Sympathisanten der Brexit Party zu gewinnen, während das proeuropäische Lager zwischen Labour Party und LibDems (ALDE) zersplittert ist. Zuletzt sahen die derzeitigen Umfragewerte für die Conservative Party jedenfalls gar nicht so schlecht aus.

Und selbst wenn Johnson sich jetzt gegen das Parlament durchsetzt und das Vereinigte Königreich wirklich am 31. Oktober aus der EU ausscheidet, hätte er ein Interesse daran, rasch an die Urnen zu gehen: Die verbliebene Ein-Sitz-Mehrheit der Regierung ist viel zu knapp, um damit zuverlässig den Rest der regulären Wahlperiode bis 2022 zu überstehen – und die patriotische Begeisterung über seine rücksichtslose Brexit-Strategie könnte bald vorüber sein, wenn nach dem Austritt die erwartbare Rezession einsetzt. Seine beste Chance dürfte deshalb darin liegen, sich möglichst bald in den Wahlkampf zu stürzen, solange ein nennenswerter Teil der britischen Bevölkerung noch die EU und nicht die eigene Regierung für die Probleme des Brexits verantwortlich macht.

Spanien: Der Zeitplan für Neuwahlen steht bereits …

Im Vergleich zu der britischen Krise stößt die politische Situation in Spanien in der europäischen Öffentlichkeit auf deutlich weniger Aufmerksamkeit. Aber auch hier bereiten sich die Parteien auf Neuwahlen vor, die noch in diesem Jahr bevorstehen könnten. Es wären (nach 2015, 2016 und April 2019) die vierten spanischen Parlamentswahlen in vier Jahren. Und anders als im Vereinigten Königreich gibt es in Spanien bereits einen klaren Zeitplan: Wenn bis zum 23. September keine neue Regierung steht, wird es automatisch zu Neuwahlen am 10. November kommen.

Dass die Regierungsbildung in Spanien so schwer fällt, hat viel mit der Veränderung des Parteiensystems zu tun, die das Land in den letzten Jahren erlebt hat. Seit der Wiederherstellung der Demokratie in den 1970er Jahren gab es in Spanien auf nationaler Ebene niemals eine Koalition. Vielmehr bildeten die großen Parteien (seit den 1980er Jahren der sozialdemokratische PSOE/SPE und der konservative PP/EVP) jeweils Alleinregierungen – sei es mit einer absoluten Mehrheit im Parlament oder mit externer Unterstützung durch kleine, meist regionalistische Parteien.

… aber noch ist eine Einigung möglich

In den letzten Jahren hat sich die Parteienlandschaft jedoch stark geändert: Seit der Eurokrise haben PSOE und PP massiv an Wählern verloren, während mit Ciudadanos (ALDE), Unidas Podemos (UP/EL-nah) und Vox (EKR) inzwischen drei neue Parteien landesweit einen nennenswerten Stimmenanteil erreichen. Eine absolute Mehrheit für eine der großen Parteien ist in weite Ferne gerückt. Die PSOE-Minderheitsregierung unter Pedro Sánchez, die 2018 mit Unterstützung von UP (und weiteren Kleinparteien) die Regierung übernahm, verfügte gerade einmal über ein Viertel der Sitze im Parlament. Auch bei der Parlamentswahl im April 2019 wurde der PSOE zwar stärkste Kraft, blieb für eine Mehrheit jedoch auf UP angewiesen.

UP aber wollte sich nicht noch einmal darauf einlassen, bloßer Mehrheitsbeschaffer für den PSOE zu sein, und bestand darauf, in einer Koalition mit eigenen Ministern vertreten zu sein. Sánchez lehnte dies jedoch ab, und so scheiterten die Verhandlungen trotz weitreichender inhaltlicher Gemeinsamkeiten. In der Folge verpasste Sánchez im Juli die Parlamentsmehrheit für seine Wiederwahl als Ministerpräsident – wodurch die genannten Fristen zu laufen begannen, die zur Neuwahl im November führen könnten.

Ob PSOE und UP doch noch rechtzeitig zueinander finden, um diese Wahl zu vermeiden, erscheint derzeit sehr fraglich. Bislang ist keine der beiden Parteien bereit, sich auf die andere zuzubewegen. Allerdings haben PSOE und UP den Umfragen zufolge von Neuwahlen auch nicht viel zu gewinnen: Beide kämen etwa auf dasselbe Ergebnis wie im April, sodass sich die Koalitionsfrage nach der Wahl sofort erneut stellen würde. Es ist deshalb durchaus möglich, dass es doch noch zu einer Einigung kommt. Eine andere Möglichkeit ist aber auch, dass sich die liberalen Ciudadanos in letzter Minute umbesinnen, die Sánchez bislang kategorisch ihre Unterstützung versagen. Bei Neuwahlen würden die Ciudadanos stark an den PP verlieren – sie haben deshalb das geringste Interesse daran, schon im November wieder an die Urnen zu gehen.

Rumänien: Parlamentsauflösung erst nach der Präsidentenwahl

Im siebtgrößten EU-Mitgliedstaat wird im November auf jeden Fall gewählt – allerdings nicht das Parlament, sondern der Staatspräsident. Als klarer Favorit gilt der Amtsinhaber Klaus Iohannis (PNL/EVP), der in Umfragen auf rund 40 Prozent kommt und damit beste Chancen auf eine zweite Amtszeit hat.

Doch die Präsidentschaftswahlen haben aber noch weitere Wellen geschlagen und zuletzt zum Bruch der Regierungskoalition aus PSD (SPE) und ALDE (–) geführt: Nachdem sich die beiden Parteien nicht auf einen gemeinsamen Gegenkandidaten für Iohannis hatten einigen können, erklärte die ALDE Ende August ihren Austritt aus der Regierung, sodass der PSD nun ohne Mehrheit im Parlament dasteht.

Sollte es dabei bleiben und keine andere Koalition gebildet werden, könnte dies grundsätzlich dazu führen, dass der Staatspräsident das Parlament auflöst und Neuwahlen ansetzt. Allerdings verbietet Art. 89 Abs. 3 der rumänischen Verfassung eine Auflösung des Parlaments in den letzten sechs Monaten der Amtszeit des Präsidenten. Eine Neuwahl könnte also frühestens Anfang 2020 stattfinden; bis dahin kommt es möglicherweise zu einer Übergangsregierung.

Italien: Salvini hat sich verschätzt

Noch Anfang August sah es in Italien so aus, als ob ein Urnengang unmittelbar bevorstünde. Mitten in der Urlaubszeit ließ Innenminister und Vizepremierminister Matteo Salvini das Bündnis zwischen seiner rechtsextremen Lega (ID) und dem populistischen Movimento Cinque Stelle (M5S/–) platzen und forderte sofortige Neuwahlen. Der Hintergrund dieses Schritts war offensichtlich: Die Lega, bei der Parlamentswahl 2018 mit 17,3 Prozent der Stimmen noch drittstärkste Kraft, hatte bei der Europawahl im Mai 2019 triumphiert und erreichte Umfragewerte von 38 Prozent und mehr. Salvini konnte deshalb hoffen, den Koalitionspartner M5S bei Neuwahlen abzuschütteln, selbst Premierminister zu werden und freie Hand („pieni poteri“) zur Umsetzung seiner europaskeptischen und migrationsfeindlichen Agenda zu bekommen.

Womit Salvini indessen nicht gerechnet hatte, war die Bereitschaft des M5S und des oppositionellen PD (SPE), nun kurzerhand eine alternative Koalition auf die Beine zu stellen. Nachdem das M5S die früheren PD-Regierungen unter Enrico Letta, Matteo Renzi und Paolo Gentiloni massiv kritisiert hatte, schienen die Gegensätze zwischen den beiden Parteien zu groß zu sein. Tatsächlich war es jedoch ausgerechnet Renzi selbst, der sich Mitte August als einer der Ersten für ein Anti-Lega-Bündnis zwischen M5S und PD stark machte. Und nach einigem Hin und Her gelang es den beiden Parteien gestern, sich auf die Grundzüge einer solchen Koalition zu einigen. Demnach wird der bisherige, M5S-nahe Regierungschef Giuseppe Conte im Amt bleiben, programmatisch soll es aber einen Neuanfang geben.

Ob die M5S-PD-Koalition tatsächlich zustande kommt, werden jedoch erst die nächsten Tage und Wochen zeigen. In beiden Parteien gibt es weiterhin auch starke Vorbehalte dagegen, und inhaltliche Streitpunkte gäbe es genug. Zudem wird das M5S voraussichtlich noch eine Online-Mitgliederbefragung über das neue Bündnis durchführen. Immerhin: In den Umfragen konnten beide Parteien, vor allem das M5S, seit Anfang August zulegen, während die Lega verloren hat. Ganz unpopulär ist der Kurs, Neuwahlen zu vermeiden, offensichtlich nicht.

Deutschland: Wie weiter mit der Großen Koalition?

Auch in Deutschland wird es 2019 aller Voraussicht nach keine Bundestagswahl geben, aber eine gewisse Fin-de-Règne-Stimmung herrscht dennoch auch hier. Kanzlerin Angela Merkel (CDU/EVP) hat sich bereits festgelegt, dass sie zur nächsten regulären Wahl 2021 nicht noch einmal antreten wird. Zwar hat Merkel gleichzeitig auch immer wieder betont, dass sie auch nicht vor 2021 zurücktreten will, und auch die neue CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer hat erklärt, dass sie keine vorzeitige Übernahme der Kanzlerschaft anstrebe. Dennoch liegt der kommende Machtwechsel in der Luft. Und dann steht bis Oktober auch noch die im Koalitionsvertrag vereinbarte Halbzeitbilanz an, die vor allem die in Umfragen und Landtagswahlen stark gebeutelte SPD (SPE) zum Anlass nehmen könnte, ihren Verbleib in der Großen Koalition zu überdenken.

Sollte es tatsächlich zum Regierungsaustritt der SPD kommen, dürften Neuwahlen unvermeidlich sein: Als größte Umfragegewinner der letzten Monate werden die Grünen (EGP) kaum ein Interesse haben, der Bundesregierung ohne eine vorherige Wahl beizutreten, und ohne sie ist keine plausible Mehrheit jenseits der Großen Koalition in Sicht. Allerdings könnten für die SPD die schlechten Umfragewerte gerade auch ein Grund sein, noch den Rest der Wahlperiode auszuschöpfen – und auf jeden Fall wird der weitere Kurs der Sozialdemokraten in dieser Frage wesentlich davon abhängen, wer im Dezember den Parteivorsitz übernimmt. Selbst wenn es zuletzt Neuwahlen geben sollte, ist damit also nicht vor 2020 zu rechnen.

Frankreich: Weit und breit keine Neuwahlen in Sicht

Das einzige unter den sechs größten EU-Mitgliedsländern, in denen weit und breit keine Neuwahlen in Sicht sind, ist Frankreich. Zwar sind die Umfragewerte von Präsident Emmanuel Macron (LREM/–) alles andere als berauschend – die Popularität des Staatschefs, die während der Gelbwesten-Proteste Ende 2018 ihren Tiefpunkt erreichte, hat sich seitdem nur teilweise erholt. Doch Macron ist immer noch Favorit, bei der nächsten Präsidentschaftswahl 2022 für eine zweite Amtszeit gewählt zu werden. Und vor allem verfügt LREM im französischen Parlament über eine stabile Mehrheit, und es ist nicht absehbar, dass sich daran in nächster Zeit irgendetwas ändern könnte.

Wenn derzeit wieder vermehrt über eine europapolitische Führungsrolle des französischen Staatspräsidenten gesprochen wird, so liegt das also nicht nur an der geschickten Gipfeldiplomatie, die er in den letzten Tagen gezeigt hat. Emmanuel Macrons Stärke hat auch innenpolitische Gründe: Er ist derzeit der einzige Staats- oder Regierungschef eines großen EU-Mitgliedstaats, der auf nationaler Ebene weitgehend krisenfrei regieren kann.

16 August 2019

Fünf Jahre Europawahl-Sitzprojektionen: Was bewegte 2014-19 die europäischen Wahlumfragen?

Kurzfristige Sprünge haben meist nationale Ursachen, aber der langfristige Trend ist gesamteuropäisch.
Nach der Europawahl 2014 begann dieses Blog (damals als erstes europäisches Medium) regelmäßige Sitzprojektionen für das Europäische Parlament zu veröffentlichen, die im Achtwochenrhythmus vermessen, wie beliebt die europäischen Parteien bei ihren Wählerinnen und Wählern sind. Da es keine gesamteuropäischen Wahlumfragen gibt, handelt es sich bei der Projektion zwar jeweils um eine Aggregation nationaler Umfragen, die sich meist auf nationale Parlamentswahlen beziehen und auch sonst mit einer Reihe von methodischen Problemen einhergehen. Andererseits ist auch ein verschwommenes Bild besser als überhaupt kein Bild – und wie die Europawahl gezeigt hat, lag die Projektion letztlich auch nicht allzu fern von dem realen Ergebnis.

Inzwischen summieren sich die Projektionen zu einer Zeitreihe von fünf Jahren, in denen europapolitisch nicht nur allgemein einiges los war, sondern auch die europäische Parteienlandschaft sich verändert hat. Die Verlaufsgrafik, mit der dieser Artikel illustriert ist, zeigt das Auf und Ab der europäischen Fraktionen in der Sitzprojektion und lässt einige Sprünge, Brüche und Trends erkennen. Was aber sorgte für diese Bewegungen? Wurden sie vor allem durch Ereignisse der nationalen Politik in den Mitgliedstaaten getrieben, die sich über nationale Umfragen auf die gesamteuropäische Sitzprojektion niederschlugen? Oder ist die europäische Öffentlichkeit schon so weit fortgeschritten, dass bestimmte europapolitische Ereignisse europaweit die Umfragen beeinflussten?

Europäische und nationale Ereignisse

Die zweite Grafik (hier in höherer Auflösung) kontrastiert den Verlauf der Umfragen mit wichtigen Ereignissen der letzten Wahlperiode, die sich wenigstens potenziell auf die politische Stimmung in der EU hätten auswirken können:


Blau markiert sind dabei europapolitische Ereignisse im engeren Sinn:
  • die Grexit-Krise Mitte 2015, als die griechische Regierung ein Referendum über die Bedingungen der EU-Hilfskredite durchführte und für einige Wochen der Austritt Griechenlands aus der Eurozone als eine plausible Möglichkeit erschien;
  • die Flüchtlingskrise im September 2015, als eine große Zahl hauptsächlich syrischer Flüchtlinge Europa erreichte, zahlreiche Mitgliedstaaten Grenzkontrollen einführten und der EU-Rat eine Umverteilung von Asylbewerbern unter den Mitgliedstaaten beschloss (die später großteils nicht umgesetzt wurde);
  • das Brexit-Referendum am 23. Juni 2016, bei dem eine knappe Mehrheit der britischen Bevölkerung für den Austritt aus der EU stimmte, sowie
  • die wichtigen und umstrittenen Parlamentsabstimmungen über die Datenschutz-Grundverordnung (14.4.2016) und die Urheberrechtsreform (26.3.2019).

Violett gekennzeichnet sind partei- bzw. koalitionspolitische Ereignisse – Ereignisse, die, würden sie auf nationaler Ebene geschehen, mit großer Sicherheit die politische Debatte dominieren würden und sich auch auf die Wahrnehmung der Parteien niederschlagen würden:

Grün markiert sind wichtige Ereignisse der nationalen Politik einzelner Mitgliedstaaten, die sich auf die gesamteuropäische Sitzprojektion niederschlugen oder hätten niederschlagen können:

Orange markiert sind Vorfälle, die sich auf die Gesamtsitzzahl in der Projektion auswirkten. Das betrifft ausschließlich Ereignisse rund um den Brexit:
  • Als das Vereinigte Königreich am 29. März 2017 die Artikel-50-Notifikation sandte, mit der die Zweijahresfrist bis zum Austritt zu laufen begann, wurden die britischen Sitze aus der Projektion herausgenommen, sodass sich die Gesamtsitzzahl in der Projektion von 751 auf 678 reduzierte.
  • Im Juni 2018 beschloss der Europäische Rat, 27 der ehemals britischen Sitze nach dem Brexit auf andere Mitgliedstaaten umzuverteilen. In der Folge erhöhte sich die Sitzzahl der Projektion von 678 auf 705.
  • Im Frühling 2019 beantragte das Vereinigte Königreich zweimal eine Verschiebung des Austrittsdatums, das daraufhin auf die Zeit nach der Europawahl, nämlich den 31. Oktober 2019, verlegt wurde. Seitdem präsentiert die Projektion zwei Szenarien: 751 Sitze mit dem Vereinigten Königreich oder 705 ohne.

Rot gekennzeichnet sind schließlich Ereignisse, bei denen größere nationale Parteien die Fraktion im Europäischen Parlament wechselten.
  • Das betrifft vor allem die deutsche AfD, die sich nach der Europawahl 2019 zunächst der EKR-Fraktion anschloss. Nach der ersten Parteispaltung wurden die verbliebenen zwei AfD-Abgeordneten im Frühling 2016 jedoch aus der Fraktion ausgeschlossen; daraufhin wechselte Beatrix von Storch zur EFDD, während Marcus Pretzell in die ENF eintrat. Nach der zweiten Parteispaltung verließ im Oktober 2017 auch Pretzell die Partei, sodass von Storch bzw. ihr Nachfolger Jörg Meuthen als letztes AfD-Mitglied im Parlament verblieb. Im April 2019 kündigte Meuthen schließlich den ENF-Beitritt der AfD nach der Europawahl an. In der Projektion wurde die AfD deshalb von 2014 bis 2016 der EKR, von 2016 bis 2017 der ENF, von 2017 bis 2019 der EFDD und in der letzten Projektion vor der Wahl 2019 wiederum der ENF zugerechnet.
  • Die zweite große Partei, die während der Wahlperiode einen Wechsel ankündigte, war das italienische M5S, das im März 2018 erklärte, die EFDD-Fraktion nach der Europawahl 2019 verlassen zu wollen. In der Projektion wurde das M5S deshalb ab diesem Zeitpunkt als „weitere Partei“ ohne klare Zuordnung geführt.

Brexitbedingte Sitzzahl-Sprünge

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Die Ereignisse, die im Lauf der Wahlperiode die größten Sprünge in der Projektion auslösten, waren recht offensichtlich die orangen und die roten. Wenn große Parteien die Fraktion wechseln oder – wie im Fall des Brexit – ganz aus dem Parlament ausscheiden, so führt dies oft unmittelbar zu größeren Verschiebungen.

So ist nach der Artikel-50-Notifikation (29.3.2017) deutlich sichtbar, wie das Ausscheiden der Labour Party und der Conservatives aus der Projektion sich negativ auf die S&D- bzw. die EKR-Fraktion niederschlug, während die Verschiebung des Brexit (Frühling 2019) beiden Fraktionen wieder Luft verschaffte. Die 27 zusätzlichen Sitze (13.6.2018) wiederum kamen ganz unterschiedlichen Fraktionen zugute, unter anderem auch der EVP, die in Großbritannien selbst überhaupt nicht vertreten ist. Durch die Verschiebung des Brexit verlor die EVP diese zusätzlichen Sitze in der Projektion wieder. All diese Veränderungen sind in der Verlaufsgrafik als Sprünge, an denen die Zeitreihe unterbrochen ist, deutlich zu sehen.

Fraktionswechsel bringen plötzliche Verschiebungen

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Und auch die Fraktionswechsel der AfD sind in der Projektion klar zu erkennen. Auch wenn diese in der Realität jeweils nur einzelne Abgeordnete im Parlament betrafen, führten sie aufgrund der starken Umfragewerte der AfD zu starken Ausschlägen in der Projektion. Gleiches gilt für die Ankündigung des M5S im März 2018, die zu dem größten Anstieg der „Weiteren“-Gruppe in der ganzen Wahlperiode führte.

Dass die (zwar nicht gerade häufigen, aber auch nicht sehr seltenen) Fraktionswechsel einzelner Parteien so große Auswirkungen auf die Projektion haben können, ist natürlich ein Problem für die Verlaufsgrafik, die dadurch plötzliche Umschwünge in der öffentlichen Meinung suggeriert, die in dieser Form gar nicht stattgefunden haben. Immerhin: Im Fall der AfD entsprachen die Übertritte von der EKR zur EFDD und dann zur ENF der immer stärkeren Rechtsaußenpositionierung der Partei – und, wie man vermuten darf, ihrer Wähler. Insofern spiegelt die sinkende Kurve der EKR und die steigende Kurve der ENF also durchaus eine Veränderung in der europäischen politischen Stimmung wider, auch wenn diese in der Realität nicht so plötzlich erfolgte, wie die Sprünge in der Projektion nahelegen.

Sprünge in einzelnen Ländern können die Projektion bewegen

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Neben den orange und den rot markierten Ereignissen lösten auch die grünen verschiedentlich größere Veränderungen in der Projektion aus. Auch hier handelt es sich allerdings nur begrenzt um gesamteuropäische Phänomene, sondern eher um schnelle Veränderungen der Wählerstimmung in einzelnen Mitgliedstaaten, oft bedingt durch nationale Wahlkämpfe. So sorgte der starke Lauf der Syriza vor der griechischen Parlamentswahl im Januar 2015 (zusammen mit den gleichzeitigen guten Werten der spanischen Podemos) für einen Höhenflug der GUE/NGL. Der Einbruch der PO bei der polnischen Wahl im Oktober 2015 wiederum bescherte der EVP-Kurve einen Knick.

Allerdings sind auch nicht alle plötzlichen Meinungsumschwünge in einzelnen Mitgliedstaaten in der Projektion sichtbar: Der „Schulz-Effekt“ der deutschen SPD beispielsweise wurde in der Projektion von März 2017 weitgehend durch die gleichzeitig eher schwachen Umfragewerte der sozialdemokratischen Parteien in anderen Ländern überlagert – und hatte acht Wochen später seinen Zenit bereits wieder überschritten.

Ein Sonderfall: die seltenen französischen Umfragen

Ein Sonderfall des Effekts, dass Veränderungen in einzelnen Mitgliedstaaten stark auf die europäische Projektion durchschlagen können, zeigt sich schließlich am Erfolg der neu gegründeten LREM (ALDE zugerechnet) und dem schwachen Abschneiden von PS (S&D) und FN (ENF) bei der französischen Parlamentswahl im Juni 2017. Der Sprung fiel hier besonders deutlich aus, da es in Frankreich generell kaum Umfragen gibt, die nach der Wahlabsicht bei Parlamentswahlen fragen. (Regelmäßige Umfragen erfolgen lediglich zu den nationalen Präsidentschaftswahlen, die aber für die Projektion nicht berücksichtigt werden.) Deshalb beruhten die Werte in der Projektion bis Mitte 2017 auf den Ergebnissen der Europawahl 2014 – als der FN die stärkste Kraft gewesen war und es LREM noch gar nicht gegeben hatte.

Und damit nicht genug: Nach der nationalen Parlamentswahl gab es erneut mehrere Monate lang keine französischen Umfragen mehr, bis Ende 2017/Anfang 2018 erste Umfragen zur Europawahl erschienen. In der Zwischenzeit hatte sich die Stimmung in Frankreich erneut stark gewandelt. In der Projektion kam es deshalb wiederum zu einem Sprung, bei dem LR (EVP) und LREM (ALDE) verloren, FI (GUE/NGL) und FN (ENF) gewannen.

Europäische Ereignisse haben kurzfristig oft nur wenig Effekt

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Im Vergleich zu diesen nationalen Ereignissen hatten gesamteuropäische Ereignisse hingegen nur geringe oder keine kurzfristigen Effekte auf die Wahlumfragen. Dies gilt besonders für die partei- bzw. koalitionspolitischen Ereignisse in violetter Farbe. Dass Pittella die Große Koalition aufkündigte, bewegte die Umfragen ebenso wenig wie die Wahlparteitage zur Ernennung der Spitzenkandidaten – von einem convention bounce, wie man ihn von US-amerikanischen Wahlen kennt, ist in der Verlaufsgrafik nichts zu erkennen. Das könnte daran liegen, dass der Effekt der Parteitage zu kurzfristig war, um in der achtwöchentlichen Projektion erfasst zu werden. Wahrscheinlicher ist aber eine andere Erklärung: Angesichts des geringen Medieninteresses dürften die meisten europäischen Bürgerinnen und Bürger von diesen Ereignissen schlicht nicht viel mitbekommen haben.

Aber auch die blau markierten Ereignisse, die in den Medien stärker diskutiert wurden, führten nicht immer zu erkennbaren Sprüngen in der Projektion. Die Datenschutz-Grundverordnung oder die Urheberrechtsreform waren zwar heftig umstritten, hatten aber keinen klaren Effekt auf die europäischen Umfragen.

Grexit- und Brexit-Krise schlugen sich europaweit nieder

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Etwas anders liegt die Sache mit der Grexit-Krise im Sommer 2015, die mit dem Ende des GUE/NGL-Höheflugs zu Beginn jenes Jahres zusammenfiel: Nachdem die griechische Regierung die Bedingungen der EU-Hilfskredite entgegen dem nationalen Referendum letztlich doch akzeptiert hatte, erfuhr nicht nur Syriza Einbußen in der Wählergunst, sondern insbesondere auch die spanische Podemos. Dies könnte damit zusammenhängen, dass mit dem Scheitern der griechischen Regierung auch in anderen Ländern die Hoffnung verblasste, dass Linksparteien eine grundsätzliche Wende gegen die ungeliebte Austeritätspolitik würden einleiten können. Allerdings spielten bei dem Niedergang von Podemos auch andere Gründe der nationalen spanischen Politik eine Rolle.

Ein anderer Effekt ist in Bezug auf das Brexit-Referendum (23.6.2016) sowie die Artikel-50-Notifikation (29.3.2017) zu beobachten: Die beiden Ereignisse verschafften kurzfristig jeweils allen drei großen proeuropäischen Fraktionen der Mitte – EVP, S&D, ALDE – Auftrieb, während europaskeptisch-rechte Parteien in den Umfragen verloren. In den darauffolgenden Umfragen verblasste ein Teil dieses Effekts freilich rasch wieder. Die beiden Ereignisse rund um den Brexit sind damit der deutlichste Fall für europaweit geteilte kurzfristige Schübe in der öffentlichen Meinung. Das dürfte kein Zufall sein, handelte es sich doch zugleich auch um die Gelegenheit, bei der die grundsätzliche Frage, ob die EU eine Zukunft hat, europaweit die größte mediale Sichtbarkeit gewann. Angesichts des Brexit waren Verletzlichkeit und Umkehrbarkeit der europäischen Integration in der öffentlichen Debatte so präsent war wie nie zuvor, und diese Sorge schlug sich offenbar auch in den Wahlumfragen nieder.

Polarisierung zwischen Kosmopoliten und Nativisten

Ein besonderer Fall ist schließlich auch die Flüchtlingskrise im September 2015: Diese ging zum einen kurzfristig mit besseren Umfragewerten der einwanderungsfeindlichen Rechtsfraktionen EFDD und ENF einher. Zum anderen aber scheint sie auch zu einer längerfristigen Transformation der europäischen Parteienlandschaft beigetragen zu haben, denn im Lauf des folgenden Jahres verstärkte sich der (schon zuvor erkennbare) Niedergang der traditionellen Volksparteien EVP und S&D deutlich, während ALDE, EKR und ENF dazugewannen.

Die Flüchtlingskrise lässt sich damit als sichtbarstes Einzelereignis im Rahmen eines längerfristigen Trends verstehen, in dem der Gegensatz zwischen Weltoffenheit und Nativismus (bzw. zwischen Inklusion und Exklusion von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen wie Minderheiten und Migranten) gegenüber anderen politischen Trennlinien an Bedeutung gewinnt. Im Zuge dieser Koordinatenverschiebung verloren die in Sachen Weltoffenheit und Migration oft eher ambivalenten traditionellen Volksparteien, während die Parteien am kosmopolitischen und am nativistischen Pol in der Wählergunst zulegten.

Europaweit gemeinsame Trends

Diese Entwicklung zeigte sich nicht in jedem einzelnen Land in gleichem Ausmaß, und sie hatte auch nicht überall dieselbe Bedeutung, da die Parteiensysteme in den EU-Mitgliedstaaten nicht identisch sind: So gilt in manchen Ländern (wie Deutschland) eine Regierungsbeteiligung von Parteien rechts der EVP als fast undenkbar, in anderen (wie Polen) ist sie Normalität; in manchen Ländern (wie Frankreich) definieren sich liberale Parteien geradezu als Gegenpol zur politischen Rechten, in anderen (wie Dänemark) fungieren ALDE-Mitglieder als die große Mitte-rechts-Volkspartei und grenzen sich weit weniger deutlich nach rechts ab. Es sind deshalb nicht überall dieselben Parteien, die mit einer dezidiert kosmopolitisch-inkludierenden Haltung punkten können: Während diese Rolle in einigen Ländern (wie Frankreich oder Rumänien) den Liberalen zufällt, profitieren anderswo die Grünen (wie in Deutschland) oder sogar sozialdemokratische Parteien (wie Wiosna in Polen).

Andererseits sind die verschiedenen nationalen Parteiensysteme aber auch nicht vollkommen unterschiedlich – und deshalb schlägt sich die gesamteuropäische Polarisierung zwischen Inklusion und Exklusion zuletzt eben doch auch auf gesamteuropäischer Ebene nieder. Jedenfalls zeigt die Projektion (und das Ergebnis der Europawahl) eine Reihe von langfristigen Trends, die sich gut damit erklären lassen: der nahezu kontinuierliche Niedergang von EVP und S&D, der Aufstieg der Fraktionen aus dem linksliberal-kosmopolitischen Spektrum (bis Mitte 2017 vor allem der ALDE, danach vor allem der G/EFA) sowie die ebenfalls recht kontinuierlichen, nur von Mitte 2016 bis Mitte 2017 unterbrochenen Zugewinne der nationalistischen Rechten.

Kurzfristige und langfristige Effekte

Und was bedeutet dies nun für die europäische Öffentlichkeit? Wie sich zeigt, ist diese in der Regel noch nicht so ausgeprägt, dass europapolitische Ereignisse die Wahlabsichten in der Bevölkerung kurzfristig stark und in europaweit ähnlicher Weise bewegen würden. Wenn eine Fraktion in der Verlaufsgrafik sprunghaft Sitze gewinnt oder verliert, so liegt das meist entweder daran, dass sich die Wählergunst in einem einzelnen großen Mitgliedstaat gewandelt hat oder dass Einmal-Effekte wie Fraktionswechsel das Gesamtbild verzerren.

Dass sich langfristig trotzdem gemeinsame europaweite Trends identifizieren lassen, macht aber auch deutlich, dass die Umfragen in den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten sich nicht völlig unabhängig voneinander bewegen. Politische Meinungsbildung findet nicht mehr nur im abgeschlossenen nationalen Raum statt: Debatten, die in einem europäischen Land geführt werden, können auf andere überspringen, und Parteien, die für eine ähnliche politische Linie stehen, erfahren – wenigstens über einen Zeitraum von einigen Jahren hinweg – oft länderübergreifend einen gemeinsamen Aufstieg oder Fall.

Bilder: Eigene Grafiken.